Urteil des OLG Karlsruhe vom 16.10.2003
OLG Karlsruhe: örtliche zuständigkeit, wirtschaftliche tätigkeit, begriff, bindungswirkung, verfügung, konkretisierung, geschäftsführer, ermessen, bestätigung, vollstreckung
OLG Karlsruhe Beschluß vom 16.10.2003, 15 AR 35/03
Örtliche Zuständigkeit in Insolvenzverfahren: Amtsprüfung der örtlichen Zuständigkeit durch das Insolvenzgericht und Bindungswirkung der
Verweisung bei möglicher Zuständigkeitserschleichung
Leitsätze
1. Seine örtliche Zuständigkeit hat das Insolvenzgericht von Amts wegen zu prüfen. Art und Umfang der Ermittlungen richten sich nach
pflichtgemäßem Ermessen.
2. Ein Verweisungsbeschluss des Insolvenzgerichts wegen örtlicher Unzuständig-keit ist nicht schon deshalb ohne Bindungswirkung, weil das
Gericht seiner Ent-scheidung in tatsächlicher Hinsicht die Angaben des Antragstellers zugrundege-legt hat, ohne diese durch weitere Ermittlungen
zu überprüfen.
3. Die Möglichkeit einer Zuständigkeitserschleichung durch einen missbräuchlichen Verweisungsantrag ist im Insolvenzverfahren nicht
auszuschließen. An der bindenden Wirkung von Verweisungsbeschlüssen kann eine solche Möglichkeit jedoch idR nichts ändern.
Tenor
Als zuständiges Gericht wird das Amtsgericht Charlottenburg in Berlin bestimmt.
Gründe
1
I. Mit Schriftsatz vom 09.04.2003 hat der Geschäftsführer der Schuldnerin beim Amtsgericht Pforzheim die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
beantragt, verbunden mit dem weiteren Antrag, das Verfahren an das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg zu verweisen, da sich sämtliche
Firmenunterlagen in Berlin befinden würden. Mit Schriftsatz vom 19.05.2003 hat die S. G., die Dienstleistungen im Bereich der
Unternehmensberatung erbringt, gegenüber dem Amtsgericht Pforzheim ergänzend darauf hingewiesen, die Schuldnerin werde von ihr beraten.
Gleichzeitig hat die S.G. bestätigt, sämtliche Geschäftsunterlagen der Schuldnerin befänden sich in Berlin, wo auch die „komplexen
Abwicklungsvorgänge“ von der S. G. für die Schuldnerin erfolgen würden. Mit Beschluss vom 30.05.2003 hat das Amtsgericht Pforzheim sich
daraufhin für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht - Insolvenzgericht - Charlottenburg verwiesen.
2
Mit Beschluss vom 04.08.2003 hat das Amtsgericht Charlottenburg sich seinerseits für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren dem
Oberlandesgericht Karlsruhe zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit vorgelegt. Das Amtsgericht Charlottenburg hat die Auffassung vertreten,
der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Pforzheim sei objektiv willkürlich und daher nicht bindend. Es sei nicht ersichtlich, dass in Berlin
eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit der Schuldnerin im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 2 InsO stattfinde. Die angeblichen
Abwicklungsmaßnahmen für die Schuldnerin in Berlin seien in keiner Weise konkretisiert und nachgewiesen worden. Es bestünden
schwerwiegende Indizien, dass es sich vorliegend um einen Fall der Zuständigkeitserschleichung handele. Hierfür sprächen vor allem
Erfahrungen des Amtsgerichts Charlottenburg in einer Vielzahl von anderen Insolvenzverfahren, bei denen für die jeweiligen Schuldner die
gleiche Adresse angegeben worden sei wie vorliegend und bei denen ebenfalls die S. G. tätig geworden sei. Die Schuldnerin hat mit Schriftsatz
vom 16.09.2003 im Gerichtsstandsbestimmungsverfahren Stellung genommen. Sie vertritt die Auffassung, dass das Amtsgericht Charlottenburg
örtlich zuständig sei.
