Urteil des OLG Hamm vom 04.11.2003
OLG Hamm: entziehung der elterlichen sorge, elterliche sorge, eltern, versorgung, anhörung, jugendamt, beendigung, familienrecht, gefahr, scheidungsverfahren
Oberlandesgericht Hamm, 2 WF 371/03
Datum:
04.11.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Senat für Familiensachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 WF 371/03
Vorinstanz:
Amtsgericht Tecklenburg, 1 F 289/03
Tenor:
Auf die Beschwerde der Eltern wird der am 11. September 2003
verkündete Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht –
Tecklenburg abgeändert.
Im Wege der einstweiligen Anordnung wird den Eltern die
Personensorge für die Kinder N (geb. 9. November 1996) und L2 (geb.
23. Dezember 1998) entzogen.
Insoweit wird die Einrichtung einer Vormundschaft angeordnet. Im
übrigen wird der angefoch-tene Beschluss aufgehoben.
Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.
Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Beschwerdewert wird auf 1.500,00 € festgesetzt.
Gründe:
1
I.
2
Auf Anregung des Jugendamtes des Kreises T hat das Familiengericht ein Verfahren
zur Entziehung der elterlichen Sorge gem. § 1666 BGB eingeleitet. Das Jugendamt
hatte in seinem Schreiben vom 26. Juni 2003 dargestellt, dass bei den drei Kindern der
Beschwerdeführer über einen längeren Zeitraum hin in zunehmendem Umfang
Entwicklungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten aufgetreten seien. Außerdem sei
wiederholt eine ungenügende Versorgung und Betreuung der Kinder festgestellt
worden. So sei die Wohnung bei Besuchen wiederholt in einem unordentlichen und
unsauberem Zustand angetroffen worden. Die Kinder seien regelmäßig von Läusen
befallen gewesen. Die Kindesmutter sei offensichtlich mit der Haushaltsführung und der
Betreuung der Kinder überfordert gewesen, was sich unter anderem dadurch gezeigt
habe, dass die Kinder falsch und unzureichend ernährt worden seien. Der vollschichtig
berufstätige Kindesvater sei nicht in der Lage gewesen dieser Entwicklung entgegen zu
wirken, zumal die Eltern in ihrer Partnerschaft auch Probleme gehabt hätten, die unter
3
anderem zu einer vorübergehenden Trennung nur kurze Zeit nach der Heirat im Jahre
1999 geführt hätten. Nachdem sich auch durch eine sozialpädagogische Familienhilfe
keine wesentliche Verbesserung der Situation ergeben habe, sondern die
Entwicklungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten der beiden älteren Kinder N und L2
sogar noch zugenommen hätten, seien diese beiden Kinder mit Zustimmung der Eltern
ab dem 5. Februar 2003 in einer Diagnosegruppe des Westf. Jugendheimes U in T2
untergebracht worden, um festzustellen, auf welche Weise der Besorgnis erregenden
negativen Entwicklung der Kinder am besten begegnet werden könne. Dort wurden
während des Aufenthaltes der Kinder bis zum 25. Juni 2003 die vom Jugendamt
dargestellten Verwahrlosungstendenzen, Entwicklungsdefizite und
Verhaltensauffälligkeiten bestätigt. Es wurde festgestellt, dass die Eltern die Problematik
auf Sprachdefizite der Kinder reduzieren wollten und keine Einsicht in die
Notwendigkeit weiterer Förderungsmaßnahmen für die Kinder hatten. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf den im Senatstermin von der Vertreterin des
Jugendamtes überreichten Abschlussbericht des Westf. Jugendheimes U vom 13.
August 2003 Bezug genommen. Die Beendigung des Aufenthaltes in der
Diagnosegruppe, an den sich nach Ansicht der Betreuer und Therapeuten zunächst
eine weitere stationäre Betreuung anschließen sollte, beruhte auf dem fehlenden
Einverständnis der Eltern mit solchen Maßnahmen.
Nach persönlicher Anhörung der Eltern entzog das Familiengericht ihnen mit dem
angefochtenen Beschluss im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig die elterliche
Sorge für alle drei Kinder und ordnete gleichzeitig die Einholung eines psychologischen
Sachverständigengutachtens an zu der Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen
Bedingungen, die elterliche Sorge für die Kinder bei den Eltern verbleiben kann.
4
II.
5
Die gem. § 19 FGG statthafte und auch im übrigen zulässige Beschwerde ist nur
teilweise begründet, nämlich soweit, den Eltern vorläufig die Sorge auch für ihr jüngstes
Kind N2 entzogen worden ist. Insoweit führt das Rechtsmittel zur Aufhebung der
angefochtenen Entscheidung.
