Urteil des OLG Dresden vom 06.10.1994

OLG Dresden: persönliches erscheinen, einspruch, entschuldigung, ermessensausübung, fahrverbot, form, handelsvertreter, fahrzeug, vergleich, identifizierung

2 Ss (OWi) 236/94
Leitsatz:
Es reicht zur Begründung der Einspruchsverwerfung nicht aus, wenn sich das Gericht im
wesentlichen damit begnügt, den Gesetzeswortlaut des OWiG § 74 Abs. 2 S. 1 HS. 1
wiederzugeben.
Schlagwort:
Genügende Entschuldigung
Vorschrift:
OWiG § 73 Abs. 3 S. 1; OWiG § 74 Abs. 2 S. 1 HS 1
Oberlandesgericht Dresden
Senat für Bußgeldsachen
Aktenzeichen: 2 Ss (OWi) 236/94
18 OWi 560 Js 11462/94 AG Chemnitz
Beschluß
vom 21. Februar 1995
in der Bußgeldsache gegen
B M S ,
geboren am
,
wohnhaft
,
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
Verteidigerin: Rechtsanwältin,
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des
Amtsgerichts Chemnitz vom 6. Oktober 1994 mit den Fest-
stellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an dasselbe Amtsgericht
zurückverwiesen.
G r ü n d e :
Das Regierungspräsidium Chemnitz hat durch Bußgeldbescheid vom
17. Februar 1994 gegen den Betroffenen eine Geldbuße von
200,00 DM und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt, weil er am
26. Oktober 1993 bei Chemnitz als Führer des Pkw HOM-DU 8 auf
der Bundesautobahn A 4 bei Kilometer 38,2 eine Geschwindigkeit
von 144 km/h eingehalten habe, obwohl die zulässige
Höchstgeschwindigkeit 100 km/h betragen habe, wodurch er eine
Verkehrsordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 2, 49 StVO, Nr. 5.3
BKAT begangen habe.
Hiergegen hat der Betroffene, dessen Anhörung die Bußgeld-
stelle am 27. Dezember 1993 angeordnet hatte, am 23. Februar
1994 form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.
Das Amtsgericht Chemnitz hat am 21. Juni 1994 den Termin zur
Hauptverhandlung auf den 6. Oktober 1994 anberaumt und das
persönliche Erscheinen des Betroffenen hierzu angeordnet.
Am 6. Oktober 1994 hat es dessen Einspruch gemäß § 74 Abs. 2
OWiG verworfen.
Gegen das ihm am 18. Oktober 1994 zugestellte Urteil hat er
mit Verteidigerschriftsatz vom 19. Oktober 1994, eingetroffen
beim Amtsgericht Chemnitz am selben Tag,
form-
und
fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, die Zurückverweisung
der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Chemnitz
oder an ein anderes Gericht im Oberlandesgerichtsbezirk
Dresden beantragt und die Verletzung förmlichen Rechts
gerügt.
Im Antrag auf Zurückverweisung ist auch der nicht aus-
drücklich gestellte Antrag auf Aufhebung des Urteils zu er-
blicken.
Der Beschwerdeführer hat geltend gemacht, der Einspruch habe
nicht verworfen werden dürfen, weil kein Fall des
unentschuldigten Ausbleibens in der Hauptverhandlung vorge-
legen habe. Er bringt vor, er habe nach Erhalt der Ladung zur
Hauptverhandlung mit der Anordnung seines persönlichen
Erscheinens mit Verteidigerschriftsatz vom 13. Juli 1994
wegen der 700 km weiten Entfernung seines Wohnorts zum
Gerichtsort und wegen des ihm bei einer Anreise zur Haupt-
verhandlung erwachsenden unverhältnismäßig hohen Verlusts von
zwei ganzen Arbeitstagen um die Entbindung von der Pflicht
zum Erscheinen in der Hauptverhandlung gebeten; zugleich habe
er erklärt, er bestreite nicht, der Fahrer des Tatfahrzeugs
zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein. Als das Amtsgericht
Chemnitz am 22. Juli 1994 mitgeteilt habe, die von ihm gegen
die Verhängung des Fahrverbots vorgebrachten Umstände und
Hintergründe erforderten zur Aufklärung sein persönliches
Erscheinen, und ihn gefragt habe, ob er seinen
Entbindungsantrag aufrechterhalte, habe er mit Verteidiger-
schriftsatz vom 5. September 1994 geantwortet, er bleibe
dabei; zugleich habe er angeregt, ihn durch den ersuchten
Richter des Amtsgerichts seines Wohnortes vernehmen zu
lassen. Ohne zuvor über den Entbindungsantrag entschieden zu
haben, habe das Amtsgericht Chemnitz den Einspruch verworfen,
wobei es in den Urteilsgründen nur die formelhafte Begründung
des nicht genügend entschuldigten Ausbleibens angegeben habe;
auf die von ihm, dem Betroffenen, vorgetragenen
Gesichtspunkte sei es nicht eingegangen; es habe sie nicht
einmal mitgeteilt.
Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Dresden hat
beantragt, wegen des zulässig und begründet gerügten
Verfahrensverstoßes das Urteil aufzuheben und die Sache zur
erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
Der Beschwerdeführer hat, wie sich aus seinem Beschwerde-
vorbringen ergibt, geltend gemacht, das Urteil beruhe auf der
Verletzung des § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG.
Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben, §§ 79 Abs. 3 Satz 1
OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, und greift durch.
Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG kann das Gericht den Einspruch
gegen den Bußgeldbescheid durch Urteil verwerfen, wenn der
Betroffene, dessen persönliches Erscheinen in der Hauptver-
handlung angeordnet worden ist, ohne genügende Entschuldigung
ausbleibt.
Nach § 73 Abs. 2 OWiG kann das Gericht das persönliche
Erscheinen des Betroffenen in der Hauptverhandlung zur Auf-
klärung des Sachverhalts anordnen.
Die Anordnung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts;
die pflichtgemäße Ermessensausübung setzt eine sachgerechte
umfassende Würdigung aller im einzelnen Falle für und gegen
die gesetzlich zugelassene Maßnahme sprechenden
Gesichtspunkte voraus; die berechtigten Belange des
Betroffenen einerseits und das Interesse an möglichst voll-
ständiger Sachverhaltsaufklärung andererseits sind gegen-
einander abzuwägen, BGHSt 30, 172, 175
Im Rahmen der umfassenden Sachverhaltsaufklärung sind die
Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots zu
beachten, BVerfGE 24, 127, 133; BGH a.a.O. 175, 176.
Ist das Erscheinen des Betroffenen wegen weiter Entfernung
seines Wohnorts vom Gerichtsort mit erheblichen persönlichen
und sachlichen Aufwendungen verbunden, die im Verhältnis zur
Bedeutung der Sache unangemessen sind, so ist das Gericht
gehalten, zunächst die gebotene Sachaufklärung auf einem den
Betroffenen weniger belastenden Weg - wie mittels seiner
Vernehmung durch den ersuchten Richter, § 73 Abs. 3 Satz 1
OWiG - zu erreichen, BGH a.a.O. 176.
Daß diese Voraussetzungen für die Anordnung des persönlichen
Erscheinens erfüllt sind, muß das Gericht in den Gründen des
Urteils nachprüfbar darlegen, BayObLG, DAR 86, 250, 251.
Das Amtsgericht Chemnitz hat in den Gründen des Urteils
ausgeführt, es habe am 21. Juni 1994 "zur Aufklärung des
Sachverhalts" das persönliche Erscheinen des Betroffenen zur
Hauptverhandlung angeordnet; die Ladung, welche die
Mitteilung der Anordnung eine Belehrung über die Folgen eines
nicht genügend entschuldigten Ausbleibens enthalten habe, sei
am 12. Juli 1994 ordnungsmäßig zugestellt worden; das
Ausbleiben sei nicht genügend entschuldigt; besondere
Umstände, die eine Vorführung oder eine Sachentscheidung in
Abwesenheit hätten angezeigt erscheinen lassen, hätten nicht
vorgelegen; daher sei der Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG
verworfen worden.
Dies reicht nicht aus, um die Entscheidung rechtlich zu
tragen.
Das Amtsgericht Chemnitz hat nämlich keine tatsächlichen
Feststellungen getroffen, aus denen sich ergibt, daß das
Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung nicht
genügend entschuldigt gewesen ist; es hat sich im
wesentlichen damit begnügt, den Gesetzeswortlaut des § 74
Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz OWiG wiederzugeben. Das genügt
nicht. Vielmehr hätte es darlegen müssen, ob der Betroffene
Umstände vorgetragen hat, die gegen seine Pflicht zum
Erscheinen in der Hauptverhandlung gesprochen und sein Aus-
bleiben dort entschuldigt haben, was es dazu festgestellt hat
und ob sonst solche Umstände ersichtlich gewesen sind.
