Urteil des OLG Hamm vom 15.12.1999

OLG Hamm: gemeinsames ziel, schmerzensgeld, unternehmen, betriebsstätte, unfallversicherung, firma, unfallfolgen, zusammenwirken, haftungsbeschränkung, gefahr

Oberlandesgericht Hamm, 13 U 116/99
Datum:
15.12.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 U 116/99
Vorinstanz:
Landgericht Münster, 4 O 562/98
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung des
Rechtsmittels im übrigen - das am 19. März 1999 ver-kündete Urteil der
4. Zivilkammer des Landgerichts Münster teilweise abgeändert.
Die Beklagten bleiben verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger ein
Schmerzensgeld von 33.190,20 DM nebst 4 % Zinsen aus 10.000,00
DM seit dem 24.07.1998 sowie aus weiteren 23.190,20 DM seit dem
04.02.1999 zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuld-ner verpflichtet
sind, dem Kläger alle zukünftigen im-materiellen Schäden aus dem
Unfall vom 27.03.1998 in A zu ersetzen.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des ersten Rechtszuges tragen die Beklagten. Von den
Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 20 % und die
Beklagten 80 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Parteien bleibt nachgelassen, jede Zwangsvollstreckung der
jeweils anderen Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des
jeweils beizutreibenden Betrages abzu-wenden, sofern nicht die jeweils
andere Partei zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Parteien können Sicherheit auch durch die unbedingte, unbefristete,
selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank, öffentlichen
Sparkasse oder Genossen-schaftsbank leisten.
Das Urteil beschwert die Beklagten in Höhe von 38.190,20 DM und den
Kläger um 10.000,00 DM.
Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der 49jährige Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld sowie auf
Feststellung der weiteren Ersatzpflicht für immaterielle Schäden aufgrund eines Unfalls
vom 27.03.1998 in A in Anspruch.
2
An diesem Tage befand sich der Kläger im Auftrag seines Arbeitgebers, der Firma E, mit
einem Lkw auf dem Betriebshof der Firma J in A, um dort Gasflaschen anzuliefern.
Während der Kläger hinter seinem Lkw stand und diesen entlud, kam ein Lkw der
Beklagten zu 2), geführt von dem Beklagten zu 1), ebenfalls auf das Firmengelände, um
im Auftrag der Beklagten zu 2) Waren anzuliefern oder abzuholen. Aus streitiger
Ursache kam es dazu, daß der Lkw der Beklagten zu 2) auf das stehende Fahrzeug des
Klägers auffuhr und der Kläger zwischen beiden Fahrzeugen eingeklemmt wurde.
3
Bei diesem Unfall erlitt der Kläger schwere Beckenverletzungen in Form einer
doppelten vorderen und hinteren Beckenringfraktur mit Acetabulumfraktur. Wegen der
Einzelheiten hinsichtlich der durchgeführten Behandlungen und Operationen wird auf
die ärztlichen Berichte vom 16.04.1998 (Bl. 9 ff. d.A.), 12.06.1998 (Bl. 117 ff. d.A.),
02.09.1998 (Bl. 11 ff. d.A.), 23.10.1998 (Bl. 113 ff. d.A.), 06.11.1998 (Bl. 13 ff. d.A.) und
vom 11.12.1999 (Bl. 134 d.A.) Bezug genommen.
4
Das Versorgungsamt M hat dem Kläger einen Grad der Behinderung von 30 % sowie
eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit durch diese Behinderung
bescheinigt (Bl. 112 d.A.). Im November 1999 ist dem Kläger eine bei der Operation
eingesetzte Metallplatte entfernt worden. Die Großhandels- und
Lagereiberufsgenossenschaft hat den Unfall als Arbeitsunfall anerkannt.
5
Die Beklagte zu 3), bei der der unfallbeteiligte Lkw der Beklagten zu 2)
haftpflichtversichert ist, hat bislang insgesamt 7.500,00 DM ohne Zahlungsbestimmung
an den Kläger gezahlt. Der Kläger hat hiervon 690,20 DM auf seinen unstreitigen
Sachschaden und den Rest auf das von ihm beanspruchte Schmerzensgeld
angerechnet.