6
Der Senat geht davon aus, dass die vom Familiengericht getroffene Maßnahme des
einstweiligen Rechtsschutzes, die eine Regelung bis zur Entscheidung in der
Hauptsache gewährleisten soll, keine einstweilige Anordnung nach § 621 g ZPO i.V.m.
§§ 620 a-g ZPO darstellt, da diese nach dem Wortlaut des Gesetzes einen Antrag eines
Verfahrensbeteiligten voraussetzt, während hier das Familiengericht sowohl das
Hauptsacheverfahren zur Prüfung der Frage der Entziehung der elterlichen Sorge gem.
§ 1666 BGB von Amts wegen eingeleitet (das Schreiben des Jugendamtes vom 26. Juni
2003 stellt lediglich eine Anregung dar) als auch die angefochtene vorläufige Regelung
von Amts wegen getroffen hat. Zum Teil wird auf das Antragserfordernis verzichtet und
die Anwendung des § 621 g ZPO auch auf diesen Sachverhalt befürwortet (OLG
Frankfurt/Main EzFamR aktuell 2003, 173 = OLGR 2003, 153; OLG Dresden FamRZ
2003, 1306; Zöller/Philippi, 23. Aufl., § 621 g ZPO Rn.3; Gießler in Finke/Garbe,
Familienrecht in der anwaltlichen Praxis, 5. Aufl., § 8 Rn.295). Für diese nicht näher
begründete Auffassung könnte sprechen, dass der Gesetzgeber bei Einführung des
§ 621g ZPO im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes v. 11. 12. 2001 (BGBl. I, 3513) das
Nebeneinander der gesetzlich nicht bzw. nur teilweise (§ 13 Abs.4 HausrVO a.F.; § 50 d
FGG) geregelten einstweiligen Anordnungen, die zur besseren Unterscheidung als
vorläufige Anordnungen bezeichnet wurden, und der einstweiligen Anordnungen gem.
7
§§ 620 ff ZPO im Bereich FGG-Familiensachen betreffend die elterliche Sorge
einschließlich Umgang und Herausgabe sowie Hausrat und Ehewohnung entfallen
sollte (vgl. BT-Drucks. 14/5429 S. 23). Ob dabei auch der Fall des von Amts wegen
eingeleiteten Verfahrens betreffend Regelungen nach § 1666 BGB bedacht worden ist,
kann der Gesetzesbegründung nicht entnommen werden. Da sich somit ein Wille des
Gesetzgebers zur vollständigen Neuregelung des einstweiligen Rechtsschutzes in
FGG-Familiensachen nicht feststellen lässt, ist eine analoge Anwendung des § 621 g
ZPO auf Sachverhalte der vorliegenden Art nicht geboten. Es hat insoweit vielmehr bei
der von der Rechtsprechung zur Gewährleistung eines einstweiligen Rechtsschutzes
entwickelten einstweiligen/vorläufigen Anordnung zu verbleiben (ebenso OLG Köln FF
2003, 141 mit zustimm. Anm. Müller; Baumbach/Albers, 62. Aufl., § 621 g ZPO Rn.3;
Ebert, Einstweiliger Rechtsschutz in Familiensachen, § 3 Rn. 194; van Els, FamRZ
2003, 965; Finke/Garbe, Familienrecht in der anwaltlichen Praxis, 5. Aufl., § 4 Rn.238).
Hierfür spricht auch der Umstand, dass sie den Besonderheiten des von Amts wegen
eingeleiteten und betriebenen Verfahrens besser gerecht wird als das einstweilige
Anordnungsverfahren nach §§ 620 ff ZPO, welches ursprünglich nur für das
Scheidungsverfahren mit den dort von den Eheleuten vertretenen gegensätzlichen
Interessen vorgesehen war. Dem vorliegenden Verfahren fehlt dagegen ein solcher
kontradiktorischer Charakter. Es handelt sich um ein typischen FGG-Verfahren, auf
welches nicht ohne weiteres ZPO-Bestimmungen anzuwenden sind. Dies kommt unter
anderem auch bei der Kostenentscheidung des Beschwerdeverfahrens zum Ausdruck,
wo die Bestimmungen der §§ 131 KostO, 13 a Abs.1 FGG der Interessenlage eines
Verfahrens, in dem es wie vorliegend keinen Antragsgegner gibt, wesentlich besser
entsprechen als die bei einer Beschwerde nach §§ 620 c, 567 ZPO geltenden §§ 91 ff
ZPO, da sie es ermöglichen, ganz oder teilweise von der Auferlegung der
Gerichtskosten abzusehen.
