Urteil des OLG Düsseldorf vom 25.10.2010
OLG Düsseldorf (stgb, sicherungsverwahrung, egmr, emrk, krankenhaus, unterbringung, vollzug, freiheitsentziehung, stpo, psychische störung)
Oberlandesgericht Düsseldorf, III-1 Ws 256/10
Datum:
25.10.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
III-1 Ws 256/10
Leitsätze:
EMRK Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a und e, Art. 7 Abs. 1 Satz 2
StGB § 67d Abs. 2 und 3, § 67a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1
StPO § 463 Abs. 3 Satz 4
1. Die konventionsrechtliche Problematik des rückwirkenden Wegfalls
der zehnjährigen Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung (EGMR
Urteil vom 17. Dezember 2009, 19359/04) erfasst auch diejenigen
„Altfälle“, bei denen die Sicherungsverwahrung aufgrund einer
Überweisungsentscheidung gemäß § 67a Abs. 2 Satz 1 StGB in einem
psychiatrischen Krankenhaus vollzogen wird.
2. Zur unmittelbaren „Umsetzbarkeit“ der Entscheidung des EGMR vom
17. Dezember 2009 (19359/04) beim gegenwärtigen Stand der
Gesetzgebung.
3. Nach zehnjährigem Vollzug der Sicherungsverwahrung ist zwecks
Vorbereitung der Entscheidung gemäß § 67d Abs. 3 StGB und jeder
daran anschließenden Nachfolgeentscheidung gemäß § 67d Abs. 2
StGB die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage
erforderlich, ob von dem Untergebrachten nach wie vor die
hangbedingte Gefahr einer Begehung erheblicher Straftaten ausgeht,
durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt
werden.
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der
2. großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Düsseldorf vom
17. August 2010 (052 StVK 40/10) aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechts-mittels, an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Düsseldorf zu-rückverwiesen.
Gründe
1
A.
2
Durch Urteil vom 24. Januar 1995 verhängte das Landgericht Düsseldorf gegen den
einschlägig vorbestraften Verurteilten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in
zwei Fällen – unter Einbeziehung der sechsmonatigen Freiheitsstrafe aus einer
Vorverurteilung durch das Amtsgericht Hannover vom 25. November 1993 – eine
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten und ordnete ferner – erstmals
– seine Sicherungsverwahrung an. Nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe
wurde der Verurteilte am 11. April 1998 in den Vollzug der Sicherungsverwahrung
überführt. Er befand sich zunächst in den Justizvollzugsanstalten Rheinberg und
Aachen. Seit dem 13. November 2003 wird die Maßregel aufgrund einer
Überweisungsanordnung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Aachen vom
12. Dezember 2001 (§ 67a Abs. 2 StGB) in der LVR-Klinik Langenfeld vollstreckt.
3
Durch den angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer im
Prüfungsverfahren nach §§ 67e, 67d Abs. 2 und 3 StGB die Fortdauer "der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus" angeordnet. Hiergegen wendet
sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde. Er beantragt vor dem Hintergrund
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR Urteil
vom 17. Dezember 2009 [19359/04] = NJW 2010, 2495), die mittlerweile seit
mehr als zwölf Jahren vollzogene Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß
§ 67d Abs. 3 StGB in der bis zum 30. Januar 1998 geltenden Fassung für erledigt zu
erklären.
4
B.
5
Das zulässige Rechtsmittel hat in der aus dem Tenor ersichtlichen Weise Erfolg. Eine
Entlassung des Verurteilten aus dem Maßregelvollzug wegen Ablaufs der nach
Tatzeitrecht für die erstmalige Sicherungsverwahrung geltenden Höchstfrist von zehn
Jahren (§ 67d Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 StGB in der bis zum 30. Januar 1998 geltenden
Fassung) kommt nicht in Betracht (I). Die zutreffend am Prüfungsmaßstab des aktuell
geltenden § 67d StGB (in seiner durch Sexualdeliktebekämpfungsgesetz vom
26. Januar 1998 [BGBl. I 160] mit Wirkung zum 31. Januar 1998 geänderten Fassung)
getroffene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist indes verfahrensfehlerhaft
zustande gekommen. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur
Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (II).
6
I.