6
Der Kläger hat behauptet, es sei zum Unfall gekommen, als der Beklagte zu 1)
versehentlich mit dem Fuß vom Kupplungspedal abgerutscht sei. Der Beklagte zu 1) sei
bei der Beklagten zu 2) als Kraftfahrer angestellt gewesen. Er hat ein Schmerzensgeld
nicht unter 40.000,00 DM für angemessen gehalten.
7
Der Kläger hat beantragt,
8
1.
9
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes
10
weiteres Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 28.03.1998 zu zahlen;
2.
11
festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm alle
weiteren immateriellen Schäden ab Klageerhebung aus dem Unfall vom
27.03.1998 in A zu ersetzen.
12
Die Beklagten haben beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Sie haben behauptet, der Beklagte zu 1) sei selbständiger Kraftfahrer und habe nur für
insgesamt eine Woche Fahrten für die Beklagte zu 2) übernommen. Darüber hinaus
sind die Beklagten der Auffassung, zu ihren Gunsten greife der Haftungsausschluß
gemäß § 106 Abs. 3 3. Alt. i.V.m. §§ 104, 105 SGB VII ein.
15
Das Landgericht hat die Beklagten unter Berücksichtigung des gezahlten Betrages zur
Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 43.190,20 DM verurteilt sowie die
begehrte Feststellung mit der Maßgabe ausgesprochen, daß die Beklagten als
Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger alle weiteren immateriellen Schäden aus
dem Unfall zu ersetzen. Es hat eine Haftungsfreistellung gemäß § 106 Abs. 3 SGB VII
verneint und ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 DM als angemessen erachtet.
16
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie weiterhin
Klageabweisung begehren und ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholen und
vertiefen:
17
Sie bestreiten, daß sich der Unfall ereignet habe, weil der Beklagte zu 1) mit seinem
Fuß vom Kupplungspedal abgerutscht sei. Unter näherer Darlegung ihres
Rechtsstandpunktes sind sie weiterhin der Auffassung, daß die Haftungsbefreiung des §
106 Abs. 3 SGB VII eingreife. Überdies sei "fraglich", ob der Beklagte zu 1) als
Verrichtungsgehilfe der Beklagten zu 2) angesehen werden könne. Des weiteren sei in
diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß im Innenverhältnis zwischen dem
Beklagten zu 1) und der Beklagten zu 2) nur der Beklagte zu 1) hafte. Diese
Privilegierung könne die Beklagte zu 2) auch dem Kläger entgegenhalten. Das
zugesprochene Schmerzensgeld sei im Hinblick auf die Unfallfolgen zu hoch.
18
Die Beklagten beantragen,
19
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
20
Der Kläger beantragt,
21
die Berufung zurückzuweisen.
22
Unter Wiederholung des erstinstanzlich geschilderten Hergangs des Unfalls verteidigt er
das angefochtene Urteil wie folgt:
23
Die Haftungsfreistellung des § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII greife nicht ein. Das Merkmal
einer "gemeinsamen Betriebsstätte" liege nicht vor. Der Beklagte zu 1) sei auch als
24
Verrichtungsgehilfe der Beklagten zu 2) tätig geworden, da er den Lkw der Beklagten zu
2) gefahren habe. Das zuerkannte Schmerzensgeld sei angemessen. Insbesondere
könne er seine Arbeit nur unter Schmerzen, welche die Einnahme von Schmerzmitteln
erforderlich machen würden, verrichten. Er könne nicht wie früher dem Tauch- und
Reitsport nachgehen. Im linken Bein habe sich ein permanentes Taubheitsgefühl
eingestellt. In Zukunft müsse mit der Implantierung eines neuen Hüftgelenks gerechnet
werden. Der Feststellungsantrag sei zulässig und begründet, da der Eintritt nicht
erkennbarer und voraussehbarer Leistungen nicht fernliegend sei.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
25
Der Senat hat den Kläger und den Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der
Beklagten zu 2) persönlich angehört. Wegen der Einzelheiten der Parteianhörung wird
auf den Berichterstattervermerk Bezug genommen.
26
Entscheidungsgründe:
27
Die zulässige Berufung hat zum Teil Erfolg.
