Urteil des OLG Karlsruhe vom 10.11.2004

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OLG Karlsruhe Beschluß vom 10.11.2004, 1 Ss 94/04
Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung: Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch;
Voraussetzungen für das Absehen vom Regelfahrverbot; Geschwindigkeitsüberschreitung des zu einem Notfall gerufenen Arztes
Leitsätze
1. Eine Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch ist auch dann wirksam, wenn das Urteil zwar keine ausreichenden
tatsächlichen Feststellungen zur Messmethode und des berücksichtigen Toleranzabzuges bei der Ahndung einer Geschwindigkeitsüberschreitung
mittels eines standardisierten Messverfahren enthält, der Betroffene jedoch uneingeschränkt und glaubhaft den festgestellten Sachverhalt in der
Hauptverhandlung eingeräumt hat.
2. Will der Tatrichter vom Regelfall der Verhängung eines nach der BKatV indizierten Fahrverbots absehen, so darf er eine Einlassung des
Betroffenen nicht unkritisch übernehmen. Vielmehr bedarf es wegen der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer einer
besonders ein-gehenden und kritischen Überprüfung der Angaben, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalles
auszuschließen und dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der richtigen Rechtsanwendung zu ermöglichen.
3. Eine das Absehen der Verhängung eines Fahrverbots rechtfertigende notstandsähnliche Situation liegt vor, wenn ein Arzt zu einem Notfall
gerufen wird, er dabei mit seinem Kraftfahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr überschreitet und eine sofortige
medizinische Behandlung zwingend erforderlich ist und/oder der Arzt vom Vorliegen einer solchen Gefahrsituation ausgehen darf.
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts X. vom 01. April 2004 im Rechtsfolgenausspruch mit den dazu
gehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das
Amtsgericht X. zurückverwiesen.
Gründe
I.
1
Wegen fahrlässigen Überschreitens der außerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit setzte das Amtsgericht X. mit Urteil vom 01.04.2004 unter
Erhöhung der Regelbuße und Absehung von der Verhängung eines Fahrverbots gegen den Betroffenen eine Geldbuße von 500 Euro fest. Nach
den getroffenen Feststellungen hatte dieser am 23.10.2003 gegen 15 Uhr die B 3 zwischen Z. und V. mit einer Geschwindigkeit von 161 km/h
befahren und die außerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 61 km/h überschritten, weil er als Arzt zu einem Notfall gerufen
worden sei. Hiergegen wendet sich das auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, mit welchem diese die
Nichtanordnung des Regelfahrverbots beanstandet.
II.
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Der Rechtsbeschwerde kann schon aufgrund der erhobenen Sachrüge ein - zumindest vorläufiger - Erfolg nicht versagt bleiben.
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1. Die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Beschränkung des Rechtsmittels ist wirksam. Zwar setzt eine solche Begrenzung voraus, dass
die angefochtene Entscheidung ausreichende tatsächliche Feststellungen enthält, wozu bei Ahndung einer Geschwindigkeitsüberschreitung
mittels eines standardisierten Messverfahrens dies im Regelfalle die Mitteilung der Messmethode und des berücksichtigen Toleranzabzuges
erfordert (vgl. OLG Hamm DAR 2002, 39 f.; dass. ZfSch 2000, 416 f.; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl. 2003, StVO, § 3 Rn. 56 b, 59).
Eine solche Beschreibung war vorliegend aber ausnahmsweise entbehrlich, weil der Betroffene uneingeschränkt und insoweit auch glaubhaft
den festgestellten Sachverhalt in der Hauptverhandlung eingeräumt und weder die Geschwindigkeitsüberschreitung noch deren Höhe,
geschweige denn die Zuverlässigkeit der vor Ort erfolgten Messung, beanstandet hat (BGHSt 39, 291 ff., 303). Auch wenn sich das Rechtsmittel
vorwiegend gegen das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots wendet, erfasst dieses wegen der bestehenden Wechselwirkung
gleichwohl den gesamten Rechtsfolgenausspruch (vgl. Senat NZV 2004, 211 ff. = VRS 104, 454 ff. = NStZ-RR 2003, 279). Die in rechtlicher Sicht
bedenkliche Annahme einer lediglich fahrlässigen Tatbegehung steht der Wirksamkeit der Beschränkung indes nicht entgegen.
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2. Der Senat teilt die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass die getroffenen Feststellungen ein Absehen von der Verhängung eines
Fahrverbots nach § 4 Abs. 4 BKatV nicht zu tragen vermögen.
