Urteil des OLG Hamm vom 10.05.1999
OLG Hamm (bedingte entlassung, freiheitsstrafe, strafkammer, fluchtgefahr, flucht, staatsanwaltschaft, haftbefehl, stpo, hauptverhandlung, haftgrund)
Oberlandesgericht Hamm, 2 Ws 148/99
Datum:
10.05.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 148/99
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 3 KLs 36 Js 43/98
Tenor:
Der Haftbefehl vom 19. April 1999 wird aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen
Auslagen des Angeklagten werden der Landeskasse auferlegt.
G r ü n d e :
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Dem Angeklagten ist mit der durch Beschluß der 3. großen Strafkammer des
Landgerichts Bochum zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 23.
Oktober 1998 sexueller Mißbrauch von Kindern in 238 Fällen, begangen in der Zeit von
Herbst 1991 bis 1997, vorgeworfen worden.
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Die Hauptverhandlung gegen den auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten fand am 6.
und 7. April 1999 vor der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum statt, das
den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 236 Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt hat. Ausweislich der bereits vorliegenden
schriftlichen Urteilsgründe hat der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Taten in vollem
Umfange eingeräumt.
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Nachdem der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 13. April 1999
Revision eingelegt hatte, hat die Staatsanwaltschaft unter dem 19. April 1999 den Erlaß
eines Haftbefehls beantragt, da nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nunmehr, nach
Einlegung des Rechtsmittels, in Anbetracht der konkreten Freiheitsstrafe von fünf Jahren
zu befürchten sei, der Angeklagte werde die gewonnene Zeit zur Flucht nutzen.
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Zuvor, am 14. April 1999, hatte der Angeklagte in Begleitung seines Verteidigers zu
Protokoll der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Landgerichts Bochum eine
Erklärung abgegeben, wonach er von seinem Verteidiger davon in Kenntnis gesetzt
worden sei, daß die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Erlaß eines Haftbefehls gegen
ihn stellen könnte. Er stehe weiterhin zu seinem in der Hauptverhandlung abgelegten
Geständnis und werde im Falle des Erlasses eines Haftbefehls sich selbst stellen.
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Der von der Strafkammer antragsgemäß erlassene Haftbefehl, der das Vorliegen des
Haftgrundes der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a Abs. 1 Nr. 1 StPO dahinstehen
läßt, verhält sich zum Haftgrund der Fluchtgefahr wie folgt:
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"Die Fluchtgefahr folgt daraus, daß der Angeklagte zu einer empfindlichen
Freiheitsstrafe in vorgenannter Höhe verurteilt worden ist, was naturgemäß einen
erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Der berufliche und soziale Werdegang des
Angeklagten, der mehrere gescheiterte Ehen hinter sich hat und seine
Arbeitsstellen stets nach kurzer Zeit
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- sei es aus eigenem Antrieb oder kündigungsbedingt - aufgegeben hat, zeigt, daß
tragfähige soziale Bindungen, die den Fluchtanreiz ausschließen könnten, nicht
vorhanden sind. Die nach dem Scheitern der Ehe mit der Mutter der Nebenklägerin
eingegangene neue Beziehung des Angeklagten zu einer Frau mit deren
minderjährigem Kind ist auch schon wieder in die Brüche gegangen. Der aufgrund
der verhängten Freiheitsstrafe bestehende Fluchtanreiz wird noch dadurch erhöht,
daß der Angeklagte in nicht unerheblichem Umfang (ca. 25.000,- DM) verschuldet
ist, zudem rückständige Unterhaltszahlungen aufgelaufen sind und erhebliche
Schadensersatzforderungen der Nebenklägerin auf ihn zukommen können, so daß
die mit einer Inhaftierung zwangsläufig verbundene Schuldenlast einen
besonderen zusätzlichen Anreiz geben kann, sich durch Flucht der Staatsgewalt zu
entziehen."
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Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner zulässigen Haftbeschwerde, der das
Landgericht mit näherer Begründung, auf die Bezug genommen wird, nicht abgeholfen
hat.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu
verwerfen.
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Das Rechtsmittel ist begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls.