7
Da für Maßregeln der Besserung und Sicherung gemäß § 2 Abs. 6 StGB grundsätzlich
kein Rückwirkungsschutz besteht, ist die hier anstehende Frage der
Maßregelerledigung nach zehnjähriger Dauer gemäß § 67d Abs. 3 StGB n.F. von einer
qualifizierten Gefahrenprognose abhängig zu machen, obwohl im Falle des Verurteilten
8
zur Zeit der Begehung und Aburteilung seiner Taten für die Sicherungsverwahrung noch
die absolute Höchstfristenregelung des § 67d StGB a.F. (mit der Folge einer
unbedingten Entlassung nach Ablauf von zehn Jahren) anwendbar war. Dies gilt auch
im Lichte der zu einem solchen "Altfall" ergangenen Entscheidung des EGMR vom
17. Dezember 2009. Die dieses Urteil tragenden Erwägungen (1) erfassen zwar
grundsätzlich auch die hier vorliegende Sachverhaltsgestaltung eines "Altfall-Vollzugs"
der Sicherungsverwahrung im psychiatrischen Krankenhaus (2). Sie lassen sich aber
bei der gegenwärtigen Rechtslage ohne einen Eingriff des Gesetzgebers
gerichtlicherseits nicht umsetzen (3).
1. In seiner vorerwähnten Entscheidung hat der EGMR die Fortdauer der in einer
Justizvollzugsanstalt über zehn Jahre hinaus vollzogenen Sicherungsverwahrung in
einem "Altfall" als Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 sowie Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK
bezeichnet und hierzu Folgendes ausgeführt:
9
Die Fortsetzung des Maßregelvollzugs sei durch keinen der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2
EMRK abschließend aufgezählten Haftgründe mehr gedeckt. Für die Annahme einer
"Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht" (Art. 5 Abs. 1
Satz 2 Buchst. a EMRK) fehle der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen
Verurteilung und Haft, denn die ursprüngliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
habe nach seinerzeit geltendem Recht noch zwingend eine zehnjährige Höchstdauer
des Maßregelvollzugs bedeutet, so dass dessen Fortsetzung über zehn Jahre hinaus
ausschließlich durch die spätere Gesetzesänderung ermöglicht werde. Art. 5 Abs. 1
Satz 2 Buchst. e EMRK ("Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken") scheide als
Haftgrund ebenfalls aus, da im Fall des Beschwerdeführers keine
Haftfortdauerentscheidung der deutschen Gerichte mit einer psychischen Erkrankung
begründet worden sei. Darüber hinaus hege der Gerichtshof "ernstliche Zweifel", ob die
Möglichkeit einer Änderung der Höchstfristenregelung für den Beschwerdeführer zur
Zeit der Maßregelanordnung vorhersehbar gewesen sei und seine über zehnjährige
Haft im Hinblick darauf noch den rechtsstaatlichen Anforderungen einer "rechtmäßigen"
Freiheitsentziehung "auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" im Sinne von Art. 5
Abs. 1 Satz 2 EMRK entspreche.
10
Da der Beschwerdeführer bei der Begehung seiner Taten noch mit einer maximal
zehnjährigen Dauer der Sicherungsverwahrung habe rechnen können, stelle der
nachträgliche Wegfall dieser Höchstfrist für ihn ferner auch einen Verstoß gegen das
Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK dar. Nach dem autonomen
Begriffsverständnis der Europäischen Menschenrechtskonvention sei die
Sicherungsverwahrung als "Strafe" im Sinne von Art. 7 EMRK zu betrachten, denn sie
stehe in untrennbarem Zusammenhang mit der Verurteilung wegen einer vorsätzlichen
Straftat, werde als Element der Abschreckung verstanden und weise im Hinblick auf die
Bedingungen und Ziele ihres Vollzugs keine wesentlichen Unterschiede zur
Freiheitsstrafe auf.
11
2. Die vorstehenden Erwägungen des EGMR gelten auch für den hier zur Rede
stehenden "Altfall". Dass die Sicherungsverwahrung des Verurteilten derzeit nicht in
einer Justizvollzugsanstalt, sondern in einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen
wird, vermag das Problem eines etwaigen Konventionsverstoßes nicht auszuräumen.
Der im angefochtenen Beschluss insoweit vertretenen Gegenansicht der
Strafvollstreckungskammer schließt sich der Senat nicht an.