28
Zwar steht dem Kläger der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch dem Grunde
nach zu (I.) Die Schmerzensgeldklage ist jedoch nur in Höhe von 33.190,20 DM
begründet (II.). Der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet (III.).
29
I.
30
Dem Kläger steht dem Grunde nach ein Schmerzensgeldanspruch sowohl gegenüber
dem Beklagten zu 1) (§§ 823 Abs. 1 und Abs. 2, 847 BGB) als auch gegenüber der
Beklagten zu 2) (§§ 831, 847 BGB) zu; der Anspruch gegenüber der Beklagten zu 3)
folgt aus § 3 Nr. 1 PflVG (1.). Die Haftung der Beklagten ist nicht gemäß §§ 104 ff. SGB
VII ausgeschlossen (2.).
31
1.
32
a)
33
Der Beklagte zu 1) hat schuldhaft und rechtswidrig den Körper des Klägers verletzt.
Durch sein Verhalten hat der von ihm geführte Lkw den Kläger eingequetscht. Dies
führte zu schwerwiegenden Verletzungen beim Kläger (doppelte Beckenringfraktur).
34
Die Beklagten haben erstmals in der Berufungsinstanz den Vortrag des Klägers, der
Beklagte zu 1) sei vom Kupplungspedal abgerutscht, pauschal bestritten. Dieses
Bestreiten ist jedoch nicht erheblich. Der Beweis des ersten Anscheins spricht für eine
schuldhafte Verursachung des Unfalls durch den Beklagten zu 1). Dieser befand sich im
Führerhaus des Lkw. Er übte demnach die Gewalt über den Lkw aus, als sich der Unfall
ereignete. Wenn es unter diesen Umständen zu einem Unfall wie dem vorliegenden
kommt, ist davon auszugehen, daß es zu einer Fehlbedienung der Steuerungselemente
des Lkw gekommen ist (wie vom Kläger behauptet). Für einen hiervon abweichenden
Geschehensablauf und/oder Ursachenzusammenhang sind die Beklagten darlegungs-
und beweisbelastet. Diesen Erfordernissen haben sie durch das einfache Bestreiten des
von dem Kläger behaupteten Unfallherganges nicht genügt.
35
b)
36
Die Haftung der Beklagten zu 2) folgt aus §§ 831, 847 BGB. Nach Auffassung des
Senats ist nicht zweifelhaft, daß der Beklagte zu 1) als Verrichtungsgehilfe der
Beklagten zu 2) den Kläger bei Ausführung der Verrichtung verletzt hat. Daß der
Beklagte zu 1) bei der Benutzung des Lkw der Beklagten zu 2) deren Weisungen zu
befolgen hatte, liegt auf der Hand. Insoweit kommt es auf die nähere Ausgestaltung der
vertraglichen Beziehungen zwischen dem Beklagten zu 1) und der Beklagten zu 2) nicht
an (vgl. dazu OLG Frankfurt NJW-RR 1989, 794). Daher ist es nicht von Belang, daß der
Beklagte zu 1) lediglich für die Dauer von einer Woche bei der Beklagten zu 2)
beschäftigt war (und offensichtlich als "selbständiger Unternehmer" abgerechnet hat). Im
übrigen ist dem "Bewerbungsschreiben" (Bl. 41 d.A.) zu entnehmen, daß die
Zusammenarbeit länger dauern sollte, jedoch wegen des Unfalls vom 27.03.1998
bereits am gleichen Tage beendet wurde. Die Beklagte zu 2) hat sich für das aus § 831
BGB folgende vermutete Verschulden nicht entlastet.
37
c)
38
Gemäß § 3 Nr. 1 und Nr. 2 PflVG haftet die Beklagte zu 3) als Gesamtschuldnerin mit
den Beklagten zu 1) und zu 2).
39
2.
