Urteil des OLG Celle vom 04.10.2006

OLG Celle: sachliche zuständigkeit, funktionelle zuständigkeit, willkür, einzelrichter, gesellschaftsrecht, handelssache, ausnahme, gerichtsverfassungsgesetz, anwendungsbereich, kompetenzkonflikt

Gericht:
OLG Celle, 04. Zivilsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 4 AR 74/06
Datum:
04.10.2006
Sachgebiet:
Normen:
ZPO § 348
Leitsatz:
Ist ein Rechtsstreit einem der in § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO genannten Sachgebiete zuzuordnen
und besteht nach dem Geschäftsverteilungsplan für diesen Rechtsstreit eine Spezialzuständigkeit der
Zivilkammer, scheidet eine originäre Zuständigkeit des Einzelrichter auch dann aus, wenn der
Kammer die Zuständigkeit für das jeweilige Sachgebiet nicht vollständig übertragen worden ist.
Volltext:
4 AR 74/06
32 O 44/06 Landgericht Hannover - 7. Kammer für Handelssachen
1 O 118/06 Landgericht Hannover - Zivilkammer
B e s c h l u s s
In dem Verfahren
über die Bestimmung des zuständigen Gerichts
pp.
hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht H., den
Richter am Oberlandesgericht P. und den Richter am Oberlandesgericht R. am 4. Oktober 2006 beschlossen:
Das Landgericht - 1. Zivilkammer - Hannover ist zunächst zuständig.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
G r ü n d e :
Über den negativen Kompetenzkonflikt zwischen der 1. Zivilkammer und der 7. Kammer für Handelssachen - des
Landgerichts Hannover ist auf den Vorlagebeschluss der 7. Kammer für Handelssachen vom 25. September 2006 in
analoger Anwendung der §§ 36 Abs. 1 Nr. 6, 37 ZPO durch den Senat als das nächsthöhere Gericht zu entscheiden,
nachdem sich beide Spruchkörper zuvor rechtskräftig (§ 102 Satz 1 GVG) mit den Beschlüssen vom 31. Juli und 25.
September 2006 für (funktionell) unzuständig erklärt haben (vgl. Senat OLGR Celle, 2004, 370. OLG Stuttgart OLGR
2002, 455. OLG Düsseldorf NJWRR 2001, 1220. OLG Braunschweig NJWRR 1995, 1535. BGH - obiter dictum -
NJW 2000, 80, 81).
Die 1. Zivilkammer des Landgerichts Hannover ist zuständig, weil der Verweisungsbeschluss ihrer Einzelrichterin
vom 31. Juli 2006 entgegen § 102 Satz 2 GVG ausnahmsweise für die Kammer für Handelssachen nicht als bindend
anzusehen ist.
Ein Verweisungsbeschluss kann nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 2003,
3201) dann nicht als verbindlich hingenommen werden, wenn er auf Willkür beruht. Hierfür genügt es allerdings nicht,
dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem
Beschluss jede rechtliche Grundlage fehlt (vgl. BGH NJWRR 2002, 1498). Dies ist auch dann der Fall, wenn der
Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr
verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 29, 45, 49. BGH MDR 1996, 1032). Darüber
hinaus muss die Bindung im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dann zurücktreten, wenn sie zu einer
willkürlichen Ausschaltung des gesetzlichen Richters führen würde, die auf Rechtsmittel zur Aufhebung der
Entscheidung führen müsste (vgl. Zöller/Gummer, ZPO, 25. Aufl. § 102 Rn. 6 m. w. N.).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Allerdings ist die Auffassung der Einzelrichterin der 1.
Zivilkammer des Landgerichts Hannover, die ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts Hannover und
innerhalb des Landgerichts der Kammer für Handelssachen sei in analoger Anwendung von § 246 Abs. 3 Satz 1 und
2 AktG gegeben, nicht als objektiv willkürlich anzusehen. Zwar fehlt es an einem rechtzeitigen Verweisungsantrag
des Klägers gemäß § 96 GVG. Die Einzelrichterin der 1. Zivilkammer hat indes den Verweisungsbeschluss auch
nicht mit dem Charakter des Rechtsstreits als Handelssache gemäß § 95 Abs. 4 a GVG begründet, sondern auf die
entsprechende Anwendung einer nach seiner Auffassung einschlägigen Spezialnorm verwiesen, die in ihrem
unmittelbaren Anwendungsbereich für aktienrechtliche Anfechtungsklagen eine von Anträgen der Parteien
unabhängige ausschließliche sachliche Zuständigkeit des Landgerichts und zugleich eine ausschließliche
Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen (soweit bei dem Landgericht vorhanden) begründet. Diese Auffassung
wird immerhin auf die in einem weit verbreiteten Kommentar zum GmbHGesetz (vgl. Baumbach/HueckZöllner,
GmbHG, 6. Aufl. 2006, Anh. zu § 47 Rdnr. 168) vertretene Ansicht gestützt, nach der für gesellschaftsrechtliche
Anfechtungsklagen bei der GmbH die ausschließliche (sachliche) Zuständigkeit des Landgerichts in analoger
Anwendung von § 246 Abs. 3 Satz 1 AktG bestehen und innerhalb des Gerichts gemäß § 246 Abs. 3 Satz 2 AktG
die Kammer für Handelssachen (funktionell) zuständig sein soll. Die Vorsitzende der Kammer für Handelssachen
geht selbst davon aus, dass für gesellschaftsrechtliche Anfechtungsklagen bezüglich einer GmbH § 246 AktG
analog anzuwenden sei. Ob ihre Auffassung zutrifft, dass durch die entsprechende Anwendung von
Gesetzesnormen eine ausschließliche Zuständigkeit nicht begründet werden kann, muss der Senat nicht
abschließend entscheiden. Die unter Hinweis auf das Literaturzitat näher begründete abweichende Auffassung der
Einzelrichterin der 1. Zivilkammer würde nämlich auch dann insoweit allenfalls auf einem einfachen
Rechtsanwendungsfehler beruhen. Objektive Willkür erfordert indes eine offensichtlich unhaltbare Beurteilung.
