Urteil des OLG Dresden vom 08.04.2008
OLG Dresden: bewährung, vollstreckung der strafe, widerruf, straftat, gesamtstrafe, ergänzung, körperverletzung, rechtskraft, strafrecht, rückwirkungsverbot
Leitsatz:
§ 56 f Abs. 1 StGB kann wegen des Rückwirkungsverbotes des § 2
Abs. 1 und 3 StGB nicht auf die Fälle angewendet werden, in
denen die Tat bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung in der
Zeit zwischen der Entscheidung der Strafaussetzung in einem
einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Entscheidung über
die Gesamtstrafe begangen worden ist, wenn die Gesamtstrafen-
entscheidung vor Inkrafttreten des 2. Justizmodernisierungsge-
setzes (31. Dezember 2006) rechtskräftig geworden ist.
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Oberlandesgericht
Dresden
2. Strafsenat
Aktenzeichen: 2 Ws 183/07
II StVK 114/07 LG Leipzig
310 Js 28802/04 StA Freiburg i.Br.
26 Ws 247/07 GenStA Dresden
Beschluss
vom 08. April 2008
in der Strafvollstreckungssache gegen
F
geboren am
wohnhaft
Verteidigerin: Rechtsanwältin
wegen Körperverletzung u. a.
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1. Auf die sofortige Beschwerde und die Be-
schwerde des Verurteilten wird der Beschluss
der
Strafvollstreckungskammer
des
Landge-
richts Leipzig vom 02. März 2007 aufgehoben.
2. Es wird abgelehnt, die Strafaussetzung zur
Bewährung aus dem Gesamtstrafenbeschluss des
Amtsgerichts
Titisee-Neustadt
vom
08. August 2005
- Az. 22 Ds 310 Js 28802/04-
AK 450/04 - zu widerrufen.
3. Es wird festgestellt, dass Rechtsanwältin zur
Pflichtverteidigerin
des
Verurteilten
im
Strafvollstreckungsverfahren bestellt worden
ist.
4. Die Kosten der Beschwerden und die dem Verur-
teilten
insoweit
entstandenen
notwendigen
Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
G r ü n d e :
I.
Mit Beschluss vom 08. August 2005, rechtskräftig seit dem
19. August 2005 hatte das Amtsgericht Titisee-Neustadt die
Strafen aus einem Urteil des Amtsgerichts Hersbruck vom
23. November 2004 und einem Urteil des Amtsgerichts Titi-
see-Neustadt vom 30. März 2005 auf eine Gesamtfreiheits-
strafe von elf Monaten zurückgeführt. Die Vollstreckung der
Strafe hatte es zur Bewährung ausgesetzt und es bei dem Be-
währungsbeschluss des Amtsgerichts Titisee-Neustadt vom
30. März 2005 belassen. Dieser Beschluss hatte eine Bewäh-
rungszeit von vier Jahren bestimmt.
Am 09. Januar 2006 wurde der Betroffene durch das Amtsge-
richt Leipzig wegen einer am 24. Juli 2005 begangenen Kör-
perverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten
verurteilt.
Die Staatsanwaltschaft beantragte deshalb den Widerruf der
mit dem Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung
zur Bewährung. Im Termin zur Anhörung über den Bewährungs-
widerruf am 07. Dezember 2006 ordnete das Amtsgericht Leip-
zig dem Verurteilten seine bisherige Wahlverteidigerin als
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Pflichtverteidigerin bei. Am 25. Januar 2007 gab das Amts-
gericht die Sache an die Staatsanwaltschaft mit dem Ersu-
chen zurück, die Sache nunmehr der Strafvollstreckungskam-
mer vorzulegen, weil sich der Verurteilte zwischenzeitlich
in Strafhaft befand.
Gegenüber der Strafvollstreckungskammer beantragte die Ver-
teidigerin erneut ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin.