3
II. Zuständig ist das Amtsgericht Charlottenburg in Berlin.
4
Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Ziffer 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Pforzheim als auch
das Amtsgericht Charlottenburg in Berlin haben sich rechtskräftig für unzuständig erklärt. Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Karlsruhe im
Bestimmungsverfahren beruht auf § 36 Abs. 2 ZPO.
5
Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg für das Insolvenzverfahren beruht auf §§ 4 InsO, 281 Abs. 2 S. 4 ZPO.
Verweisungsbeschlüsse sind nach der ausdrücklichen Regelung in der Zivilprozessordnung bindend; auf die Frage, ob das Amtsgericht
Pforzheim hierbei die Rechtslage zutreffend beurteilt hat, kommt es nicht an.
6
Die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise die bindende Wirkung des Verweisungsbeschlusses entfallen würde, liegen
nicht vor.
7
Nach den in der Rechtsprechung zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätzen entfällt eine Bindung, wenn der Verweisung jede rechtliche Grundlage
fehlt, so dass sie als objektiv willkürlich anzusehen ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 23. Aufl. 2002, § 281 ZPO Rn.17 m.N.). Eine willkürliche
Verweisung wird von der Rechtsprechung angenommen bei schweren Verfahrensverstößen, beispielsweise bei einer Versagung des rechtlichen
Gehörs, und bei anderen eindeutigen und besonders groben Fehlern in der Rechtsanwendung. Solche Fehler kann der Senat bei dem
Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Pforzheim vom 30.05.2003 nicht feststellen.
8
Maßgeblich für die Frage der Zuständigkeit ist der Begriff der „selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners“ in § 3 Abs. 1 S. 2 InsO. Mit
diesem Begriff ist zwar grundsätzlich eine werbende, nach außen gerichtete Tätigkeit des Schuldners gemeint. Es ist allerdings weitgehend
anerkannt, dass auch reine Abwicklungstätigkeiten noch unter den Begriff der „selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit“ fallen (vgl. beispielsweise
Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2001, § 3 InsO Rn. 7, 8; Kirchhof in Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 2.
Aufl. 2001, § 3 InsO Rn. 7; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 1999, § 3 InsO Rn. 9). Es ist nicht zu verkennen,
dass die Abgrenzung, welche Tätigkeiten eines Geschäftsführers einer GmbH noch als - zuständigkeitsbegründende - Abwicklungstätigkeiten im
Rahmen von § 3 Abs. 1 S. 2 InsO angesehen werden können, Schwierigkeiten bereiten kann. Im Übrigen wird § 3 Abs. 1 S. 2 InsO in Fällen, in
denen auch keinerlei Abwicklungstätigkeit mehr ausgeführt wird, teilweise erweiternd dahingehend ausgelegt, dass für die
Zuständigkeitsbegründung nach dieser Vorschrift der Ort der Aufbewahrung der Geschäftsunterlagen maßgeblich sei (Schmerbach a.a.O., § 3
InsO Rn. 9 m.w.N.).