40
Die Haftung der Beklagten ist nicht gemäß der - vorliegend einzig in Betracht
kommenden - Vorschrift des
§ 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII
vom 27.03.1998 ereignete sich nicht aus Anlaß "einer vorübergehenden betrieblichen
Tätigkeit
auf einer gemeinsamen Betriebsstätte
Das Tatbestandsmerkmal der "gemeinsame Betriebsstätte" ist nach Auffassung des
Senats eng auszulegen. Es kann nur bejaht werden, wenn die beteiligten Unternehmen
bzw. Arbeitnehmer ein gemeinsames Ziel im weiteren Sinne verfolgen. Es ist zu
verneinen, wenn die beteiligten Unternehmen/Beschäftigte lediglich parallele
Tätigkeiten ausführen und es dabei (zufällig) zu einer Schädigung kommt. Der Senat
geht dabei von folgenden Erwägungen aus:
41
a)
42
Die Vorschriften der §§ 104 bis 113 SGB VII sind durch das
Unfallversicherungseinordnungsgesetz (UVEG) vom 07.08.1996 (BGBl. I 1254), mit
welchem das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung in das SGB eingeordnet
wurde, eingeführt worden und ersetzen die früheren §§ 636 bis 642 RVO (3. Buch).
Durch diese Neuordnung haben die in Rechtsprechung und Lehre gewonnenen
Auslegungserkenntnisse Eingang in das Gesetz gefunden. Daneben sind gewisse
Erweiterungen und Präzisierungen der Haftungsfreistellungstatbestände vorgenommen
worden. Auch im Aufbau und in einzelnen Formulierungen weicht das neue Recht von
den Vorschriften der RVO ab (vgl. dazu Waltermann NJW 1997, 3401; derselbe in
Wannagat, SGB VII zu § 104 Rdnr. 4).
43
Insbesondere ist die Vorschrift des § 106 Abs. 3 SGB VII in das Gesetz aufgenommen
worden. Über die bereits nach altem Recht (§ 637 Abs. 3 RVO) geltende
Haftungsfreistellung beim Zusammenwirken von Unternehmen bei Unglücksfällen oder
44
von Unternehmen des Zivilschutzes, welche in § 106 Abs. 3 1. und 2. Alt. SGB VII
geregelt ist, ordnet § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII die Haftungsfreistellung jetzt auch an,
wenn Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf
einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichten. Demnach bedarf es nicht mehr einer
besonderen rechtlichen Beziehung (z.B. Arbeitnehmerüberlassung oder ARGE)
zwischen den beteiligten Unternehmen. Es genügt jetzt eine vorübergehende
betriebliche Tätigkeit auf einer
gemeinsamen Betriebsstätte
b)
45
Zwischenzeitlich hat sich in Rechtsprechung und Literatur eine Diskussion entwickelt,
bei welcher es im wesentlichen um die Frage geht, wann das Tatbestandsmerkmal
"gemeinsame Betriebsstätte"
entscheidend um die Frage, ob das Merkmal einer "gemeinsamen Betriebsstätte"
bereits dann vorliegt, wenn Versicherte mehrerer Unternehmen unabhängig
voneinander, aber im Risikobereich des jeweils anderen (betriebliche) Arbeiten
verrichten (
sog. parallele Tätigkeiten
eines der Unternehmen kommt. Dieses wird zum Teil verneint und angenommen, daß
erst dann von einer gemeinsamen Betriebsstätte gesprochen werden könne, wenn die
Beschäftigten ein
gemeinsames Ziel
gewisse Verbindung der Arbeiten miteinander besteht.
46
Die Beantwortung dieser Frage ist von entscheidender praktischer (und finanzieller)
Bedeutung. Bei einer extensiven Auslegung besteht die Gefahr einer nahezu nicht mehr
zu überblickenden Anzahl von "privilegierten" Unfällen z.B. bei Unfällen auf
Großbaustellen, ohne daß die Unternehmen in einer ARGE zusammengeschlossen
wären. Auch käme es zu einer Haftungsverlagerung von den Haftpflichtversicherern der
beteiligten Schädiger auf den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Es würde
kein Forderungsübergang mehr stattfinden, so daß die Allgemeinheit mit erheblichen
zusätzlichen Kosten belastet würde.