Mit Beschluss vom 02. März 2007 hat die Strafvollstre-
ckungskammer die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen,
weil der Verurteilte innerhalb laufender Bewährungszeit er-
neut straffällig geworden sei. Mit demselben Beschluss hat
die Strafvollstreckungskammer den Antrag der Verteidigerin
auf Beiordnung als Pflichtverteidigerin abgelehnt.
Gegen den am 19. März 2007 zugestellten Beschluss richtet
sich der Verurteilte mit einer am selben Tag eingelegten
sofortigen Beschwerde, mit der er sowohl den Widerruf der
Strafaussetzung als auch die abgelehnte Pflichtverteidiger-
bestellung angreift. Hinsichtlich der Pflichtverteidigerbe-
stellung hat die Strafvollstreckungskammer der Beschwerde
nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, die
sofortige Beschwerde des Verurteilten als unbegründet zu
verwerfen. Sie nimmt hinsichtlich des Widerrufs der Straf-
aussetzung zur Bewährung auf die Begründung des angefochte-
nen Beschlusses der Strafvollstreckungskammer Bezug. Hin-
sichtlich der Pflichtverteidigerbestellung lägen die Vor-
aussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vor.
Nachdem der Senat die Akten zunächst am 04. Mai 2007 an die
Generalstaatsanwaltschaft zur Nachholung einer Abhilfeent-
scheidung durch die Strafvollstreckungskammer zurückgegeben
hat, sind die Akten dem Senat erst am 18. März 2008 wieder
vorgelegt worden.
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II.
Die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaus-
setzung zur Bewährung und die (insoweit einfache) Beschwer-
de gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung er-
weisen sich als jeweils begründet.
1. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafausset-
zung zur Bewährung liegen nicht vor. Der Widerruf kann
nicht gemäß § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB auf die am
24. Juli 2005 begangene Tat des Verurteilten gestützt
werden. Nach dieser Bestimmung ist ein Widerruf nur dann
möglich, wenn der Verurteilte die neue Straftat in der
Bewährungszeit begangen hat. Dies ist vorliegend jedoch
nicht der Fall. Der Verurteilte hat die Tat zwar inner-
halb der Bewährungszeit aus dem Bewährungsbeschluss des
Amtsgerichts Titisee-Neustadt vom 30. März 2005 began-
gen. Mit dem zeitlich nach dieser Tat liegenden Be-
schluss
des
Amtsgerichts
Titisee-Neustadt
vom
08. August 2005 ist jedoch erneut die Vollstreckung der
darin festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung
ausgesetzt worden.
Diese Bewertung ändert sich auch nicht dadurch, dass
§ 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB in seiner nach Art. 22 Nr. 2
des Gesetzes vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I 3416; Zwei-
tes Justizmodernisierungsgesetz) seit dem 31. Dezember
2006 geltenden Fassung einen Widerruf der Strafausset-
zung zulässt, wenn die Tat bei nachträglicher Gesamt-
strafenbildung in der Zeit zwischen der Entscheidung der
Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der
Rechtskraft der Entscheidung über die Gesamtstrafe be-
gangen worden ist.
Die durch das Zweite Justizmodernisierungsgesetz vorge-
nommene Ergänzung soll den Widerruf einer im Rahmen
nachträglicher Gesamtstrafenbildung bewilligten Straf-
aussetzung zur Bewährung ermöglichen, wenn die verur-
teilte Person innerhalb der Bewährungszeit in einer ein-
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bezogenen Sache eine Straftat begangen und dadurch ge-
zeigt hat, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung
zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Der Ergänzung be-
darf es für die Fälle, in denen dem Gericht bei der Ent-
scheidung über die nachträgliche Gesamtstrafenbildung
die innerhalb der Bewährung in der einbezogenen Sache
begangene Straftat entweder überhaupt nicht bekannt war
oder gegen die verurteilte Person zwar ein Tatverdacht
bestand, sich das Gericht aber zum Beispiel mangels Ges-
tändnis oder anderer sicherer Beweismittel noch kein zu-
verlässiges Urteil über ihre Täterschaft bilden konnte.