12
a) Die gegenwärtige Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen
Krankenhaus beruht auf § 67a Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 StGB. Nach diesen Vorschriften
kann ein Sicherungsverwahrter nachträglich in den Vollzug der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus überwiesen werden, wenn seine Resozialisierung
dadurch besser gefördert werden kann. Eine derartige Überweisung ändert indes nichts
an der Rechtsnatur der ursprünglich verhängten Maßregel (Fischer, StGB, 57. Auflage
[2010], § 67a Rdnr. 9; LK-Rissing-van Saan/Peglau, 12. Auflage [2008], § 67a Rdnr. 1);
vielmehr richten sich die Fristen für die Dauer der Unterbringung und für deren
Überprüfung weiterhin nach den für die Sicherungsverwahrung geltenden Vorschriften
(§ 67a Abs. 4 Satz 1 StGB). Auch der in einem psychiatrischen Krankenhaus
untergebrachte Sicherungsverwahrte unterlag daher vor der Änderung des § 67d durch
das Sexualdeliktebekämpfungsgesetz der zehnjährigen Höchstfrist des § 67d Abs. 1
Satz 1 StGB alter Fassung. Die Ausführungen des EGMR zum fehlenden
Kausalzusammenhang zwischen der ursprünglichen Maßregelanordnung und ihrem
über zehnjährigen Vollzug (Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a EMRK) sowie
seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der über zehnjährigen Freiheitsentziehung in
"Altfällen" (unter dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit des Wegfalls der Höchstfrist)
gelten daher für den Verurteilten in gleicher Weise wie für den "Altfall" eines im
Justizvollzug untergebrachten Sicherungsverwahrten.
13
b) Die erfolgte Überweisung des Verurteilten in den Vollzug der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigt es auch nicht, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e
EMRK (Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken) als Haftgrund für die insgesamt
über zehnjährige Maßregelvollstreckung heranzuziehen (aA OLG Braunschweig
Beschluss vom 27. August 2010 [Ws 220/10], nicht veröffentlicht).
14
aa) Entgegen der Ansicht des Landgerichts lässt sich hierfür aus dem Urteil des EGMR
vom 17. Dezember 2009 ([19359/04], aaO, Lz. 103) nichts herleiten. Zwar schließt der
Gerichtshof die grundsätzliche Möglichkeit nicht aus, dass die Sicherungsverwahrung
"bestimmter Straftäter" die Bedingungen einer "Freiheitsentziehung bei psychisch
Kranken" im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e EMRK erfüllen könne. Welche
Fallkonstellationen dem EGMR bei dieser Äußerung vorschwebten, ist dem Urteil vom
17. Dezember 2009 indes nicht zu entnehmen. Dessen Gründe enthalten keinerlei
Hinweis darauf, dass der Gerichtshof bei seiner Entscheidung die in § 67a Abs. 2 Satz 1
des deutschen Strafgesetzbuchs vorgesehenen Vollzugsgestaltungen überhaupt im
Blick hatte, geschweige denn, dass ihm insoweit eine abweichende Behandlung der
"Altfälle" vorschwebte. Für dahingehende Überlegungen gab der dem Gerichtshof zur
Prüfung vorliegende Fall – der seinerzeitige Beschwerdeführer war früher einmal
zusätzlich nach § 63 untergebracht, befand sich aber im Entscheidungszeitpunkt nur
noch im Vollzug der Sicherungsverwahrung in einer Justizvollzugsanstalt – auch keinen
Anlass.
15
bb) Eine zulässige "Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken" im Sinne von Art. 5
Abs. 1 Satz 2 Buchst. e EMRK setzt nach der zu diesem Haftgrund ergangenen
Rechtsprechung des EGMR (NJW 1986, 765 und 2173; vgl. ferner LR-Gollwitzer,
25. Auflage [2004], Art. 5 MRK Rdnr. 80) voraus, dass der Untergebrachte an einer
psychischen Erkrankung leidet, die nach Art und Schweregrad seine Einweisung
zwingend erfordert und von deren Fortbestehen die Aufrechterhaltung der Einweisung
abhängt. Eine derartige Freiheitsentziehung ist nach den Zweckbestimmungen von
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e EMRK nur dann rechtmäßig, wenn sie in einer Klinik,
einem Krankenhaus oder einer anderen, zu diesem Vorhaben ermächtigten Institution
16
vollzogen wird (EGMR NJW 1986, 2173, 2174; OLG Stuttgart Beschluss vom 1. Juni
2010 [1 Ws 57/10] m.w.N.).
Diese Minimalanforderungen sind im hier vorliegenden Fall nicht erfüllt.