47
Die Rechtsprechung der Obergerichte zu diesem Problemkreis ist uneinheitlich (vgl.
dazu OLG Braunschweig, r+s 1999, 459; OLG Karlsruhe, r+s 1999, 375 mit Anmerkung
Lemcke; OLG Saarbrücken, r+s 1999, 374; OLG Karlsruhe, r+s 1999, 373; OLG Hamm
r+s 1999, 463 und OLG Hamm r+s 1999, 200). Eine Entscheidung des
Bundesgerichtshofes steht (noch) aus. Auch in der Literatur wird die Frage kontrovers
diskutiert (vgl. dazu Waltermann NJW 1997, 3041; derselbe in Wannagat SGB VII zu §
106, Rdnr. 5; Jahnke r+s 1999, 353 ff.; Lemcke ZAP, Fach 2, 199, 209 ff.; Baethge, NZA
1999, 73; Krieger/Arnau, VersR 1997, 408; Ricke in Kasseler Kommentar zum SGB, zu
§ 106, Rdnr. 5; Steinfels, BG 1997, 378; Marschmann SGB 1998, 59; Dahm ZfS 1998,
289; Otto NZV 1996, 473).
48
c)
49
Unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik, des Wortlauts und des Zweckes des
Gesetzes sowie der Entstehungsgeschichte ist der Senat der Auffassung, daß eine
einschränkende Auslegung der Vorschrift des § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII im Sinne der
einleitenden Ausführungen geboten erscheint. Hierfür sprechen folgende Umstände:
50
aa)
51
Die Aufnahme der Regelung im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang in einem
Absatz mit den anderen Regelungen des § 106 Abs. 3 SGB VII läßt auch auf einen im
wesentlichen gleichgelagerten inhaltlichen Regelungszusammenhang schließen. Die
anderen Alternativen der Vorschrift (die die Regelungen des § 636 Abs. 1 und Abs. 2
RVO abgelöst haben), setzen aber bereits vom Wortlaut her eine enge Bindung im
Sinne einer Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Normadressaten voraus. Dies
folgt aus dem Wortlaut des Gesetzes, wo es u.a. heißt:
52
"wirken ... zusammen" (vgl. dazu auch OLG Braunschweig a.a.O., S. 463; Lemcke r+s
1999, 575; Baethge a.a.O., S. 74).
53
bb)
54
Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber dieser Norm die
Bedeutung zukommen lassen wollte, die vom Wortlaut her in Betracht kommen könnte.
Aus der Begründung zum Gesetzesentwurf geht hervor, daß die hier relevanten
Regelungen "kostenneutral sein dürften" (vgl. BT-Drucksache 13/2204 S. 2). Eine
ausufernde Ausweitung der Haftungsbeschränkung in einer Vielzahl von Fällen, die
nach dem früheren Recht nicht dem Gesetz unterfielen, führt aber ohne weiteres zu
einer Ausweitung der Kosten in der gesetzlichen Unfallversicherung. Wie bereits
ausgeführt, findet im Falle der Haftungsbeschränkung ein Rückgriff im Wege des
gesetzlichen Forderungsüberganges gemäß §§ 116 SGB X, 6 EFZG gegenüber dem
Haftpflichtversicherer des Schädigers nicht statt. Die Berufsgenossenschaft hat dann die
sich aus dem Unfall ergebenden finanziellen Unfallfolgen allein zu tragen und wird die
erhöhten Kosten auf die Solidargemeinschaft der Versicherten abwälzen (vgl. hierzu
OLG Braunschweig a.a.O., 460; Lemcke r+s 1999, 376). Danach dürfte die im
Gesetzesentwurf vorausgesetzte Kostenneutralität nicht einzuhalten sein.
55
Bedenken gegen einen solch weitgehenden Anwendungsbereich sind auch deshalb
angebracht, weil der Gesetzgeber mit keinem Wort in den Gesetzmaterialien darauf
eingeht, sondern sich vielmehr darauf beschränkt, den Wortlaut des Gesetzes zu
wiederholen (BT-Drucksache a.a.O., S. 100). Auch die (versteckte) Stellung der Norm
als
dritte
einen so weitgehenden Regelungsbereich (vgl. hierzu auch Otto a.a.O., 473).