Der Verweisungsbeschluss vom 31. Juli 2006 ist jedoch deshalb als objektiv willkürlich anzusehen, weil der
Beschluss nicht von der Zivilkammer in voller Besetzung gemäß § 76 GVG, sondern durch die Einzelrichterin
gefasst worden ist. Die Einzelrichterin, die den Beschluss ohne die vorherige Übertragung durch die Kammer gemäß
§ 348 a Abs. 1 ZPO gefasst hat, war nicht als der gesetzliche Richter anzusehen. Eine originäre
Einzelrichterzuständigkeit gemäß § 348 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist nicht begründet worden, weil das Präsidium des
Landgerichts in seinem Geschäftsverteilungsplan für 2006 (IV a 1., S. 24) der 1. Zivilkammer die
Spezialzuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten aus dem Gesellschaftsrecht sowie aus Anstellungsverhältnissen von
Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern (Ausnahme: Rechtsstreitigkeiten aus dem Vereins und
Genossenschaftsrecht) zugewiesen hat. Bei der hier einschlägigen Rechtstreitigkeit aus dem Gesellschaftsrecht
handelt es sich um eine Handelssache im Sinne des § 95 Abs. 4 a HGB. Die originäre Zuständigkeit des
Einzelrichters greift jedoch nicht ein, wenn nach dem Geschäftsverteilungsplan die Zuständigkeit der Kammer wegen
der Zuordnung des Rechtsstreits u.a. zu dem Sachgebiet „Streitigkeiten aus Handelssachen im Sinne von § 95
GVG“ begründet ist, § 348 Abs. 1 Satz 2 f ZPO. Der Umstand, dass der 1. Zivilkammer die Zuständigkeit für das
vorbezeichnete Sachgebiet nicht vollständig übertragen worden ist, ist nicht erheblich. Gehört nämlich der
Rechtsstreit zu einem Spezialgebiet des im Gesetz genannten Katalogs und ist er der Kammer wegen einer damit
nicht unbedingt deckungsgleichen Spezialzuständigkeit zugewiesen, so scheidet eine originäre
Einzelrichterzuständigkeit aus und der Rechtsstreit kann nur auf dem Wege einer Übertragung nach § 348 a ZPO an
den Einzelrichter gelangen (ZöllerGreger, 25. Aufl. § 348 Rdnr. 7). Dieses Verständnis der Regelung des § 348 Abs.
1 Satz 2 ZPO führt auch nicht zu unüberwindlichen praktischen Schwierigkeiten. Bei Zweifeln über das Vorliegen der
Voraussetzungen des Ansatzes 1 entscheidet nämlich die Kammer gemäß § 348 a Abs. 2 ZPO durch
unanfechtbaren Beschluss. Eine derartige Entscheidung ist hier jedoch ebenfalls nicht ergangen. Die nach alledem
vorliegende Beschlussfassung durch die Einzelrichterin ohne die gemäß § 348 a Abs. 1 ZPO notwendige
Übertragung der Sache durch die zuständige Kammer stellt einen nicht heilbaren Verfahrensfehler dar, weil der
grundrechtlich verbürgte Anspruch auf den gesetzlichen Richter berührt ist. Insoweit gilt nichts anderes als für den
umgekehrten Fall der Entscheidung der Kammer anstelle des originär zuständigen Einzelrichters (vgl. dazu: Senat
OLGR Celle 2004, 370). Ohne einen bindenden Verweisungsbeschluss der Zivilkammer ist der Rechtsstreit dort
weiter anhängig.
Die 1. Zivilkammer wird nunmehr ihre funktionelle Zuständigkeit erstmals in ihrer im Gerichtsverfassungsgesetz
vorgeschriebenen vollen Besetzung eigenverantwortlich zu prüfen haben.
H. R. P.