9
Sowohl das Amtsgericht Pforzheim als auch das Amtsgericht Charlottenburg gehen übereinstimmend davon aus, dass die Schuldnerin an ihrem
Sitz in B. (im Bezirk des Amtsgerichts Pforzheim) bei Einreichung des Insolvenzantrags keine wirtschaftlichen Tätigkeiten mehr entfaltet hat. Der
Geschäftsführer der Schuldnerin hat in seinem Antrag angegeben, die Firmenunterlagen befänden sich in Berlin. Dies wurde von der S. G. mit
Schreiben vom 19.05.2003 bestätigt mit der Ergänzung, dass dort auch „die komplexen Abwicklungsvorgänge“ erfolgen würden. Es erscheint
zumindest vertretbar, wenn das Amtsgericht Pforzheim aufgrund dieser Informationen - insbesondere im Hinblick auf die angegebenen
Abwicklungsmaßnahmen - eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit der Schuldnerin in Berlin angenommen hat (vgl. zur bindenden Wirkung
von Verweisungen im Insolvenzverfahren in ähnlichen Fällen OLG Schleswig, NJW-RR 2000, 349; Ganter in Münchener Kommentar zur
Insolvenzordnung a.a.O., § 3 InsO Rn. 28). Da die Entscheidung des Amtsgerichts Pforzheim jedenfalls nicht unvertretbar ist, bedarf der Begriff
der „selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit“ in § 3 Abs. 1 S. 2 InsO keiner näheren Konkretisierung durch den Senat.
10 Es ist - entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Charlottenburg - jedenfalls im Rahmen der Überprüfung des Verweisungsbeschlusses auch
nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht Pforzheim die Angaben der S. G. im Schreiben vom 19.05.2003 nicht näher überprüft hat und auch
keine Konkretisierung der „Abwicklungsvorgänge“ verlangt hat. Die Voraussetzungen der örtlichen Zuständigkeit hat das Amtsgericht im
Insolvenzverfahren von Amts wegen zu prüfen (§ 5 Abs. 1 InsO). Art und Umfang der erforderlichen Ermittlungen richten sich hierbei nach
pflichtgemäßen Ermessen des Insolvenzgerichts (vgl. Ganter a.a.O., § 5 InsO Rn. 21). Hieraus ergibt sich zwangsläufig, dass der Umfang
bestimmter Ermittlungstätigkeiten in vergleichbaren Fällen im Insolvenzverfahren bei verschiedenen Gerichten sehr unterschiedlich sein kann
(nicht nur bei Entscheidungen zur örtlichen Zuständigkeit). Auch unter Berücksichtigung üblicher Verfahrensweisen von Gerichten im
Insolvenzverfahren erscheint es zumindest nicht unvertretbar, wenn das Amtsgericht Pforzheim sich bei der Frage der örtlichen Zuständigkeit
ausschließlich auf die Angaben des Geschäftsführers der Schuldnerin und auf die entsprechende Bestätigung im Schreiben der S. G. vom
19.05.2003 gestützt hat. Dass dem Amtsgericht Pforzheim bei seiner Entscheidung bestimmte Erkenntnisse des Amtsgerichts Charlottenburg aus
anderen Verfahren, die eventuell zur Feststellung einer Zuständigkeitserschleichung hätten führen können (vgl. hierzu Zöller/Vollkommer, a.a.O.,
§ 12 ZPO Rn. 19), nicht zur Verfügung standen, ist im Rahmen von § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO nicht vermeidbar und daher hinzunehmen.
11 Es ist nicht zu verkennen, dass im Insolvenzverfahren generell die Möglichkeit missbräuchlicher Verweisungsanträge besteht (vgl. hierzu auch
den Fall des OLG Rostock, Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht 2001, 1064). Auf der Grundlage des geltenden Rechts lässt sich ein solcher
Missbrauch nicht völlig ausschließen; denn § 3 Abs. 1 S. 2 InsO bietet zwangsläufig Raum für unterschiedliche Auslegung und unterschiedliche
Anwendung in - grundsätzlich bindenden - Verweisungsbeschlüssen der Amtsgerichte. Soweit einige Oberlandesgerichte in ähnlichen Fällen
teilweise eine Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen im Insolvenzverfahren verneint haben (vgl. beispielsweise OLG Zweibrücken,
Insolvenz und Vollstreckung 2002, 367; OLG Rostock, Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht 2001, 1064, 1065), kann sich der Senat dem für
den vorliegenden Fall nicht anschließen im Hinblick auf § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO und die zu dieser Vorschrift entwickelten Grundsätze der
Rechtsprechung.