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Die Strafkammer und die Generalstaatsanwaltschaft gehen zwar zutreffend davon aus,
daß eine verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren grundsätzlich die Annahme von
Fluchtgefahr nahelegt. Allein die hohe Straferwartung kann die Fluchtgefahr indes nicht
begründen, wie der Senat bereits wiederholt ent-
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schieden hat (vgl. Beschlüsse vom 15. Oktober 1998 - 2 Ws 474/98 - StV 1999, 37 - und
27. November 1998 - 2 Ws 554/98 - StV 1999, 215; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-
Goßner, StPO,
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43. Aufl., § 112 Rdnr. 24 m.w.N.). Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert, neben der
Straferwartung, vielmehr die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, wozu
insbesondere die Lebensverhältnisse des Angeklagten und sein bisheriges Verhalten
während des Ermittlungsverfahrens und der Hauptverhandlung zählen.
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Auf der Grundlage dessen läßt sich im vorliegenden Fall festhalten, daß der umfassend
geständige Angeklagte zu den Hauptverhandlungsterminen in Erwartung der auf ihn
zukommenden Verurteilung zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe freiwillig erschienen
ist und auch in Kenntnis der sodann verkündeten fünfjährigen Gesamtfreiheitsstrafe
keine erkennbaren Anstalten gemacht hat, sich der drohenden Strafvollstreckung durch
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Flucht zu entziehen. Auch als er durch seinen Verteidiger über den drohenden Erlaß
eines Haftbefehls informiert worden ist, hat er sich nicht abgesetzt. Soweit im Haftbefehl
im Hinblick auf den bisherigen beruflichen und sozialen Werdegang des Angeklagten
ausgeführt wird, er verfüge nicht über tragfähige Bindungen, läßt sich dies mit den
Urteilsfeststellungen, wonach der Angeklagte als Möbelmonteur über einen Arbeitsplatz
verfügt, nur bedingt in Einklang bringen. Ausweislich der Beschwerdebegründung lebt
der Angeklagte im übrigen in einer festen Beziehung mit einer Frau G. Ob die Schulden
des Angeklagten den Fluchtanreiz erhöhen, wie die Strafkammer meint, oder aber eher
vermuten lassen könnten, der Angeklagte verfüge nicht über die für eine Flucht
erforderlichen finanziellen Mittel, mag dahinstehen.
In Anbetracht aller Umstände vermag der Senat jedenfalls trotz der hohen
Straferwartung keine konkrete Fluchtgefahr zu erkennen. Diese läßt sich auch nicht
daraus herleiten, daß der Angeklagte, nachdem sich die Strafkammer angeblich, so die
Beschwerdebegründung, nicht an die mit allen Beteiligten getroffene Absprache,
wonach eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verhängt werden sollte, gehalten
hatte, nunmehr Revision eingelegt hat. Die Strafkammer hat in ihrem
Nichtabhilfebeschluß die Frage, ob tatsächlich eine derartige Absprache getroffen
worden ist, nicht mit der wünschenswerten Klarheit beantwortet. Geht man von der
Richtigkeit des Beschwerdevorbringens aus, ist es nur schwer nachvollziehbar, daß
sich der Angeklagte, der eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren zu akzeptieren
bereit ist, durch zusätzliche sechs Monate zu dem so schwerwiegenden Schritt der
Flucht mit den negativen Konsequenzen für eine eventuelle spätere bedingte
Entlassung hinreißen lassen könnte.
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Da auch weitere Haftgründe nicht vorliegen - die telefonische Mitteilung der
Staatsanwaltschaft, die neue Lebensgefährtin des Angeklagten habe zwei Kinder, einen
minderjährigen Jungen und ein minderjähriges Mädchen, kann jedenfalls derzeit nicht
als "bestimmte Tatsachen" i.S.d. § 112 a Abs. 1 StPO angesehen werden, die geeignet
sind, den Haftgrund der Wiederholungsgefahr zu begründen - war der Haftbefehl mit der
Kosten- und Auslagenfolge entsprechend §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 und 4 StPO
aufzuheben.
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