Urteil des LSG Sachsen vom 03.02.2004
LSG Fss: firma, berufsunfähigkeit, rente, anstellung, qualifikation, kündigung, industrie, arbeitslosigkeit, bote, beweisregel
Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 03.02.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 14 KN 106/02
Sächsisches Landessozialgericht L 6 KN 38/03
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 13.05.2003 aufgehoben. II. Der
Bescheid der Beklagten vom 04.04.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2002 wird aufgehoben.
III. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung zu bewilligen. IV. Die
Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits für beide Instanzen zu erstatten. V. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der am ...1959 geborene Kläger absolvierte zunächst eine zweijährige Lehre als Maschinist für Großgeräte und war
danach von 1977 bis 1980 als Kipper bzw. Oberkipper bei bergbaulicher Rentenversicherung tätig. Bergbaulich
versichert war auch seine Tätigkeit als Bagger-, Absetzerfahrer von 1980 bis 1987. Bis 1990 war er dann bei
nichtbergbaulicher Versicherung mit Meistertätigkeiten in der Blechverarbeitung beschäftigt. Seine
Industriemeisterprüfung (Meister für Maschinenbau) legte er am 15. Mai 1990 ab, diese Prüfung wurde von der
Industrie- und Handelskammer L ... der Prüfung zum Industriemeister Metall gleichgestellt (Bescheid vom
26.02.1993). Vom 24.08.1987 bis zum 30.06.1990 war der Kläger bei der Firma VEB B ... bzw. dem Nachfolgebetrieb
R ... L ... als Meister beschäftigt. Anschließend war er zunächst arbeitslos bis zum 16.08.1990, anschließend war er
als Kraftfahrer/Tiefbauer eingesetzt (Firma E ... K ... P ..., L ...); auch auf diesem Gebiet qualifizierte er sich jedoch
bald zum Vorarbeiter; bei der Firma S ... wurde er zunächst als gehobener Baufacharbeiter, dann als Bauvorarbeiter
und schließlich als Werkpolier beschäftigt. Vom 10.08.1998 bis zum 16.04.1999 war der Kläger bei einer anderen
Bauunternehmung als Vorarbeiter im Tiefbau eingesetzt. Das Arbeitsverhältnis endete durch betriebsbedingte
Kündigung zum 19.04.1999. Anschließend arbeitete der Kläger als LKW-Fahrer und Möbeltransporteur bei der
Speditionsfirma H ... GmbH. Das Arbeitsverhältnis wurde zunächst bis zum 31.01.2000 befristet und dann mit
erneutem Arbeitsvertrag zum 31.01.2000 als unbefristetes Arbeitsverhältnis ab 01.02.2000 weitergeführt. Dieses
Arbeitsverhältnis endete durch betriebsbedingte Kündigung zum 26.05.2000. Hiernach bestand Arbeitslosigkeit.
Am 09.08.2000 zog sich der Kläger eine Kreissägenverletzung mit Durchtrennung der tiefen Beugesehne des fünften
Fingers links zu. Seitdem hat der Kläger keine Kraft mehr in der linken Hand. Es treten dort Krämpfe auf. Nach
Einschätzung des Sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten besteht nahezu Funktionsuntüchtigkeit der linken
Hand.
Am 07.11.2000 beantragte der Kläger bei der LVA Rente wegen Berufsunfähigkeit. Diese leitete den Antrag an die
Beklagte weiter.
Mit Bescheid vom 04.04.2001 verneinte die Beklagte nach medizinischen Ermittlungen den Anspruch auf Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit und wegen Berufsunfähigkeit. Der Kläger sei nicht erwerbsunfähig, da er noch als Bote,
Lichtpauser, Pförtner etc. tätig sein könne. Berufsunfähig sei der Kläger nicht, da er, ausgehend vom Hauptberuf als
Kraftfahrer und Möbelträger, ebenfalls zumutbar als Bote bzw. Pförtner verwiesen werden könne. Mit Bescheid vom
26.04.2001 wurde Rente für Bergleute wegen verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau (§ 45 SGB VI) bewilligt mit
einem Zahlbetrag von monatlich 159,66 DM ab dem 01.06.2001.
Mit dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.04.2001 machte der Kläger geltend, er habe lediglich
Berufsunfähigkeitsrente beantragt. Sein Hauptberuf sei nicht der Beruf eines Kraftfahrers und Möbelpackers, dies sei
nur seine letzte Tätigkeit gewesen, da er als Tiefbaumeister bzw. Baumaschinist keine Anstellung auf dem
Arbeitsmarkt bekommen habe.
Der Widerspruch wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 13.02.2002 zurückgewiesen. Der
Berufswechsel zu der Tätigkeit als Kraftfahrer/Möbelpacker sei "freiwillig ... wegen einer Kündigung" erfolgt. Er habe
die Tätigkeit als Tiefbaumeister nicht aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Er habe auch nicht nachgewiesen,
dass er weiterhin versucht habe, eine erneute Anstellung in seiner "Hauptberufstätigkeit" zu erhalten.