17
Der Verurteilte leidet zwar an einer Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen sowie
dissozialen Anteilen (ICD 10: F60.8) und einer pädophilen Nebenströmung hinsichtlich
seiner sexuellen Orientierung. Nach Auffassung der psychiatrischen Sachverständigen,
die den Verurteilten im Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren begutachtet haben,
trägt diese psychische Störung indes nicht den Charakter einer "schweren anderen
seelischen Abartigkeit" im Sinne der §§ 20, 21 StGB und würde daher nach deutschem
Recht (§ 63 StGB) die Einweisung nicht – wie es der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2
Buchst. e EMRK verlangt – "zwingend erfordern". Dies setzt § 67a Abs. 2 Satz 1 StGB,
auf dessen Anwendung die gegenwärtige Unterbringung des Verurteilten beruht, auch
keineswegs voraus. Die dort geregelte Möglichkeit einer Überweisung psychisch
kranker Sicherungsverwahrter dient allein deren Resozialisierung mit dem Ziel eines
Abbaus ihrer hangbedingten (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) Gefährlichkeit und trägt nur in
diesem Zusammenhang der Tatsache Rechnung, dass bei Vorliegen einer psychischen
Erkrankung – egal welchen Schweregrades – eine fachgerechte Behandlung
prognostisch günstige Auswirkungen haben kann. Aus diesem Grund ist im rechtlichen
Kontext der gegenwärtigen Unterbringung des Verurteilten auch nicht gewährleistet,
dass die Aufrechterhaltung seiner "Einweisung" vom Fortbestehen der psychischen
Erkrankung abhängt. § 67a Abs. 3 Satz 2 StGB sieht vielmehr eine Rücküberweisung in
eine Justizvollzugsanstalt vor, wenn mit der Behandlung im psychiatrischen
Krankenhaus kein Erfolg erzielt werden kann, weil sich nachträglich herausstellt, dass
eine psychische Erkrankung nicht (mehr) vorliegt, die hangbedingte Gefährlichkeit des
Sicherungsverwahrten aber fortdauert (Fischer, aaO, § 67a Rdnr. 8; LK-Rissing-van
Saan/Peglau, aaO, § 67a Rdnr. 52, 54). Da diese Rücküberweisungsmöglichkeit auch
dann besteht, wenn sich der psychisch kranke Sicherungsverwahrte als
behandlungsunwillig bzw. –unfähig erweist (LK-Rissing-van Saan/Peglau, aaO, § 67a
Rdnr. 52, 53), ist ferner nicht sichergestellt, dass die Freiheitsentziehung des
Verurteilten dauerhaft in einer zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung
ermächtigten Institution vollzogen wird, mag dies zur Zeit auch der Fall sein. Die
Sicherungsverwahrung des Verurteilten allein aufgrund ihrer gegenwärtigen
Vollzugsform unter Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e EMRK zu subsumieren, ist nach
Ansicht des Senats vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR zu diesem
Haftgrund nicht möglich.
18
c) Soweit der EGMR in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 die
Sicherungsverwahrung dem Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK
unterstellt hat, beanspruchen die hierfür tragenden Erwägungen im vorliegenden Fall
ebenfalls Geltung. Auch insoweit ist die gegenwärtige Unterbringung des Verurteilten im
psychiatrischen Krankenhaus einer aus ihrem rechtlichen Kontext herausgelösten
Bewertung nicht zugänglich. Der EGMR betrachtet die Sicherungsverwahrung in
autonomer Auslegung des Rechtsbegriffs grundsätzlich als "Strafe" im Sinne von Art. 7
EMRK. Diesen "Strafcharakter" hat die Maßregel im Fall des Verurteilten allein aufgrund
seiner Überweisung in den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus nicht verloren, denn er unterliegt in Bezug auf die Prüfung der
Aussetzungsreife weiterhin den für die Sicherungsverwahrung geltenden Vorschriften
(§ 67a Abs. 4 Satz 1 StGB) und muss jederzeit mit einer Rückverlegung in eine
Justizvollzugsanstalt rechnen, wenn mit der gegenwärtigen Unterbringung kein
19
Resozialisierungserfolg erzielt werden kann (§ 67a Abs. 3 Satz 2 StGB).
3. Obwohl die Ausführungen des EGMR zur Konventionswidrigkeit der über
zehnjährigen Sicherungsverwahrung in "Altfällen" nach alledem auch für die hier
vorliegende Sachverhaltsgestaltung grundsätzlich Beachtung finden müssen, ist auf den
Fall des Verurteilten nach wie vor § 67d Abs. 3 StGB in seiner aktuellen Fassung
anzuwenden.