56
cc)
57
Auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten ist eine einschränkende Auslegung
geboten. Insoweit hat sich das Bundesverfassungsgericht bereits kritisch zur alten
Regelung der §§ 636, 637 RVO geäußert (vgl. NJW 1973, 502). Auch in einer neueren
Entscheidung (NJW 1995, 1607) werden gewisse Bedenken an der
Verfassungsmäßigkeit der vorgenannten Vorschriften geäußert. Hierzu sah sich das
Bundesverfassungsgericht offensichtlich deshalb veranlaßt, weil
Haftungsbeschränkungen als Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind (vgl. OLG
Braunschweig, a.a.O., Seite 459 m.w.N.).
58
In diesem Zusammenhang ist weiterhin zu berücksichtigen, daß der Geschädigte für
den Ausschluß seiner Ansprüche gegen den Schädiger im Gegenzug eine
Kompensation durch die Berufsgenossenschaft
nicht
Berufsgenossenschaft haftet in jedem Fall (also auch, wenn der Unfall grob fahrlässig
59
herbeigeführt wurde und der Haftungsausschluß nicht greift) aufgrund des Umstandes,
daß ein Arbeitsunfall vorliegt und der Geschädigte für seinen Stammbetrieb tätig
geworden ist. Demgemäß geht es nicht um Haftungsersetzung oder
Haftungsverlagerung, sondern allein um einen Haftungsausschluß (wie Lemcke, r+s
1999, 202 zutreffend hervorhebt).
dd)
60
Es sprechen auch keine übergeordneten gesetzlichen (ggf. verfassungsrechtlichen)
Motive gegen eine einschränkende Auslegung der Norm. Es werden keine tragenden
Grundsätze des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung verletzt, wenn man eine
Haftungsfreistellung bei lediglich parallelen Vorgängen zwischen Mitarbeitern
verschiedener, in keiner Weise miteinander verbundenen Unternehmen verneint.
61
Das
Friedensargument
liegt und verhindern soll, daß es anläßlich eines Arbeitsunfalles und der damit
grundsätzlich möglichen Inanspruchnahme des Schädigers durch den im selben (oder
in einem verbundenen) Betrieb Geschädigten zu Störungen bei den betrieblichen
Abläufen kommt, greift hier nicht Platz. Im Falle der Vornahme lediglich paralleler
Tätigkeiten werden sich Schädiger und Geschädigter aller Voraussicht nach nie wieder
begegnen (zum Friedensargument vgl. Waltermann in Wannagat SGB VII, zu § 104,
Rdnr. 5 ff.; Lemcke, r+s 1999, 376; OLG Braunschweig, a.a.O., 460; Ricke in Kasseler
Kommentar zu § 104 Rdnr. 2; Baethge, a.a.O., 74).
62
Gleiches gilt, soweit der
Finanzierungsaspekt
sich der Unternehmer seine Freistellung dadurch, daß er für die Beschäftigten seines
Unternehmens Beiträge an die Berufsgenossenschaft leistet. Dies rechtfertigt den
Ausschluß einer (doppelten) Inanspruchnahme. Dieses Argument verfängt jedoch nicht,
wenn es sich bei dem Geschädigten um einen Beschäftigten handelt, der weder zu
seinem Betrieb gehört, noch in seinem Betrieb eingegliedert ist oder irgendeine nähere
Verbindung zu seinem Betrieb aufweist, sondern lediglich gerade zufällig am Ort des
Geschehens anwesend war.
63
ee)
64
Es trifft auch nicht zu, daß die vom Gesetzgeber mit der Einführung des § 106 Abs. 3 3.
Alt. SGB VII offensichtlich gewollte Erweiterung der Haftungsfreistellungstatbestände
leerlaufen würde, falls man die Norm einschränkend auslegt. Dies bereits deshalb, weil
durch die einschränkende Auslegung keine Festlegung dahingehend erfolgt, wann
(positiv) die Haftungsfreistellung zu bejahen ist, sondern nur in welchen Fällen sie
(negativ) auf jeden Fall zu verneinen ist, nämlich dann, wenn keinerlei innere
Verbindung im Sinne eines gemeinsamen Zieles oder Zweckes besteht. Auch nach
einer einschränkenden Auslegung unterfallen noch Fälle in den Anwendungsbereich
der Norm, die vom früheren Recht nicht umfaßt waren und auch von den anderen
Normen des neuen Rechts nicht umfaßt sind (z.B. § 105). Insoweit sind Fälle denkbar, in
denen Mitarbeiter von Unternehmen, die unterhalb der Organisationsnorm einer ARGE
zusammengeschlossen sind, sich gegenseitig schädigen. Auch Fälle, in denen
Beschäftigte mehrerer Unternehmen aufgrund einer gemeinsamen Absprache oder
Verständigung, sei es auch nur von kurzer Dauer, betriebliche Vorgänge durchführen,
sind nach Auffassung des Senats unter die Vorschrift zu subsumieren.