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a. Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG kann einem Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG, die er unter grober
Verletzung seiner Pflichten als Kraftfahrzeugführer begangen hat und wegen der eine Geldbuße festgesetzt worden ist, für die Dauer von einem
bis zu drei Monaten verboten werden, Kraftfahrzeuge jeder oder einer bestimmten Art im Straßenverkehr zu führen. Eine grobe Verletzung der
Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV liegt in der Regel vor, wenn der Tatbestand der Nr. 11.3 des
Bußgeldkatalogs i.V.m. der Tabelle 1c des Anhangs zum Bußgeldkatalog verwirklicht wird. Die Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit um 61 km/h ist ein dort erfasster Tatbestand, der bei Begehung der Tat außerhalb geschlossener Ortschaften - wie im
vorliegenden Fall - neben einer Geldbuße von 275 Euro ein Fahrverbot von zwei Monaten vorsieht. Die Erfüllung dieses Tatbestandes weist auf
das Vorliegen eines groben Verstoßes i.S.v. § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG hin, der zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im
Straßenverkehr offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf. Ausnahmsweise kann von
der Anordnung abgesehen werden, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich die Tat von den genannten Regelfällen zugunsten
des Betroffenen unterscheidet und hierdurch die tatbestandsbezogene oder die rechtsfolgenbezogene Vermutung entkräftet wird. Hierfür hat der
Tatrichter eine auf Tatsachen gestützte, besonders eingehende Begründung zu geben, in der im einzelnen darzulegen ist, welche (besonderen)
Umstände es gerechtfertigt erscheinen lassen, von dem Regelfahrverbot abzusehen (vgl. Senat VRS 98, 385 ff. m.w.N.; Senat, Beschluss vom
05.08.2002,1 Ss 55/02).
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b. Diesen Maßstäben genügt die Begründung im angefochtenen Urteil nicht.
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aa. Allerdings kann das Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation - eine nach § 34 StGB zu beurteilende Notstandslage liegt schon wegen
der auch durch einen Notarzt erreichbaren Hilfeleistung ersichtlich nicht vor (vgl. BayObLG NJW 2000, 888 f.) - durchaus den Wegfall des
Fahrverbots rechtfertigen, weil das gesamte Tatbild in einem weit milderen Licht als der dem Bußgeldkatalog zugrunde liegende Regelfall
erscheint. Ein Arzt, der zu einem Notfall gerufen wird und dabei Straßenverkehrsregeln überschreitet, handelt nicht aus grobem Leichtsinn,
grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit (vgl. ausführlich hierzu OLG Karlsruhe VRS 100, 460 ff.), sondern aus Sorge um das Leben oder die
Gesundheit seines Patienten. Dies gilt nach Auffassung des Senats auch dann, wenn die erforderliche Hilfe auch durch einen Notarzt, welcher
über ein Fahrzeug mit Sonderrechten verfügt (§ 35 Abs. 5 a StVO), erreichbar gewesen wäre, denn dieser Umstand beseitigt die fremdnützige
und im Interesse der Bevölkerung stehende Motivation des Arztes nicht. Allerdings vermag nicht jeder Hilferuf eines Verletzten oder Erkrankten
eine solche Beurteilung zu rechtfertigen, vielmehr ist dies nur dann der Fall, wenn eine sofortige medizinische Behandlung zwingend erforderlich
gewesen war und/oder der Arzt vom Vorliegen einer solchen Gefahrsituation ausgehen durfte (ähnlich BayObLG NJW 2000, 888 f.; OLG
Düsseldorf NStZ 1997, 52 f.; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 214 f.; KG Beschluss vom 20.01.1997, 2 Ss 128/96; Hentschel, a.a.O., StVO, § 3 Rn.
56; siehe auch die amtliche Begründung zum 2. Straßenverkehrssicherungsgesetz, BT-Drucks. IV, 651, S.17).
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bb. Dass eine solche Fallgestaltung vorlag, belegt das angefochtene Urteil indes nicht.
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Zwar enthält dieses entsprechende Feststellungen, der Tatrichter hat seine Überzeugung aber allein aus die Einlassung des Betroffenen
geschöpft, ohne diese anhand sonstiger Beweismittel, etwa der Einvernahme der erkrankten Patientin U. oder einer Mitarbeiterin der Arztpraxis,
zu überprüfen und kritisch zu hinterfragen. Soll jedoch vom Regelfall der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden, so bedarf es wegen
der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer einer besonders eingehenden und kritischen Überprüfung der
Einlassung eines Betroffenen, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalles auszuschließen und auch dem
Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der richtigen Rechtsanwendung zu ermöglichen (vgl. Senat NZV 2004, 211 ff. - Augenblicksversagen
-; OLG Rostock VRS 101, 380 ff. - Härtefall - ; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 52 f. - notstandsähnliche Lage; vgl. allg. hierzu Hentschel, a.a.O.,
StVG, § 25 Rn. 26).
