Urteil des OLG Hamm vom 02.06.2008
OLG Hamm: einstellung des verfahrens, rechtskraft, rechtskräftiges urteil, vollstreckung, erlass, einspruch, strafbefehl, form, geldstrafe, verschlechterungsverbot
Oberlandesgericht Hamm, 2 Ss 190/08
Datum:
02.06.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ss 190/08
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 4 Ns 2 Js 341/07
Tenor:
Der angefochtene Beschluss des Landgerichts Bochum vom 03. April
2008 sowie das Urteil des Landgerichts Bochum vom 21. Februar 2008
werden aufgehoben.
Das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 18. Dezember 2007 ist
rechtskräftig.
G r ü n d e :
1
I.
2
Der Angeklagte ist durch Strafbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 23. Oktober 2007
wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Geldstrafe in Höhe von 30
Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt worden. Seinen hiergegen fristgerecht ein-gelegten
Einspruch hat das Amtsgericht Bochum durch Urteil vom 18. Dezember 2007 verworfen,
nachdem der Angeklagte zu dem Hauptverhandlungstermin unentschuldigt nicht
erschienen war. Gegen dieses Urteil, das ihm am 29. Dezember 2007 zustellt worden
ist, hat er mit Schreiben vom 09. Januar 2008, beim Amtsgericht Bochum eingegangen
am 11. Januar 2008, Berufung eingelegt, die das Landgericht Bochum durch Urteil vom
21. Februar 2008 verworfen hat, nachdem der Angeklagte zur Hauptverhandlung
unentschuldigt nicht erschienen war. Gegen dieses Urteil, das ihm am 01. März 2008
zugestellt worden ist, hat der Angeklagte sodann mit Schreiben vom 03. März 2008,
beim Landgericht Bochum eingegangen am 04. März 2008, Revision eingelegt. Das
Landgericht Bochum hat die Revision durch den angefochtenen Beschluss vom 03.
April 2008 als unzulässig verworfen, da die Revision zwar frist- und formgerecht
eingelegt, nicht aber in der nach § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form bis zum
Ablauf der Revisionsbegründungsfrist begründet worden ist.
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Hiergegen richtet sich das Rechtsmittel des Angeklagten.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie vom Senat erkannt worden ist.
5
II.
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Der innerhalb der Wochenfrist des § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO gestellte Antrag des
Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts ist zulässig und führt zur
Aufhebung sowohl des Berufungsurteils des Landgerichts Bochum vom
21. Februar 2008 als auch des angefochtenen Beschlusses des Landgerichts Bochum
vom 03. April 2008.
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1.
8
Das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 18. Dezember 2007 ist in Rechtskraft
erwachsen, da der Angeklagte verspätet Berufung eingelegt hat.
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Das Urteil ist dem Angeklagten am 29. Dezember 2007 zugestellt worden, so dass die
einwöchige Frist zur Einlegung der Berufung am 07. Januar 2008 ablief. Der Angeklagte
hat aber erst am 11. Januar 2008 und damit verspätet Berufung eingelegt.
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Die Rechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils hat aber zur Folge, dass das Urteil des
Landgerichts Bochum entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft
aufzuheben war. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 07. Mai
2008 zutreffend ausgeführt hat, kann in einem Verfahren nur eine Entscheidung
ergehen, da nach § 449 StPO unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen
Verbotes der Doppelbestrafung nach Art. 103 Abs. 3 GG nur ein
Vollstreckung sein kann. Der Verurteilte ist hierdurch auch nicht beschwert, da das
amtsgerichtliche Urteil bereits in Rechtskraft erwachsen war und die von ihm verspätet
eingelegte Berufung daher in Leere ging.
11
2.
12
Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts hat letztlich zur Folge, dass sowohl
das Berufungsurteils des Landgerichts Bochum vom 21. Februar 2008 als auch der
angefochtene Beschlusses des Landgerichts Bochum vom 03. April 2008 aufzuheben
waren.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 07. Mai 2008 u.a.
Folgendes ausgeführt:
14
"2. ...
15
"a)
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Der Verurteilte hat gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 21.02.2008
zwar rechtzeitig Revision eingelegt. Er hat diese jedoch nicht entsprechend den
Formerfordernissen des § 345 Abs. 2 StPO begründet, da die Begründung weder
durch eine von einem Rechtsanwalt unterzeichnete Schrift, noch zu Protokoll der
Geschäftsstelle erfolgt ist. Grundsätzlich ist damit nach § 346 Abs. 1 StPO die
revisionsrechtliche Überprüfung des Urteils verwehrt.
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Das Gericht hat jedoch in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob ein
Verfahrenshindernis besteht. Hierzu gehört auch die von Amts wegen – auch ohne
entsprechende Rüge – von dem Revisionsgericht vorzunehmende Prüfung, ob
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gegen das erstinstanzliche Urteil wirksam das Rechtsmittel der Berufung eingelegt
wurde. Sofern in einem Verfahren in einer niedrigeren Instanz – wie in dem
vorliegenden Verfahren – ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, haben die
nachfolgenden Instanzen von einem von Amts wegen zu beachtenden
Prozesshindernis auszugehen (BayObLG, NStZ 1994, 48 f.; Meyer-Goßner, StPO;
50. Auflage; Einl., Rdnr. 145 a.E.). Bei den Prozesshindernissen sind
"Befassungsverbote" und "Bestrafungsverbote" zu unterscheiden.
