Urteil des OLG Hamm vom 23.03.1981

OLG Hamm (wiedereinsetzung in den vorigen stand, in dubio pro reo, stpo, vernehmung, rechtsmittel, verteidiger, post, antrag, rechtzeitigkeit, begründung)

Oberlandesgericht Hamm, 1 Ss 359/81
Datum:
23.03.1981
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 Ss 359/81
Tenor:
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Die durch den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
entstandenen Kosten und die der Angeklagten erwachsenen
notwendigen Auslagen fallen der Angeklagten zur Last.
Gründe:
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Das Amtsgericht Dortmund hat die Angeklagte am 25. Oktober 1979 wegen
gemeinschaftlichen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe
von 10 Tagessätzen zu je 25,- DM verurteilt. Die Berufung der Angeklagten hat die
Strafkammer durch Urteil vom 27. Oktober 1980 mit der Maßgabe verworfen, daß sie
wegen eines Betruges zu der selben Geldstrafe verurteilt wurde.
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Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte durch Schriftsatz ihres bevollmächtigten
Verteidigers vom 29. Oktober 1980 rechtzeitig Revision eingelegt. Die Einlegungsschrift
und der sie berichtigende Schriftsatz des Verteidigers vom 3. November 1980 enthalten
keine Revisionsanträge und keine Ausführungen zur Begründung der Revision.
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Das Berufungsurteil ist der Angeklagten persönlich und ihrem Verteidiger jeweils am 16.
Dezember 1980 zugestellt worden. Innerhalb der Frist zur Revisionsbegründung (§ 345
Abs. 1 StPO) hat weder die Angeklagte Revisionsanträge bzw. eine
Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle des Landgerichts erklärt noch ist
ein Schriftsatz ihres Verteidigers oder eines anderen Rechtsanwalts mit entsprechenden
Erklärungen zu den Akten gelangt. Durch Beschluß vom 22. Januar 1981 hat deshalb
die Strafkammer die Revision gem. § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.
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Nach Zustellung dieses Beschlusses an ihn am 3. Februar 1981 hat der Verteidiger mit
Schriftsatz vom 3. Februar 1981, der am 9. Februar 1981 beim Landgericht eingegangen
ist, beantragt, den Beschluß vom 22. Januar 1981 aufzuheben. Zur Begründung hat er
vorgetragen, er habe die Revisionsbegründung am 18. Dezember 1980 gefertigt und am
selben Tage zur Post gegeben. Eine Durchschrift des Schriftsatzes vom 18. Dezember
1980, die indessen keine Unterschrift aufweist, hat der Verteidiger seinem Schriftsatz
vom 3. Februar 1981 beigefügt. Mit einem weiteren Schriftsatz vom 5. März 1981 hat er
ausdrücklich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist
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ausdrücklich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist
zur Begründung der Revision beantragt und anwaltlich versichert und Zeugenbeweis
dafür angeboten, daß die Revisionsbegründung vom 18. Dezember 1980 am selben
Tage zur Post gegeben worden sei.
Der Senat sieht den Schriftsatz des Verteidigers vom 3. Februar 1981 als Antrag auf
Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 346 Abs. 2 StPO) gegen den
Verwerfungsbeschluß der Strafkammer vom 22. Januar 1981 an. Der Antrag ist
rechtzeitig gestellt, kann jedoch keinen Erfolg haben.
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Der Senat hat beim Landgericht Dortmund Ermittlungen nach dem Verbleib des
Schriftsatzes des Verteidigers vom 18. Dezember 1980 veranlaßt. Diese sind ohne
Erfolg geblieben. Nach dem Vermerk des Geschäftsstellenbeamten vom 10. März 1981
ist eine Revisionsbegründung bis zum 20. Januar 1981, als der Beamte bereits einen
entsprechenden Aktenvermerk gemacht hatte, nicht eingegangen. Ein weiterer
Bediensteter hat am 17. März 1981 vermerkt, auch er habe "keine Begründungsschrift
gesehen". Bei dieser Sachlage kann nicht festgestellt werden, daß der Schriftsatz des
Verteidigers vom 18. Dezember 1980 innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 StPO beim
Landgericht eingegangen ist. Darüber hinaus steht auch nicht fest, daß er überhaupt
jemals an das Landgericht gelangt ist. Nach dem Vorbringen des Verteidigers, dessen
Praxis sich nicht am Sitze des Landgerichts befindet, soll die Revisionsbegründung am
18. Dezember 1980 zur Post gegeben worden sein. Da sie bis heute über 3 Monate
später - nicht zu den Akten des vorliegenden Verfahrens gelangt ist, besteht die
Möglichkeit, daß sie bereits auf dem Wege zur Post, auf einem Postamt oder während
der Postbeförderung verloren gegangen ist. Feststellbar ist das allerdings nicht. Auch
die Möglichkeit, daß der Schriftsatz an das Landgericht gelangt und dort in Verlust
geraten oder in eine falsche Akte eingeheftet worden ist, ist nicht auszuschließen.