20
a) Gemäß § 2 Abs. 6 StGB ist über Maßregeln der Besserung und Sicherung nach dem
zur Zeit der jeweiligen Entscheidung geltenden Recht zu befinden, wenn gesetzlich
nichts anderes bestimmt ist. Eine derartige abweichende Regelung ist in Bezug auf die
Höchstfristenregelung des § 67d Abs. 3 StGB durch den deutschen Gesetzgeber nicht
getroffen worden. Zu der Frage, ob und inwieweit das Urteil des EGMR vom
17. Dezember 2009 vor diesem Hintergrund durch die Gerichte berücksichtigt werden
kann, hat sich unmittelbar nach Rechtskraft der Entscheidung (10. Mai 2010)
unterschiedliche Rechtsprechung entwickelt.
21
Während einige Oberlandesgerichte das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 Satz 2
EMRK – in seiner Auslegung durch das Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009 – als
anderweitige gesetzliche Regelung im Sinne von § 2 Abs. 6 StGB betrachten
22
(vgl. die Beschlüsse des OLG Karlsruhe vom 15. Juli 2010 [2 Ws 44/10 und 2 Ws
458/09] und 4. August 2010 [2 Ws 227/10], des OLG Frankfurt vom 24. Juni 2010 [3 Ws
485/10] und 1. Juli 2010 [3 Ws 539/10], des OLG Hamm vom 6. Juli 2010 [4 Ws 157/10],
vom 22. Juli 2010 [4 Ws 180/10] und vom 29. Juli 2010 [4 Ws 193/10] sowie des OLG
Schleswig vom 15. Juli 2010 [1 Ws 268/10]; ebenso der 4. Strafsenat des BGH in
seinem Beschluss vom 12. Mai 2010 [4 StR 577/09] betreffend einen Fall nachträglicher
Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB)
23
und infolge dessen die Sicherungsverwahrung in Altfällen" nach über zehnjähriger
Dauer in Anwendung des § 67d StGB a.F. für erledigt erklärt haben, steht die
Gegenmeinung auf dem Standpunkt, dass die Entscheidung des EGMR für die Gerichte
derzeit keine Bindungswirkung entfalte und auf "Altfälle" vorerst weiterhin § 67d Abs. 3
StGB n.F. anzuwenden sei
24
(so die Beschlüsse des OLG Köln vom 14. Juli 2010 [2 Ws 428/10 und 2 Ws 431/10],
des OLG Koblenz vom 7. Juni 2010 [1 Ws 108/10], des OLG Celle vom 25. Mai 2010
[2 Ws 169-170/10], des OLG Stuttgart vom 1. Juni 2010 [1 Ws 57/10] sowie des OLG
Nürnberg vom 24. Juni 2010 [1 Ws 315/10] und vom 7. Juli 2010 [1 Ws 342/10]).
25
Dieser Meinungsstreit hat seit der Neufassung des § 121 Abs. 2 GVG durch Gesetz vom
24. Juli 2010 (BGBl. I 976) zu mehreren Divergenzvorlagen beim Bundesgerichtshof
geführt, über die noch nicht entschieden ist
26
(Vorlagebeschlüsse des OLG Celle vom 3. August 2010 [2 Ws 264/10], des OLG Köln
vom 12. August 2010 [2 Ws 488/10], des OLG Nürnberg NStZ 2010, 574, des OLG
Stuttgart vom 19. August 2010 [1 Ws 57/10] sowie des OLG Koblenz vom 1. September
2010 [2 Ws 370/10] und 30. September 2010 [1 Ws 108/10]).
27
b) Der Senat schließt sich der Meinung derjenigen Oberlandesgerichte an, die beim
gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung dem Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009
28
keine Bindungswirkung für die Gerichte beimessen.
aa) Zur Berücksichtigung von Entscheidungen des EGMR durch deutsche Gerichte hat
das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2004 (NJW 2004,
3407) grundsätzlich Stellung bezogen. Die EMRK gilt in der deutschen Rechtsordnung
im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts zu
beachten (aaO S. 3408), wobei den Entscheidungen des EGMR besondere Bedeutung
zukommt, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention
widerspiegelt (aaO S. 3409). Hierbei sind jedoch die Auswirkungen der jeweiligen
Entscheidung auf die nationale Rechtsordnung einzubeziehen. Vorrang genießt die
konventionsgemäße Auslegung nur, solange im Rahmen geltender methodischer
Standards entsprechende Abwägungsspielräume eröffnet sind. Sie scheidet indes aus,
wenn sie auf einen Verstoß gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder
gegen deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich Grundrechte Dritter,
hinauslaufen würde (S. 3411).