Nach persönlicher Anhörung der Eltern und der Kinder N und L2 sowie den im
Beschwerdeverfahren weiter getroffenen Feststellungen hält der Senat die vom
Familiengericht getroffene vorläufige Maßnahme hinsichtlich der beiden älteren Kinder
für berechtigt. Nur auf diese Weise konnte der Gefahr begegnet werden, dass die bereits
während des Aufenthaltes der Kinder im Diagnosezentrum festgestellte positive
Entwicklung hinsichtlich der Behebung der Entwicklungsdefizite wieder zunichte
gemacht und die vor der stationären Unterbringung festgestellten zum Teil
schwerwiegenden Mängel bei Betreuung, Versorgung und Erziehung der Kinder sich
fortsetzen und verstärken. Die erheblichen Entwicklungsdefizite, die nach dem
Abschlussbericht des Westf. Jugendheimes U vom 13. August 2003 sowie des
persönlichen Eindrucks bei der Anhörung als erwiesen anzusehen sind, können von
den Eltern aufgrund ihrer mangelnden Einsichtsfähigkeit auch nicht mit Hilfestellung
durch das Jugendamt oder von sonstiger dritter Seite behoben werden. Der Senat hat
bei der Anhörung der Eltern festgestellt, dass diese sich zwar bemühen, ihren Kindern
die erforderliche Zuwendung und Versorgung zukommen zu lassen, jedoch hierzu
objektiv zur Zeit nicht in der Lage sind. Ihnen ist es während der Zeit der stationären
Unterbringung der beiden älteren Kinder lediglich unter großen Anstrengungen mit Hilfe
der sozialpädagogischen Familienhilfe gelungen, die Versorgung und Betreuung des
bei ihnen verbliebenen jüngsten Kindes einigermaßen sicher zu stellen. Mit der
Versorgung und Betreuung von drei Kindern wären sie derzeit völlig überfordert, wobei
zu berücksichtigen ist, dass die Kindesmutter ein weiteres Kind erwartet. Schließlich
haben auch die beiden älteren Kinder bei ihrer Anhörung geäußert, dass sie sich im
Jugendheim durchaus wohl fühlen. Sie haben zwar auch erklärt, das sie sich bei ihren
Eltern wohl fühlten, jedoch keineswegs auf eine sofortige Beendigung des derzeitigen
8
Zustandes gedrängt.
Insgesamt hält der Senat daher die vorläufige Entziehung der Personensorge (für die
Notwendigkeit der Entziehung der gesamten elterlichen Sorge, d.h. auch der
Vermögenssorge, bestehen keinerlei Anhaltspunkte) hinsichtlich der Kinder N und L2
für erforderlich, um die ansonsten bestehende Gefahr für das Kindeswohl zu beseitigen.
Zur Erreichung dieses Zweckes reichen weniger einschneidende Maßnahmen wie
Auflagen und Ermahnungen an die Eltern oder die Entziehung nur eines Teilbereichs
der Personensorge nicht aus, da eine zumindest vorübergehende Fremdunterbringung
erforderlich ist. Auch das Jugendamt geht davon aus, dass vorrangiges Ziel eine
Rückführung der Kinder in die Familie ist. Dazu ist es allerdings erforderlich, dass die
Eltern die auch ihnen angebotene Hilfe annehmen und die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass sie ihren Kindern die erforderliche Versorgung und Erziehung zuteil
werden lassen.
9
Hinsichtlich des Kindes N2 kann zur Zeit keine akute Gefährdung festgestellt werden,
die eine vorläufige Entziehung der Personensorge rechtfertigen könnte. Nach Mitteilung
des Jugendamtes, welches sich auf die Feststellungen der Betreuer des Westf.
Jugendheimes beruft, wo sich das jüngste Kind zusammen mit den Geschwistern auf
Anordnung des Vormundes seit etwa einem Monat befindet, besteht zwar auch bei N2
eine verzögerte sprachliche Entwicklung. Dagegen können jedoch
Verwahrlosungstendenzen oder eine sonstige ungenügende Betreuung und
Versorgung dieses Kindes nicht festgestellt werden. Den Eltern ist es offensichtlich mit
Hilfe der von ihnen angenommenen sozialpädagogischen Familienhilfe bislang
gelungen, schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohles zu vermeiden. Die
weitere Entwicklung wird allerdings besonders sorgfältig zu beobachten sein, um es
längerfristig nicht zu einer ähnlichen Situation kommen zu lassen wie bei den älteren
Geschwistern.
10
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 131 KostO, 13 a Abs.1 FGG.
11