Der Kläger hat gegen die Ablehnung Klage zum Sozialgericht Chemnitz erhoben und vorgetragen, er habe ab 04/1999
und ab 05/2000 dem Arbeitsamt als Vorarbeiter bzw. als Polier zur Verfügung gestanden. Dieser Vortrag wurde durch
eine entsprechende Bescheinigung des Arbeitsamts bestätigt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 13.05.2003 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Berufsschutz, da
er sich von seinem Beruf als Vorarbeiter und Polier gelöst habe. Der Wille, zu diesem Beruf zurückzukehren, sei nicht
zum Ausdruck gekommen. Darüber hinaus sei ein solcher Wille auch nur beachtlich, wenn er auch realisierbar sei und
der Versicherte eine reelle Chance habe und sie auch zu nutzen versuche. Die bloße Arbeitslosmeldung als
Werksmeister und Polier ersetze eigene Bemühungen, in die frühere höherwertige Tätigkeit zurückzukehren, nicht.
Nach dem Abschluss des unbefristeten Arbeitsvertrages am 31.01.2001 und weiterer Ausübung der höher als bisher
entlohnten Tätigkeit sei die Lösung von dem ursprünglichen Beruf nachgewiesen.
Mit der Berufung trägt der Kläger vor, er habe sich keineswegs von seinem Hauptberuf gelöst, vielmehr habe er sich
bei der Bundesanstalt als Polier und Meister arbeitslos gemeldet; die Abmeldung während seiner Arbeitslosigkeit aus
der Kartei der Arbeitssuchenden während der Zeit seiner Tätigkeit bei der Möbelspedition sei automatisch erfolgt. Dies
wurde durch entsprechende Aussage der Arbeitsvermittlerin bestätigt. Er habe sich aber unabhängig von der
Bundesanstalt für Arbeit auch noch privat mehrfach in seinem bisherigen Beruf beworben, so bei der Firma K ... in L
... und bei der Firma E ... in L ..., jeweils Anfang des Jahres 2000. Er habe auch immer wieder bei bekannten Firmen
im Raum L ... telefonisch nach entsprechender Arbeit nachgefragt.
Er beantragt,
1. Das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 13.05.2003 (Az. S 14 KN 106/02) sowie den Bescheid der Beklagten
vom 04.04.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2002 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
3. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 13.05.2003 zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die beigezogene
Beklagtenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat der Kläger Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente gemäß § 43 SGB
VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (a.F.), da Berufsschutz besteht. Der Kläger hatte sich von seinem
Beruf als Werkpolier und Vorarbeiter nicht gelöst. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist
ausgeführt, dass zwar nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die vorübergehende Aufnahme
einer anderen Tätigkeit für den Berufsschutz unschädlich sei, weil sie nicht zum Erwerb eines neuen Dauerberufes
und damit auch nicht zum Verlust des alten Berufes führe (BSG, Urteil vom 22.03.1988 - 8/5 a RKn 9/86 - SozR 2200
§ 1246 Nr. 158). Hiervon könne jedoch im vorliegenden Falle nicht ausgegangen werden, da das Arbeitsverhältnis bei
der Firma H ... nach dem 31.01.2000 als unbefristetes Arbeitsverhältnis fortgeführt worden sei, welches dann zum
26.05.2000 betriebsbedingt beendet worden sei.
Aber selbst die Aufnahme einer unbefristeten minderqualifizierten Tätigkeit führt nicht automatisch zum Verlust des
Berufsschutzes. Vielmehr ist der innere Lösungswille maßgebend. Es müsste anhand der äußeren Umstände ein
solcher Wille festgestellt werden (BSG, Urteil vom 30.07.1997 - 5 RJ 20/97). Eine Beweisregel des Inhalts, dass
bereits die Aufnahme einer unbefristeten minderqualifizierten Tätigkeit dem ersten Anschein nach für eine Lösung
vom bisherigen Beruf spricht und damit den Versicherten verpflichtet, das "Nichtvorhandensein" eines solchen Willens
seinerseits zu beweisen, existiert nicht. Die objektive Beweislast liegt daher auf Seiten des Versicherungsträgers, der
die für ihn günstige Tatsache, nämlich dass der Versicherte sich von seinem bisherigen höher qualifizierten Beruf
gelöst hat, beweisen müsste. Für das Gericht können hierbei alle äußeren Umstände einschließlich des Verhaltens
des Versicherten und selbstverständlich auch seine eigenen Erklärungen indiziell gewichtet werden. Ein Indiz,
welches dafür sprechen könnte, dass der Kläger gar nicht mehr beabsichtigte, als Vorarbeiter bzw. Meister eine
Anstellung zu finden, könnte in der relativ guten Bezahlung seiner minderqualifizierten Tätigkeit gesehen werden.