29
bb) In Anwendung dieser Grundsätze kommt eine unmittelbare "Umsetzung" des
EGMR-Urteils mittels Anwendung des § 67d StGB a.F. – mit der Folge einer sofortigen
Entlassung des Verurteilten aus der Sicherungsverwahrung – derzeit nicht in Betracht,
da die gegenwärtige Rechtslage hierfür keinen Auslegungsspielraum eröffnet.
30
Der Gesetzgeber hat bei der Änderung des Rechts der Sicherungsverwahrung durch
das Sexualdeliktebekämpfungsgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160) mittels
Einfügung eines dritten Absatzes in Art. 1a EGStGB seinen erklärten Willen zum
Ausdruck gebracht, dass die Abschaffung der absoluten Höchstfrist – zu Gunsten der in
§ 67d Abs. 3 StGB n.F vorgesehenen differenzierten Regelung – im Interesse eines
möglichst umfassenden Schutzes der Allgemeinheit vor drohenden schwersten
Rückfalltaten auch für "Altfälle" gelten solle (vgl. hierzu BT-Drs. 13/9062 S. 12). Die
spätere Streichung der Vorschrift (mit Änderung des Art. 1a EGStGB durch Gesetz vom
23. Juli 2004, BGBl. I 1838) nahm der Gesetzgeber nur deshalb vor, weil er sie vor dem
Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das den fehlenden
Rückwirkungsschutz für "Altfälle" ausdrücklich gebilligt hatte (BVerfGE 109, 133), für
entbehrlich hielt (vgl. BT-Drs. 15/2887 S. 20). Der Umstand, dass das nationale Recht
keine Regelung vorsieht, die in Abweichung vom Grundsatz des § 2 Abs. 6 StGB bei der
Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB einen Rückwirkungsschutz für "Altfälle" anordnet,
beruht daher auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers.
31
Angesichts dieser Rechtslage würde die unmittelbare Umsetzung des EGMR-Urteils
mittels Anwendung des § 67d a.F. geltenden methodischen Standards der
Gesetzesauslegung widersprechen und auf einen Verstoß gegen eindeutig
entgegenstehendes Gesetzesrecht hinauslaufen. Zwar wird man dem Gesetzgeber nicht
unterstellen können, dass er bei seiner Neuregelung des § 67d StGB durch das
Sexualdeliktebekämpfungsgesetz unter bewusster Inkaufnahme eines etwaigen
Konventionsverstoßes handelte. Auch diese Überlegung berechtigt die Gerichte indes
nicht, den damaligen Willen des Gesetzgebers angesichts der mittlerweile erfolgten
Feststellung eines Konventionsverstoßes bei der heutigen Normauslegung außer Acht
zu lassen. Auf welche Weise der deutsche Staat seiner völkerrechtlichen Verpflichtung
zur Umsetzung des EGMR-Urteils nachkommt und inwieweit hierbei das mit den
nationalen Vorschriften ursprünglich verfolgte rechtspolitische Ziel (des Schutzes der
Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern jenseits der Höchstfrist auch in "Altfällen")
aufgegeben werden soll, ist eine gesetzgeberische Entscheidung, der die Gerichte nicht
32
durch eine schematische "Umsetzung" des EGMR-Urteils vorgreifen dürfen (hierzu
ausführlich und zutreffend: OLG Köln Beschlüsse vom 14. Juli 2010 [2 Ws 428/10 und
2 Ws 431/10]).
c) Die rückwirkende Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB n.F. auf "Altfälle" verstößt nach
Ansicht des Senats – auch im Lichte der Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember
2009 – nicht gegen Verfassungsrecht. Insoweit gelten die Ausführungen des
Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 5. Februar 2004 fort, das –
insbesondere – auf einer umfassenden Abwägung zwischen dem
Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und der Pflicht des
Staates zum Schutz der Grundrechte potentieller Deliktsopfer beruht (BVerfGE 109, 133,
184-187). Der mit einer Rückwirkung des § 67d Abs. 3 StGB verbundene Eingriff in das
Freiheitsgrundrecht des Verurteilten ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten im
Interesse überragender Gemeinwohlgüter vorerst hinzunehmen. Auch das
Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren dort mittlerweile anhängigen Verfahren
nicht veranlasst gesehen, die jeweiligen Beschwerdeführer mittels Erlass einer
einstweiligen Verfügung umstandslos auf freien Fuß zu setzen (vgl. die Beschlüsse vom
22. Dezember 2009 [2 BvR 2365/09], 19. Mai 2010 [2 BvR 769/10] und 30. Juni 2010
[2 BvR 571/10]), was aber bei einer zwingenden "1:1-Umsetzung" des EGMR-Urteils auf
verfassungsrechtlicher Ebene erforderlich gewesen wäre.