Befassungsverbote sind solche Hindernisse, die es einem Gericht verbieten, sich
überhaupt sachlich mit dem Vorwurf zu befassen (wie z.B. das Fehlen einer
wirksamen Anklage oder eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses u.a.).
Bestrafungsverbote hingegen stehen einer Befassung mit der Sache nicht
entgegen, sondern verhindern, dass ein Angeklagter
bestraft
z.B. ein fehlender Sachantrag, Verjährung, Verhandlungsunfähigkeit u.a.. Die
entgegenstehende Rechtskraft ist ein Befassungsverbot, d.h. das Gericht darf sich
sachlich mit dem Vorwurf
nicht
ein Prozesshindernis vor, wird nach überwiegender Rechtsauffassung bei einer
nicht wirksamen oder fehlenden Revision differenziert. Ist das Prozesshindernis
nach
berücksichtigt, wenn die Revision nicht, verspätet oder nicht in der erforderlichen
Form begründet wurde (Meyer-Goßner, a.a.O., § 346, Rdnr. 11). Anders verhält es
sich, wenn das Prozess-hindernis
vor
eingetreten ist. Grundsätzlich wird hierzu seit der Entscheidung des
Bundesgerichtshofes vom 17.07.1968 (BGHSt 22, 213, 215 ff.) einhellig die
Auffassung vertreten (Meyer-Goßner, a.a.O.), dass Verfahrensmängel, die
vor
Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten sind, nicht mehr angreifbar sind.
Danach wäre der Antrag des Verurteilten auf Entscheidung des Revisions-gerichts
vom 17.03.2008 (Bl. 72 d.A.) grundsätzlich gemäß § 346 Abs. 2 StPO als
unbegründet zu verwerfen. Diese Auffassung erscheint gut vertretbar, bei den
"herkömmlich" auftretenden Verfahrenshindernissen, die dazu führen, dass ein
Urteil, das "so" wie es ergangen ist, "eigentlich" nicht hätte ergehen dürfen, aber
dennoch als wirksam angesehen werden soll. Sämtliche bei dieser Auffassung
berücksichtigten Verfahrenshindernisse sind zwar zum Teil recht gravierend
(Mängel der Anklage, zwischenzeitlich eingetretene Verjährung u.a.), sind jedoch
im Ausmaß nicht derart schwerwiegend, dass der Bestand eines Urteils insgesamt
in Zweifel gezogen werden muss.
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Anders verhält es sich bei der vorliegenden Konstellation, bei der ein bereits in
Rechtskraft erwachsenes Urteil des Amtsgerichts Gegenstand eines
Berufungsverfahrens war. Wie die Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte
zeigt, hat eine solche Konstellation kaum praktische Bedeutung. Grundlegende
Entscheidungen zu der Frage der Behandlung von Verfahrens-hindernissen im
Zusammenhang mit der Rechtskraft von Entscheidungen sind in den letzten
Jahrzehnten nur vereinzelt ergangen und veröffentlicht worden und stammen
überwiegend aus den 50er bis zu den 90er Jahren. Sie befassen sich ganz
überwiegend mit sonstigen Prozesshindernissen und nicht mit der Wirksamkeit
eines nach Rechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils ergangenen Berufungsurteils
(BGHSt 22, 213, 214 ff., m.w.N.; BayObLG, NStZ 1994, 48, wie hier auch: Löwe-
Rosenberg-Rieß, StPO, 25. Aufl., Eil., Rdnr. 130, insbesondere in der Fn. 411).
Könnte ein nach der Rechtskraft der ersten Entscheidung im Rahmen eines
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unwirksam durchgeführten Rechts-mittelverfahrens ergangenes weiteres Urteil in
demselben Verfahren ebenfalls Rechtskraft erlangen, würde dies zu der paradoxen
Situation führen, dass in demselben Verfahren zwei Entscheidungen vorliegen
würden. Wenn diese Entscheidungen – was nach Abschluss eines
Rechtsmittelverfahrens – durchaus möglich erscheint, einen unterschiedlichen
Schuldspruch und/oder Rechtsfolgenausspruch hätten, würde sich die Frage
stellen, welches dieser Urteile überhaupt vollstreckbar wäre. Im Zweifel wäre eine
Vollstreckung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, da der Vollstreckung jedes
Urteils die Rechtskraft des jeweils anderen Urteils entgegenstünde. Gleiches hat
zu gelten, wenn – wie vorliegend – das Rechtsmittel des Angeklagten verworfen
und damit das Urteil des Amtsgerichts durch das Berufungsurteil bestätigt werden
würde, da nur
ein
Auch kommt eine Einstellung des Verfahrens nach § 206a StPO wegen des
Verfahrenshindernisses der Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidung nicht in
Betracht.