Weitere Nachforschungen nach dem Verbleib des Schriftsatzes versprechen keinen
Erfolg. Für die Entscheidung des Senats muß deshalb nicht nur der rechtzeitige
Eingang des Schriftsatzes beim Landgericht, sondern darüber hinaus auch offenbleiben,
ob die Revisionsbegründung überhaupt beim Landgericht Dortmund eingegangen ist.
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Bei dieser Sachlage kann der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts keinen
Erfolg haben.
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In Rechtsprechung und Rechtslehre ist umstritten, ob ein Rechtsmittel oder eine
Revisionsbegründung, für das bzw. die sich unter Verwendung aller verfügbaren
Erkenntnisquellen nicht feststellen läßt, ob es rechtzeitig eingelegt bzw. sie rechtzeitig
angebracht ist, als rechtzeitig eingelegt behandelt werden muß oder nicht. Überwiegend
wird angenommen, daß der Grundsatz "in dubio pro reo" insoweit nicht gilt, da die
Frage, ob ein Rechtsmittel als rechtzeitig eingelegt anzusehen ist, für alle
Verfahrensbeteiligten einheitlich behandelt werden müsse, also nicht etwa für ein
Rechtsmittel des Angeklagten und ein zu Ungunsten des Angeklagten eingelegtes
Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft unterschiedlich beantwortet werden dürfe (so u.a.
BGH NJW 1960, 2202, KG JZ 1954, 470; OLG Hamm, 2. Strafsenat GA 1957, 222; OLG
Düsseldorf, 1. Strafsenat NJW 1964, 1684; OLG Celle NJW 1967, 640; a.A. OLG
Hamburg JR 1976, 254; Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO, 23. Aufl., Einl. Kap. 11 Rz.
44 ff und Meyer in Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 341 Rz. 30).
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In Entscheidungen, die jeweils lediglich die Frage des rechtzeitigen Eingangs der
Rechtsmittelschrift bei Gericht betreffen - wobei der Beginn der Rechtsmittelfrist jeweils
nicht zweifelhaft war - haben das Kammergericht und die Oberlandesgerichte Hamm,
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Düsseldorf (1. Strafsenat) und Celle (jeweils a.a.O.,) die Rechtsansicht vertreten, nicht
behebbare Zweifel über die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels gingen zu Lasten des
Rechtsmittelführers; das Rechtsmittel sei in einem solchen Fall als unzulässig
anzusehen. Demgegenüber hat der BGH in seinem Beschluß vom 2. September 1960
(NJW 1960, 2202), der die Frage der Zulässigkeit einer Revision betraf, die am selben
Tag wie ein Verzicht auf dieses Rechtsmittel bei Gericht eingegangen war, darauf
hingewiesen, daß ein Rechtsmittel nur dann als wegen Verspätung unzulässig
verworfen werden dürfe, wenn es tatsächlich verspätet eingelegt worden sei. Dieser
Ansicht haben sich das BayObLG (NJW 1966, 947), der 2. Strafsenat des
Oberlandesgerichts Düsseldorf (MDR 1969, 1031) und die Oberlandesgerichte
Braunschweig (NJW 1973, 2119), Oldenburg (OLGSt § 314 S. 1) und Stuttgart (NJW
1981, 471 L.S.) in Entscheidungen zu unterschiedlich gelagerten Fällen angeschlossen,
in denen jedoch jeweils nur die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels oder des
Rechtsbehelfs zweifelhaft war, nicht jedoch dessen Eingang bei Gericht oder bei der
zuständigen Behörde überhaupt ungeklärt blieb. Die Ansicht des BGH (NJW 1960,
2202) wird auch im Schrifttum überwiegend vertreten. Dem Urteil des 4. Strafsenats des
BGH vom 26. Juni 1958 (BGHSt 11, 393, 395) legt dagegen wohl nicht diese Ansicht,
sondern die aufgrund der besonderen Sachlage gewonnene Überzeugung zu Grunde,
Revisionseinlegung und Rechtsmittelbegründung seien rechtzeitig erfolgt.