33
II.
34
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten führt zur Aufhebung des angefochtenen
Beschlusses und zur Zurückverweisung an das Landgericht.
35
1. Die angefochtene Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, weil
die Strafvollstreckungskammer entgegen § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO kein
Sachverständigengutachten zur Vorbereitung der in § 67d Abs. 3 StGB vorgesehenen
qualifizierten Gefahrenprognose eingeholt hat.
36
a) Gemäß § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO hat das Gericht zur Vorbereitung der Entscheidung
gemäß § 67d Abs. 3 StGB (nach zehnjährigem Vollzug der Sicherungsverwahrung)
sowie der nachfolgenden Entscheidungen gemäß § 67d Abs. 2 StGB das Gutachten
eines Sachverständigen "namentlich zu der Frage" einzuholen, "ob von dem
Verurteilten auf Grund seines Hanges weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu
erwarten sind". Hierfür gelten folgende Besonderheiten:
37
Die Beauftragung eines Sachverständigen ist nach zehnjähriger Sicherungsverwahrung
zur Vorbereitung jeder Entscheidung zwingend erforderlich, nicht nur dann, wenn die
Kammer eine Aussetzung der Maßregel in Betracht zieht; die §§ 463 Abs. 3 Satz 3
Halbs. 1, 454 Abs. 2 Satz 1 StPO gelten im Fall der Sicherungsverwahrung nur für die
Fortdauerprüfungen bis zum Ablauf von zehn Jahren Vollzugsdauer (OLG Frankfurt
NStZ-RR 2009, 221; OLG Hamm Beschluss vom 18. November 2004 [3 Ws 585/04]).
38
Mit Rücksicht auf das in § 67d Abs. 3 StGB aufgestellte Regel-/Ausnahmeverhältnis gilt
für die gerichtliche Prognose (und damit auch für die an den Gutachter zu richtende
Fragestellung) ein strengerer Prüfungsmaßstab: Während die Fortdauerentscheidungen
bis zu zehn Jahren Unterbringungsdauer nur voraussetzen, dass eine positive Prognose
nicht getroffen werden kann (weitere Straftaten also nicht auszuschließen sind), ist eine
entsprechende Anordnung bei über zehnjähriger Sicherungsverwahrung nur im Falle
39
einer ausdrücklichen negativen Prognose (bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für
eine entgegen der gesetzlichen Regelvermutung fortbestehende Gefährlichkeit des
Verurteilten) zulässig. Positiv festzustellen ist also nicht etwa die für eine Erledigung der
Maßregel erforderliche günstige Prognose, sondern die für einen Fortbestand der
Maßregel ungünstige Prognose. Zweifel an der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten
wirken sich zu Gunsten des Verurteilten aus (OLG Karlsruhe Beschluss vom 31. August
2009 [2 Ws 309/09]; OLG Koblenz Beschluss vom 19. November 2007 [1 Ws 141/07).
b) Diesen Aufklärungserfordernissen ist das Verfahren vor der
Strafvollstreckungskammer nicht gerecht geworden.
40
Der letzte Auftrag einer externen Begutachtung des Verurteilten datierte vom 6. Februar
2009. Er wurde – wie sich aus dem zugrunde liegenden Gerichtsbeschluss (Bl. 871
Bd. 4 d.A.) ergibt – in irriger Anwendung des für Maßregeln gemäß § 63 StGB geltenden
§ 463 Abs. 4 StPO erteilt und betraf ausschließlich die für § 67d Abs. 2 StGB relevante
Frage nach dem Vorliegen einer positiven Prognose, weil sich die Kammer seinerzeit
offenbar nicht des Umstandes bewusst war, dass auf den hier vorliegenden Fall gem.
§ 67d Abs. 4 Satz 1 StGB die für Sicherungsverwahrte geltenden Vorschriften
anwendbar sind. Das auf der Grundlage dieser – verkürzten – Fragestellung erstattete
Gutachten der Sachverständigen Dr. M.-M. vom 16. April 2009 beruht auf einer
Exploration, die zur Zeit der hier maßgeblichen Fortdauerprüfung bereits deutlich mehr
als ein Jahr zurücklag. Die Strafvollstreckungskammer hat dennoch von der Einholung
eines aktuellen Sachverständigengutachtens zu der gemäß § 67d Abs. 3 StGB
relevanten Fragestellung verzichtet und ihre Entscheidung vom 17. August 2010
insoweit ausschließlich auf das schriftliche Prognosegutachten vom 16. April 2009
gestützt. Hierdurch ist den Anforderungen des § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO nicht genügt
worden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Frage einer
Erledigung der Maßregel gemäß § 67d Abs. 3 StGB bei der hier zur Rede stehenden
Fortdauerprüfung erstmals erörtert wurde, obwohl sich der Verurteilte bereits seit April
2008 mehr als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung befindet.