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Nach § 206a StPO ist ein Verfahren zwar dann einzustellen, wenn ein
Verfahrenshindernis besteht. Diese Vorschrift kommt aber nur dann zur
Anwendung, wenn das Verfahren im Hinblick auf einen Tatvorwurf ganz oder
teilweise wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen ist, d.h. wenn das
Verfahren in diesem Umfang
insgesamt
a.a.O., § 206a, Rdnr. 3 f.). Vorliegend geht es aber nicht darum, das Verfahren
insgesamt durch eine Einstellung zu beenden, da bereits eine rechtskräftige
Verurteilung vorliegt, die auch vollstreckt werden muss, sondern darum, wie in der
Revisionsinstanz mit dem zu Unrecht ergangenen Urteil des Berufungsgerichts,
d.h. mit der ins Leere laufenden Annexentscheidung zu der bereits rechtskräftigen
Entscheidung in diesem Verfahren zu verfahren ist. Eine Einstellung des
Verfahrens nach § 206 a StPO kommt daher nicht in Betracht.
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b)
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Der Anschein einer wirksamen Entscheidung des Landgerichts in vorliegender
Sache ist zu beseitigen. Zu Recht wird daher die Auffassung vertreten, dass das
Revisionsgericht das Berufungsurteil wegen der verspäteten Berufung aufzuheben
und die Berufung als unzulässig zu verwerfen hat, wenn die Rechtskraft des
erstinstanzlichen Urteils übersehen wurde (OLG München, NJW 2008, 1331, 1332,
mit Nam. Meyer-Goßner, 1332; Löwe-Rosenberg-Hanack, a.a.O., § 337, Rdnr. 53).
Dabei ist – zur Klarstellung – auch festzustellen, dass das erstinstanzliche Urteil
rechtskräftig ist (OLG Hamm, VRS 43, 112, 113; OLG München, NJW 2008, 1331,
1332, mit Anm. Meyer-Goßner, 1332; Löwe-Rosenberg-Hanack, a.a.O.).
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Es erscheint nach alledem geboten, das Urteil des Landgerichts Bochum vom
21.02.2008 und den die Revision des Verurteilten als unzulässig verwerfen-den
Beschluss des Landgerichts Bochum vom 03.04.2008 aufzuheben. Jedenfalls bei
einem derart schwerwiegenden Verstoß (trotz entgegen-
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stehender Rechtskraft getroffene Entscheidung) ist von dem Grundsatz, dass
Verfahrenshindernisse, die
vor
sind, durch das Revisionsgericht nicht zu berücksichtigen sind, abzuweichen, um
Rechtsklarheit zu schaffen."
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Rechtsklarheit zu schaffen."
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an und macht sie zum
Gegenstand seiner Entscheidung.
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Die vorliegende Entscheidung unterscheidet sich von dem Fall, über den das OLG
München (abgedruckt in NJW 2008, 1331 ff.; vgl. hierzu auch die Anmerkung von
Meyer-Goßner im Anschluss, der sich kritisch mit dieser Entscheidung auseinander-
setzt und die Rechtskraft als vorrangig gegenüber dem Verschlechterungsverbot
bewertet) zu befinden hatte. In jenem Fall hatte das Amtsgericht auf einen verspätet
eingelegten Einspruch gegen einen Strafbefehl versehentlich die Hauptverhandlung
durchgeführt und durch Urteil auf eine mildere Strafe erkannt als diejenige, die mit dem
Strafbefehl verhängt worden war. Auf die Revision des Angeklagten hatte das OLG
München das angefochtenen Urteil aufgehoben und den Einspruch unter Beachtung
des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 2 StPO) als unzulässig verworfen. Es
verbleibt bei der durch Urteil des Amtsgerichts verhängten niedrigeren Geldstrafe.
Begründet hat das OLG München seine Entscheidung damit, dass die §§ 331, 358 Abs.
2 StPO den Angeklagten bei der Überlegung, ob er ein Rechtsmittel einlegen soll, von
der Befürchtung befreien sollen, er könne vielleicht im nächsten Rechtszug schwerer
bestraft werden. Den vorgenannten Vorschriften liege aber auch der allgemeine
Rechtsgedanke zugrunde, dass ein Urteil auf ein Rechtsmittel hin im Strafausspruch nur
zu Gunsten des Beschwerdeführers geändert werden dürfe.
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Im vorliegenden Fall kommt jedoch das Verschlechterungsverbot nicht zum Tragen, da
die im vorliegenden Fall ergangenen Entscheidungen identische Rechtsfolgen
aussprechen.
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III.
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Eine Kostenentscheidung ergeht bei einer Entscheidung des Senats nach § 346 Abs. 2
StPO nicht, da das KVGKG dafür keine Gebühr vorsieht und Auslagen nicht entstehen.
Der Senat gibt jedoch zu bedenken, dass angesichts des Umstandes, dass die
Durchführung des Berufungsverfahrens auf einer fehlerhaften Sachbehand-lung durch
die Justiz beruhte, der Angeklagte mit diesen Kosten nicht belastet werden sollte.
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