Die Neuregelung soll deshalb die Gesetzeslücke schlie-
ßen, die dadurch entsteht, dass der Widerruf einer im
Rahmen nachträglicher Gesamtstrafenbildung bewilligten
Strafaussetzung zur Bewährung nicht darauf gestützt wer-
den kann, dass die verurteilte Person in der Zeit zwi-
schen der Verurteilung in einer einbezogenen Sache und
der Entscheidung über die nachträgliche Gesamtstrafe ei-
ne Straftat begangen hat. Dies gilt auch dann, wenn in
der einbezogenen Sache die Vollstreckung einer Frei-
heitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt war und die neue
Straftat innerhalb dieser Bewährungszeit begangen wurde
(vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf BT-Drs. 16/3038).
§ 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB n.F. kann im vorliegenden Fall
jedoch wegen des Rückwirkungsverbotes entsprechend § 2
Abs. 1 und 3 StGB nicht angewendet werden. Denn auch
wenn durch § 56 f StGB eine Strafe oder sonstige Maßnah-
me für die begangene Tat nicht neu festgesetzt wird, hat
die Vorschrift doch zumindest teilweise auch einen mate-
riell-rechtlichen Gehalt und unterliegt damit dem Rück-
wirkungsverbot des § 2 StGB, das für den gesamten Be-
reich materiell-rechtlicher Regelungen im Strafrecht
gilt (OLG Saarbrücken NStZ-RR 2008, 91 [92]; OLG Hamm
StV 87, 69; MDR 1988, 74; Fischer, StGB 55. Aufl. § 2
Rdnr. 4).
Im vorliegenden Fall ist deshalb als mildestes Gesetz im
Sinne des § 2 Abs. 3 StGB die bis zum 30. Dezember 2006
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geltende Vorschrift des § 56 f StGB zu sehen, nach der
ein Widerruf für die in der Bewährungszeit der einbezo-
genen Entscheidung, aber vor dem Gesamtstrafenbeschluss
begangene Tat nicht möglich ist.
2. Die von dem Verurteilten gegen die Versagung der
Pflichtverteidigerbestellung
durch
die
Strafvollstre-
ckungskammer eingelegte sofortige Beschwerde war als
einfache Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO zu werten.
Einer Entscheidung des Landgerichts über den erneuten
Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidigerin, die zu-
dem als Verfügung des Vorsitzenden zu treffen gewesen
wäre (KK-Laufhütte, StPO 5. Aufl. § 142 Rdnr. 1, § 143
Rdnr. 1), hätte es nicht bedurft, weil die Wahlverteidi-
gerin bereits durch das Amtsgericht Leipzig als Pflicht-
verteidigerin beigeordnet worden war. Die Ablehnung der
Beiordnung als Pflichtverteidigerin für das Strafvoll-
streckungsverfahren stellt sich deshalb als Rücknahme
der Bestellung gemäß § 143 StPO dar; die Voraussetzung
für eine Zurücknahme lagen jedoch erkennbar nicht vor.
Nachdem die Strafvollstreckungskammer trotz eines ent-
sprechenden
Hinweises
auf
die
Verteidigerbestellung
durch das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen
hat, sieht der Senat vor diesem Hintergrund neben der
Aufhebung der angefochtenen Entscheidung eine Klarstel-
lung veranlasst, dass Rechtsanwältin Dr. Stieler als
Pflichtverteidigerin
für
das
Vollstreckungsverfahren
beigeordnet worden ist.
III.
Die Kosten der erfolgreichen Beschwerden trägt in Ermange-
lung eines anderen Kostenschuldners die Staatskasse. Die
Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Verurteilten
beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1
StPO.
Drath
Schüddekopf
Gorial