65
ff)
66
Schließlich spricht noch der Wortlaut der Vorschrift des § 2 Abs. 1 Nr. 9 ArbGG für die
getroffene Auslegung. Nach dieser Vorschrift sind die Arbeitsgerichte für bürgerliche
Rechtsstreitigkeiten aus gemeinsamer Arbeit und aus unerlaubten Handlungen
zuständig, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen. Dabei
wird jedoch (einschränkend) allgemein vertreten, daß die Zuständigkeit nur begründet
ist, wenn die Schädigung bei einem
Zusammenwirken
hierzu Lemcke a.a.O., 376).
67
d)
68
Da der Kläger und der Beklagte zu 1) auf dem Betriebsgelände der Firma J lediglich
sog. parallele betriebliche Tätigkeiten ausführten, greift die Haftungsfreistellung des §
106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII nicht ein. Zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 1) war
es vor dem Unfall nicht zu einer Verständigung im Sinne einer gemeinsamen
Durchführung betrieblicher Arbeiten gekommen. Der Kläger war im Begriff, Gasflaschen
abzuladen. Der Beklagte zu 1) wollte abwarten, bis der Kläger seine Tätigkeit beendet
hatte, um mit seiner eigenen Arbeit (Ausladen oder Beladen von Kunststofftonnen) zu
beginnen. Innerhalb dieses Zeitraumes kam es (zufällig) zum vorliegenden Unfall.
69
e)
70
Die Haftung der Beklagten zu 2) ist auch nicht nach den Grundsätzen über die gestörte
Gesamtschuld (eventuell sogar auf Null) zu reduzieren. Die Grundsätze über die
gestörte Gesamtschuld sind vorliegend nicht anwendbar. Es fehlt bereits an einer durch
eine Haftungsprivilegierung ausgelöste Freistellung eines der Schuldner gegenüber
dem Gläubiger im Außenverhältnis. Im Außenverhältnis haften dem Kläger sowohl der
Beklagte zu 1) als auch die Beklagte zu 2) in voller Höhe.
71
II.
72
Der Senat hält ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 40.000,00 DM für
angemessen. Unter Berücksichtigung des auf den Schmerzensgeldanspruch durch die
Beklagte zu 3) bereits gezahlten Betrages in Höhe von 6.809,80 DM war dem Kläger
daher noch ein Betrag in Höhe von 33.190,20 DM zuzusprechen.
73
1.
74
Das einem Geschädigten zuzusprechende Schmerzensgeld dient dem Ausgleich seiner
unfallbedingten physischen und psychischen Beeinträchtigungen und soll ihm
Gelegenheit verschaffen, sich Annehmlichkeiten und Erleichterungen anstelle des durch
die Schädigung Entgangenen leisten zu können. Bei der Bemessung des
Schmerzensgeldes sind in erster Linie das Ausmaß einer körperlichen und seelischen
Beeinträchtigung sowie Art, Umfang und Dauer der Beschwerden einschließlich der
Schmerzen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten
Einzelfalles zu berücksichtigen.
75
In Anbetracht der vom Kläger erlittenen körperlichen Verletzungen, der Art und Dauer
der notwendigen stationären und ambulanten Heilbehandlungen, der verbliebenen
Dauerschäden und der dadurch bedingten Schmerzzustände, ist - bei Berücksichtigung
76
von in vergleichbaren Fällen zugesprochenen Beträgen - ein Schmerzensgeld in Höhe
von insgesamt 40.000,00 DM erforderlich, aber auch ausreichend, um den Kläger für die
erlittenen und soweit möglich abzusehenden körperlichen und psychischen
Beeinträchtigungen angemessen zu entschädigen.