Welcher der dargelegten Rechtsansichten zu folgen ist, wenn lediglich die
Rechtzeitigkeit eines eingelegten Rechtsmittels oder einer angebrachten
Revisionsbegründung ungeklärt bleibt, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben.
Denn hier ist - anders als in allen in den angeführten Entscheidungen behandelten
Fällen - ungeklärt geblieben, ob der Schriftsatz, mit dem der Verteidiger die Revision
begründet hat, überhaupt an das Landgericht gelangt ist. Das Argument, der Angeklagte
dürfe keinen Nachteil dadurch erleiden, daß Fehler der Strafverfolgungsbehörden die
Feststellung unmöglich machten, ob ein zu seinen Gunsten eingelegtes Rechtsmittel
bzw. eine Begründung der von ihm eingelegten Revision fristgerecht angebracht
worden sei - so insbesondere Löwe-Rosenberg-Meyer, a.a.O., - trifft auf die hier
gegebene Prozeßlage nicht zu. Die Ungewißheit über den Eingang der
Rechtsmittelbegründung bei Gericht kann zwar auf einem Fehler von
Gerichtsbediensteten beruhen, muß das aber nicht. Insbesondere im Hinblick darauf,
daß seit der unter Beweis gestellten Absendung des Schriftsatzes vom 18. Dezember
1980 bereits über 3 Monate vergangen sind, ohne daß der Schriftsatz inzwischen
wieder aufgetaucht wäre, muß es der Senat als ebenso wahrscheinlich ansehen, daß
ein Fehler anderer Personen auf dem Wege zur Post oder im Bereich der Post zum
Verlust des Schriftsatzes geführt hat. Bei dieser Prozeßlage muß die Revision nach §
346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen werden. Denn hier handelt es sich nicht
darum, daß die Revisionsanträge bzw. die Revisionsbegründung formgerecht
angebracht worden sind und der Nachweis der Rechtzeitigkeit an einem Fehler der
Strafverfolgungsbehörden scheitert. Ist nicht feststellbar, ob ein Rechtsmittel bzw. eine
Revisionsbegründung des Angeklagten überhaupt an das Gericht gelangt ist, kann den
berechtigten Belangen des Angeklagten dadurch ausreichend Rechnung getragen
werden, daß ihm - falls die Voraussetzungen dafür vorliegen - Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand bewilligt wird.
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Einer Vorlage der Sache an den BGH nach § 121 Abs. 2 GVG bedarf es nicht. Diese
Vorschrift gilt allerdings auch, falls ein Oberlandesgericht bei einer Entscheidung nach §
346 Abs. 2 StPO von der Entscheidung eines anderen Revisionsgerichts abweichen will
(BGH NJW 1977, 964, 965). Die feststellbaren - oben angeführten - Entscheidungen
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anderer Revisionsgerichte - bei einem Teil der angeführten Entscheidungen handelt es
sich zudem nicht um Revisionsentscheidungen; andere Entscheidungen beruhen nicht
auf der mitgeteilten Rechtsansicht - betreffen nicht die hier gegebene Verfahrenslage,
daß nicht lediglich die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Revisionsbegründung bei
Gericht, sondern darüberhinaus zweifelhaft geblieben ist, ob die Begründungsschrift
überhaupt an das Gericht gelangt ist.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist unzulässig. Der Senat sieht
ihn allerdings als bereits mit dem Schriftsatz vom 3. Februar 1981 und deshalb
rechtzeitig erhoben an. Entgegen § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ist jedoch die versäumte
Handlung nicht nachgeholt worden. Die dem Schriftsatz vom 3. Februar 1981 beigefügte
Ablichtung der Revisionsbegründungsschrift vom 18. Dezember 1980 genügt dazu
nicht, weil sie nicht vom Verteidiger unterschrieben worden ist. Nach § 345 Abs. 2 StPO
kann die Revisionsbegründung seitens des Angeklagten nur in einer von dem
Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der
Geschäftsstelle angebracht werden. Die Bezugnahme auf ein als Anlage beigefügtes
Schriftstück, das nicht selbst von einem Rechtsanwalt unterzeichnet ist, genügt für die
Revisionsbegründung des Angeklagten nicht (vgl. Löwe-Rosenberg-Meyer, a.a.O., §
345 Rz. 21 mit zahlreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Rechtslehre). Für die
Nachholung der Revisionsbegründung gelten die für letztere bestehenden
Formvorschriften naturgemäß ebenso.