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2. Der aufgezeigte Verfahrensmangel führt in Abweichung von der Regel des § 309
Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung
der Sache zwecks neuer Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsmittels. Eine
eigene Sachentscheidung des Senats scheidet aus, weil eine erneute mündliche
Anhörung (des Verurteilten und – im Grundsatz – auch des zu beauftragenden
Sachverständigen, vgl. §§ 463 Abs. 3 Satz 3, 454 Abs. 2 Satz 3 und 4 StPO)
durchzuführen ist und eine solche im Beschwerdeverfahren regelmäßig nicht stattfindet.
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3. An einer abschließenden Entscheidung im hier anhängigen Beschwerdeverfahren ist
der Senat durch § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG nicht gehindert. Die hier vorliegende
Sachverhaltsgestaltung gibt zu einer Divergenzvorlage beim Bundesgerichtshof keinen
Anlass.
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a) Soweit der Senat zum grundsätzlichen Problem der Umsetzbarkeit des EGMR-Urteils
vom 17. Dezember 2009 durch die Rechtsprechung von den zu I 3 a zitierten
Entscheidungen der Oberlandesgerichte Karlsruhe, Frankfurt, Hamm und Schleswig
abweicht, fehlt die für eine Divergenzvorlage erforderliche Identität der Rechtsfrage, die
nur bei Gleichartigkeit der jeweiligen Sachverhalte gegeben ist (LR-Franke, StPO,
25. Auflage [2001], § 121 Rdnr. 64a). Den Entscheidungen, die in unmittelbarer
Umsetzung des EGMR-Urteils auf "Altfälle" die Höchstfristenregelung des § 67d StGB
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a.F. angewendet haben, lag ausnahmslos der Fall einer in der Justizvollzugsanstalt
vollstreckten Sicherungsverwahrung zugrunde. Der Umstand, dass hier die Maßregel in
einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen wird, stellt eine
Sachverhaltsabweichung dar, die nicht nur geringfügigen Charakter trägt, weil sie
zunächst die der Grundproblematik vorgelagerte Frage aufwirft, ob die Ausführungen
des EGMR zur Konventionswidrigkeit der über zehnjährigen Sicherungsverwahrung in
"Altfällen" für diese Fallgestaltung überhaupt Geltung beanspruchen können. Hierzu
nehmen die vorerwähnten Entscheidungen der Oberlandesgerichte Karlsruhe, Frankfurt,
Hamm und Schleswig keine Stellung.
b) Zu der Frage, ob auf die in den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus überwiesenen Sicherungsverwahrten der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1
Satz 2 Buchst. e EMRK anzuwenden ist, weicht der Senat von einer nicht
veröffentlichten Entscheidung des OLG Braunschweig ab (Beschluss vom 27. August
2010 [Ws 220/10], vgl. I 2 b). Auch insoweit kommt indes eine Divergenzvorlage nicht in
Betracht. Die Vorlagepflicht setzt voraus, dass der Rechtsfrage, in der von der
Rechtsprechung eines anderen Oberlandesgerichts abgewichen wird, für die eigene
Entscheidung tragender Charakter zukommt (LR-Franke, aaO, § 121 Rdnr. 65).
Letzteres ist hier nicht der Fall, denn der Senat kommt unabhängig von der zur Rede
stehenden Rechtsfrage letztlich – ebenso wie das OLG Braunschweig – zu dem
Ergebnis, dass ungeachtet der EGMR-Entscheidung vom 17. Dezember 2009 auf den
hier zur Rede stehenden "Altfall" einer Sicherungsverwahrung vorerst weiterhin § 67d
StGB n.F. anzuwenden ist.
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4. Sollte im Verlauf des weiteren Verfahrens eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs
oder des Bundesverfassungsgerichts ergehen, aus der sich das Erfordernis einer
umgehenden Umsetzung des EGMR-Urteils vom 17. Dezember 2009 im Sinne einer
Anwendung der Höchstfristenregelung des § 67d StGB a.F. ergibt, wird dem Rechnung
zu tragen sein unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats, wonach der hier
vorliegende "Altfall" grundsätzlich von der Problematik erfasst wird.
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