2.
77
Dabei hat der Senat berücksichtigt, daß der 49jährige Kläger eine doppelte vordere und
hintere Beckenringfraktur mit Acetabulumfraktur sowie als mittelbare Unfallfolge einen
Leistenbruch im Bereich der Operationsnarbe, der operativ versorgt werden mußte, erlitt.
Bei der Operation des Leistenbruches wurden dem Kläger zwei Leistennerven sowie
ein Lymphknotenpaket entfernt. Er mußte insgesamt etwa 10 Wochen in zwei
Krankenhäusern behandelt werden und dabei drei Operationen über sich ergehen
lassen. Bei der komplizierten fast ganztägigen Beckenoperation, wurde ihm eine
Vierlochplatte eingesetzt. Erst vier Monate nach dem Unfall konnte die Beweglichkeit
der Hüfte und der Beine langsam wieder gesteigert werden. Vorher konnte sich der
Kläger nur mit Gehstützen fortbewegen. Es ist von einer (teilweisen) dauernden
Einbuße der körperlichen Beweglichkeit auszugehen. Fast acht Monate lang war der
Kläger arbeitsunfähig. Zumindest für einen geraumen Zeitraum war der Kläger in
seinem täglichen Leben infolge des Unfalls beeinträchtigt, da das Heben schwerer
Lasten und längeres Gehen ihm nicht zuzumuten waren. Voraussichtlich werden
persistierende Hüftschmerzen und Bewegungseinschränkungen im linken Hüftgelenk
verbleiben. Es besteht die Gefahr, daß sich eine posttraumatische Coxarthrose, welche
immer wieder zu starken Schmerzen führen kann, ausbildet. Weiterhin hat ein
Taubheitsgefühl an der Oberschenkelstreckseite eingesetzt, welches vermutlich von
Dauer sein wird. Schließlich war zu berücksichtigen, daß dem Kläger im November eine
Metallplatte entfernt worden ist. Im Hinblick auf die Schwere der Verletzung ist es nach
Auffassung des Senats ohne weiteres nachvollziehbar, daß die Verrichtung der Arbeit
mit Schmerzen verbunden ist. Gleiches gilt, soweit der Kläger geltend macht, in der
Ausübung früherer Freizeitaktivitäten eingeschränkt zu sein.
78
3. Der Zinsanspruch folgt aus dem Gesichtspunkt des Verzuges (§§ 284 ff., 288 BGB).
79
III.
80
Der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet. Der Kläger hat ein rechtliches
Interesse gemäß § 256 ZPO an der Feststellung der weiteren Ersatzpflicht der
Beklagten bezüglich weiterer immaterieller Schäden.
81
Im Hinblick auf den möglichen Eintritt der Verjährung sind am Bestehen des
erforderlichen Feststellungsinteresses nur maßvolle Anforderungen zu stellen. Soweit
künftige immaterielle Schäden betroffen sind, ist es ausreichend, daß eine nicht entfernt
liegende Möglichkeit künftiger Verwirklichung der Schadensersatzpflicht durch Auftreten
weiterer, bisher nicht erkennbarer und voraussehbarer Leiden besteht, da das
zuerkannte Schmerzensgeld bereits die zukünftigen gesundheitlichen Folgen des
Unfalles erfaßt, jedoch nur, soweit sie voraussehbar sind (OLGR Hamm, 1994, 227;
OLGR Hamm, 1998, 45). Im Hinblick auf die Schwere der erlittenen Verletzungen und
die sich abzeichnende Coxarthrose sowie die festgestellte dauernde Einbuße der
körperlichen Beweglichkeit sind weitere Verschlimmerungen, die eventuell zur Zeit nicht
voraussehbare Operationen erforderlich machen, nicht fernliegend.
82
IV.
83
Der Senat hat gemäß § 546 Abs. 1 Nr. 1 ZPO die Revision zugelassen.
84
Die im vorliegenden Verfahren relevante Frage des Anwendungsbereichs des § 106
Abs. 3 3. Alt. SGB VII besitzt grundsätzliche Bedeutung und ist bislang höchstrichterlich
nicht entschieden.
85
V.
86
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 546
Abs. 2 ZPO.
87