10 cc. Zu einer solchen näheren Überprüfung bestand vorliegend auch deshalb Anlass, weil die mitgeteilten Angaben des Betroffenen zu den
Beweggründen des erfolgten Verkehrsverstoßes nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind (BayObLG VRS 87, 303 ff.). Zwar ergibt sich dies - wie
oben bereits ausgeführt - entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft nicht allein daraus, dass der Betroffene den Unfall der Patientin -
stark blutende Schnittverletzung mit einem Messer - nicht als derart gewichtig ansah, um von sich aus sofort den Notarzt zu verständigen.
Ungewöhnlich erscheint indes, dass der Betroffene als nicht in der allgemeinen Medizin tätiger Arzt zu einem solchen Notfall gerufen worden,
dem Ansinnen „einer Bekannten von ihm“ ohne weitere Rückfrage während der üblichen Arbeitszeit und ggf. unter Verlassen seiner Arbeitsstelle
nachgekommen sein will. Auch das mitgeteilte Verletzungsbild lässt nicht zwingend auf das tatsächliche und für einen Arzt auch
nachvollziehbare Vorliegen einer ernsthaften und eine sofortige Behandlung erfordernden Gefährdungslage der Anruferin schließen, zumal
weder nähere Feststellungen zur tatsächlichen Notfalllage noch zum Wissensstand des Arztes getroffen worden sind.
11 c. Diese unzureichenden Feststellungen wirken sich auf die vom Amtsgericht vorgenommene Erhöhung der Geldbuße unter Absehen von der
Verhängung eines Fahrverbots nach § 4 Abs. 4 BKatV aus, da das vom Betroffenen behauptete Vorliegen einer „Notfallbehandlung“ einer der
maßgeblichen Gründe für die erfolgte Anordnung war (allgemein vgl. OLG Karlsruhe VRS 88, 476 ff.; Hentschel, a.a.O., § 25 Rn. 24).
III.
12 Das Urteil war daher aufzuheben und an das Amtsgericht X. zur neuen Verhandlung, in welcher ergänzende Feststellungen getroffen werden
können (OLG Rostock NZV 2002, 137 ff.), und Entscheidung zurückzugeben (§ 349 Abs. 4 StPO i.V.m. §§ 79 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4, 80 a
Abs. 1 OWiG n.F.). Zur Übertragung der Sache auf eine andere Abteilung des Amtsgerichts bestand kein Anlass.
13 Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
14 Sollte sich in der neu durchzuführenden Beweisaufnahme ergeben, dass eine - wie oben ausgeführt - notstandsähnliche Situation vorlag oder
der Betroffene aufgrund seines Kenntnisstandes zumindest vom tatsächlichen Vorliegen einer solchen ausgehen durfte, so liegt wegen des
Fehlens der besonderen subjektiven Vorwerfbarkeit ein sog. tatbestandsbezogener Umstand vor (vgl. hierzu näher Senat VRS 98, 385 ff.),
welcher schon von sich aus und ohne Notwendigkeit der Erhöhung der Geldbuße nach § 4 Abs. 4 BKatV den Wegfall des Fahrverbots
rechtfertigen kann. Auch würde sich diese besondere Ausnahmesituation auf die Höhe der Regelbuße auswirken können (OLG Karlsruhe VRS
100, 460 ff.). Sollten die engen Voraussetzungen einer derartigen notstandsähnlichen Situation indes nicht festzustellen sein, so kann der
Tatrichter gleichwohl bei Vorliegen wesentlicher und nicht vom Regelfall erfasster besonders gewichtiger Besonderheiten mit
Ausnahmecharakter ausnahmsweise die Überzeugung gewinnen, dass die Verhängung eines Fahrverbotes unangemessen ist (oder die Dauer
der Sperre zu hoch ist) und der notwendige Warneffekt schon allein unter angemessener Erhöhung der Regelgeldbuße erreicht werden kann
(vgl. näher OLG Karlsruhe VRS 88, 476 ff.; Hentschel, a.a.O., § 25 Rn. 24; zur Notwendigkeit der Anordnung eines Fahrverbots trotz eines
Härtefalles bei einem uneinsichtigen Wiederholungstäter: Senat NZV 2004 316 f. = Verkehrsrecht 2004, 136). Dabei wird vorliegend aber zu
beachten sein, dass berufliche Folgen auch schwerwiegender Art - das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte ist ohnehin nicht festgestellt -
wegen der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer hierfür allein nicht ausreichen können, da sie mit einem
Fahrverbot sehr häufig verbunden sind, und einem Betroffenen daher grundsätzlich zuzumuten ist, diese Nachteile durch Inanspruchnahme von
Urlaub oder der vorübergehenden Beschäftigung eines Fahrers, der Aufnahme eines Kredites oder der Kombination dieser Maßnahmen
auszugleichen (vgl. hierzu Senat VRS 104, 454 ff.).