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Der Senat weist abschließend darauf hin, daß die Revision - allerdings vom Senat und
nicht bereits vom Berufungsgericht - auch dann als unzulässig hätte verworfen werden
müssen, wenn der rechtzeitige Eingang des Schriftsatzes vom 18. Dezember 1980 beim
Landgericht hätte festgestellt werden können. Denn die Revisionsbegründung enthält
lediglich eine Verfahrensrüge, auf die Revision nicht gestützt werden kann. Im
Schriftsatz vom 18. Dezember 1980 hat der Verteidiger zur Begründung der Revision
vorgetragen, während der Vernehmung des Angeklagten in der Berufungsverhandlung
sei die Lautsprecheranlage des Sitzungssaals so eingeschaltet gewesen, daß die aus
dem Gerichtssaal gesandten Zeugen der Vernehmung des Angeklagten hätten folgen
können und demzufolge die Möglichkeit bestanden habe, "die Aussage zum Nachteil
des Angeklagten zu machen".
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Mit diesem Vorbringen ist ein Verfahrensfehler, auf den die Revision gestützt werden
kann, nicht dargetan. Nach § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO haben die Zeugen den
Sitzungssaal zu verlassen, bevor der Vorsitzende den Angeklagten über seine
persönlichen Verhältnisse vernimmt. Erst nach der Vernehmung des Angeklagten - falls
er zur Äußerung bereit ist - folgt die Beweisaufnahme einschließlich der Vernehmung
der Zeugen (§§ 243 Abs. 4, 244 Abs. 1 StPO). Gegen diese Vorschriften hat das
Berufungsgericht nach dem Vorbringen des Revisionsführers nicht verstoßen.
Allerdings sollen die Zeugen nach der Präsenzfeststellung den Sitzungssaal verlassen
und dürfen der Hauptverhandlung bis zu ihrer Vernehmung nicht beiwohnen, um ihre
Unbefangenheit nicht durch Vorgänge in der Hauptverhandlung zu beeinflussen. Aus
dem selben Grunde muß naturgemäß auch verhindert werden, daß die wartenden
Zeugen der Vernehmung des Angeklagten über die Lautsprecheranlage folgen können.
Indessen handelte es sich bei § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO lediglich um eine
Ordnungsvorschrift, auf die die Revision nicht gestützt werden kann. Das war bereits in
der Rechtsprechung zum früheren Abs. 4 des § 243, dem Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift in
der jetzt geltenden Verfassung entspricht, in der Rechtsprechung anerkannt (RGSt. 1,
366; BayObLGSt 1949 bis 1951, 49). Daran ist auch für § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO in der
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jetzt geltenden Fassung festzuhalten (vgl. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 243
Rz. 27). Daß ein Zeuge während der Vernehmung des Angeklagten (und eventuell
anderer Zeugen) im Zuhörerraum der Verhandlung beigewohnt hat, berechtigt das
Gericht nicht einmal, einen Beweisantrag auf Vernehmung dieses Zeugen abzulehnen
(RGSt 1, 366; KG VRS 38, 56; vgl. auch RGSt 54, 297). Daß die Zeugen nach dem
Vorbringen des Revisionsführers während der Vernehmung des Angeklagten in der
Berufungsverhandlung über die Lautsprecheranlage den Gang der Verhandlung haben
verfolgen können, kann dem Angeklagten nicht eine formelle Revisionsrüge eröffnen,
die ihm nicht zustehen würde, wenn später vernommene Zeugen während der
Vernehmung des Angeklagten im Sitzungssaal anwesend gewesen wären. Auf die im
Schriftsatz des Verteidigers vom 18. Dezember 1980 allein enthaltene formelle Rüge
kann folglich die Revision nicht gestützt werden.