Mangels derartiger tatsächlicher Feststellungen kann der
Senat nicht überprüfen, ob die Ermessensausübung bei der
Anordnung des persönlichen Erscheinens und die Annahme des
unentschuldigten Ausbleibens in der Hauptverhandlung sowie
die Verwerfung des Einspruchs rechtsfehlerhaft gewesen sind.
Zu solchen Darlegungen hat vorliegend besonderer Anlaß
bestanden; denn der Betroffene hat, wie er mit der Rechts-
beschwerde vorgetragen hat und dessen Richtigkeit sich aus
den in den Akten vorliegenden Verteidigerschriftsätzen vom
13. Juli und 5. September 1994 ergibt, rechtzeitig vor der
Hauptverhandlung Umstände vorgetragen, bei deren Vorliegen
bereits die Anordnung seines persönlichen Erscheinens
rechtsfehlerhaft gewesen wäre, was zur Folge gehabt hätte,
daß er nicht ohne genügende Entschuldigung in der Haupt-
verhandlung ausgeblieben wäre und damit auch der Einspruch
nicht hätte verworfen werden dürfen.
Da wegen der 700 km weiten Anreise dem Betroffenen ein Auf-
wand an Zeit und Geld erwächst, der zur Bedeutung der Sache,
bei der es um eine zwar nicht unerhebliche, aber doch nicht
überdurchschnittlich bedeutsame Verkehrsordnungswidrigkeit
geht, nicht in einem angemessenen Verhältnis steht, hätte
seine, von ihm vorgeschlagene Vernehmung durch den ersuchten
Richter des Amtsgerichts seines Wohnorts als der ihn
wesentlich weniger belastende Weg offengestanden.
Daß auf diesem Weg die Aufklärung des Sachverhalts wenig
wahrscheinlich wäre, ist nicht zu erkennen; denn zum einen
hat der Betroffene im Verteidigerschriftsatz vom 13. Juli
1994 zugegeben, das Fahrzeug am Tattag am Tatort geführt zu
haben, weshalb es nicht als erforderlich erscheint, seine
Identifizierung als Täter durch seine persönliche Inaugen-
scheinnahme unter Vergleich mit den amtlich aufgenommenen
Tatbild durch das Amtsgericht Chemnitz vorzunehmen. Zum
anderen hat er im selben Schriftsatz erklärt, in der Sache
wende er sich gegen die Verhängung des Fahrverbots, weil er
Bedenken habe, ob der ihm vorgeworfene Pflichtverstoß in
objektiver und subjektiver Hinsicht als grob gewertet werden
könne; auch treffe das Fahrverbot ihn außergewöhnlich hart,
weil er als Handelsvertreter jährlich mehr als 100 000 km
zurücklege, ohne bis zum Tatgeschehen jemals
verkehrsrechtlich nachteilig in Erscheinung getreten zu sein,
und erwerbslos werde, wenn er nicht mehr fahren dürfe.
Inwiefern es nicht genügen sollte, daß er sich zu beiden
Fragenkreisen vor dem ersuchten Richter äußert, sondern es
nur persönlich in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht
Chemnitz tun könnte, um den Sachverhalt richtig aufzuklären,
ist ohne das Vorliegen besonderer Umstände nicht
nachvollziehbar.
Da bei dieser Sachlage nicht auszuschließen ist, daß das
Urteil auf dem gerügten Verfahrensverstoß beruht, ist es mit
den Feststellungen aufzuheben, §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 353
StPO.
Die Rückverweisung zur neuen Verhandlung und Entscheidung
erfolgt an das Amtsgericht Chemnitz, weil kein triftiger
Grund ersichtlich ist, der die Verweisung an ein anderes
Gericht erfordern könnte, § 79 Abs. 6 OWiG.
Für die neue Hauptverhandlung wird darauf hingewiesen, daß -
was im Bußgeldbescheid unterblieben ist - auch darüber zu
entscheiden ist, ob der Betroffene die Verkehrsordnungs-
widrigkeit - sollte er sie verübt haben - vorsätzlich oder
fahrlässig begangen hat; denn das Nichtbefolgen einer durch
ein Vorschriftszeichen getroffenen Anordnung ist vorsätzlich
oder fahrlässig begehbar, § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO; die
Schuldform hat Bedeutung für den anzuwendenden Rahmen der
Geldbuße.
Freuer
Strobel
Schwäble
Vors. Richter am
Richter am
Richterin
Oberlandesgericht
Oberlandesgericht