Jedoch allein der Umstand, dass diese Tätigkeit höher bezahlt wurde als das letzte - höher qualifizierte -
Beschäftigungsverhältnis, beweist noch nicht, dass tatsächlich ein Lösungswille vorlag. Vergleichsmaßstab ist hier
nicht das letzte Beschäftigungsverhältnis, sondern alle denkbaren qualifikationsgerechten Tätigkeiten des
Arbeitsmarktes. Unter Zugrundelegung dieses Vergleichsmaßstabes war die neue Tätigkeit als Kraftfahrer bei einer
Möbelspedition keineswegs besser bezahlt als durchschnittlich die denkbaren Anstellungen in den bisherigen Berufen.
Es liegen keine Gründe vor, warum ein gesunder Meister der volkseigenen Industrie, der sich erst kürzlich zum
Tiefbaupolier weiterqualifiziert hatte, es für alle Zeit aufgegeben haben sollte, einen seiner Qualifikation
entsprechenden Beruf anzustreben. Ebensowenig sind Gesichtspunkte erkenntlich, die einen objektiven Druck in
diese Richtung anzeigen könnten. Es handelt sich bei dem Beruf des Poliers (Tiefbau) keineswegs um eine überholte,
nicht mehr zeitgemäße oder nicht arbeitsmarktgerechte Qualifikation. Für den Senat erscheint es nicht
nachvollziehbar, warum sich der Kläger damit abgefunden haben sollte, dass "eine Rückkehr zum früheren Beruf nicht
möglich und die Ausübung eines anderen Berufes zwangsläufig auf Dauer ausgerichtet ist" (KassKomm-Niesel § 240
SGB VI Rnr. 22). Die allgemein als "angespannt" geltende Arbeitsmarktsituation ist gerade nicht dadurch
gekennzeichnet, dass qualifizierte Tätigkeiten praktisch unerreichbar sind - für Bewerber, die die
Qualifizierungsmerkmale erfüllen - und auf der anderen Seite ein Überangebot an unterqualifizierten Tätigkeiten
bestünde.
Tatsächlich hat sich die Situation für den Kläger praktisch vollkommen anders dargestellt: Er war arbeitslos und aus
dieser Situation natürlich motiviert, auch für einen Übergang eine befristete gutbezahlte Tätigkeit anzunehmen. Nach
Ablauf des zunächst auf ein halbes Jahr befristeten Arbeitsverhältnisses war er schon wegen der sonst unweigerlich
eingetretenen Sperrzeit verpflichtet, dem Verlängerungsvertrag zuzustimmen. Gleichzeitig schrieb er jetzt
Bewerbungen in seinem bisherigen Beruf, startete telefonische Nachfragen, da er nunmehr tatsächlich befürchten
musste, bei der Möbelspeditionsfirma zu bleiben und somit auf Dauer seine gerade erst erworbene Qualifikation
versicherungsrechtlich aber auch tatsächlich zu verlieren. Die Auffassung der Beklagten, dass der Kläger schon
während des befristeten Arbeitsverhältnisses "bis zu 50" Bewerbungen zu aus Branchenverzeichnissen
herausgesuchten Baufirmen hätte schreiben müssen, um seinen "mangelnden Lösungswillen zu beweisen", teilt der
Senat nicht. Zum einen ist es strategisch sinnvoll, sich lediglich auf freie Stellen und nicht auf besetzte zu bewerben,
zum anderen ist es im Baugewerbe eher üblich, zunächst einmal telefonisch anzufragen, als gleich eine schriftliche
Bewerbung mit Lebenslauf und Lichtbild abzuschicken und schließlich hatte der Kläger seinen mangelnden
Lösungswillen bereits durch den Abschluss des befristeten Arbeitsvertrages kundgetan. Dass er auch nach
Umwandlung dieses Arbeitsvertrages in einen unbefristeten sich bemühte, nicht Kraftfahrer bei einer Möbelspedition
zu bleiben, sondern wieder in seinen alten Beruf hereinzukommen, hat er durch den Nachweis der zwei schriftlichen -
erfolglosen - Bewerbungen im Tiefbaubereich ausreichend kundgetan. Dadurch wird auch seine Behauptung gestützt,
telefonische Nachfragen geführt zu haben.
Unstreitig sind bei dem bis zur Rentenantragstellung ununterbrochen versicherungspflichtig tätigen bzw. arbeitslos
gemeldeten Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeitsrente gegeben; dass er
mit der praktischen Gebrauchsunfähigkeit seiner linken Hand weder als Tiefbaupolier noch in zumutbaren
Verweisungsberufen tätig sein kann, ist ebenfalls unstreitig und bedarf auch keiner weiteren Erörterung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen
nicht vor. -