Urteil des LSG Sachsen vom 25.04.2002
LSG Fss: wiederaufnahme des verfahrens, kopfschmerzen, rücknahme, prozesshandlung, widerruf, universität, ambulanz, halbbruder, heilbehandlung, anerkennung
Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 25.04.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 10 VG 6/99
Sächsisches Landessozialgericht L 6 VG 2/02
I. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Berufungsrücknahme erledigt ist. II. Außergerichtliche Kosten sind
nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Erklärung der Berufungsrücknahme begehren
kann, nachdem ursprünglich um die Gewährung von Beschädigtenversorgung gestritten wurde.
Der am ...1976 geborene Kläger geriet zusammen mit seinem Halbbruder K ...-D ... B ... am 21.06.1997 im
Regionalexpress 3536 von Stralsund nach Cottbus in eine Auseinandersetzung. Er und sein Halbbruder wurden von
den später angeschuldigten C ... K ... und M ... B ... tätlich angegriffen. Dem Kläger wurde mit der flachen Hand in
das Gesicht geschlagen, mit der Faust auf die Schulter und die Arme. Er brachte den Zug durch die Notbremse zum
Stehen. Der Kläger wurde in der Notaufnahme des Kreiskrankenhauses P ... GmbH versorgt. Hier wurden folgende
Diagnosen gestellt: Schädelprellung, Schürfwunde, Kontusion linke Schulter und Unterkiefer.
Der Kläger stellte am 22.07.1997 einen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen Kopfschmerzen,
Schulterschmerzen und Rückenproblemen. Nach Beiziehen von Unterlagen der AOK Sachsen, der Ermittlungsakte
der Staatsanwaltschaft, der Patientenunterlagen von Dipl.-Med. B1 ... und eines Befundes der Neurologischen
Ambulanz der Universität L ... über die Vorstellung des Klägers am 09.07.1997 erließ das Versorgungsamt Cottbus
am 04.12.1998 einen Bescheid über die teilweise Ablehnung von Beschädigtenversorgung. Unter Anerkennung eines
Anspruches auf Heilbehandlung wurden folgende Gesundheitsstörungen nach dem OEG festgestellt: "Schädel-Hirn-
Trauma, Kopfschmerzen fronto-temporal links nach SHT, Schulterkontusion, Unterkieferkontusion".
Beschädigtenrente wurde nicht gewährt, weil Folgen der Schädigung beim Kläger nicht mehr vorlägen, und die
gesundheitliche Beeinträchtigung nur vorübergehender Art gewesen sei. Der Widerspruch des Klägers vom 05.12.1998
wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21.06.1999 zurückgewiesen.
Hiergegen wandte sich der Kläger mit Klageschriftsatz vom 24.06.1999 an das Sozialgericht (SG) Leipzig. Sein
Antrag nach dem OEG sei ungerechtfertigt abgelehnt worden, obwohl er dem Versorgungsamt alle Informationen
zugänglich gemacht habe. Von Januar bis Mitte April 1999 sei er aufgrund der Gewalttat erneut erkrankt. Er habe
immer noch mit Kopfschmerzen zu kämpfen.
Das SG Leipzig erörterte am 07.09.1999 mit den Beteiligten den Sachverhalt und zog die medizinischen Unterlagen
des Arbeitsamtes L ... sowie die Befundberichte von Dipl.-Med. B2 ..., Dr. H1 ... und Dipl.-Med. R1 ... bei. Mit Urteil
vom 13.03.2001 wurde die Klage abgewiesen. Die Anspruchsvoraussetzungen für das Begehren des Klägers seien
nicht erfüllt. Zwar sei gegen ihn ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff am 21.06.1997 erfolgt.
Dementsprechend habe das Versorgungsamt Cottbus in dem Bescheid vom 04.12.1998 auch eine Anerkennung
vorgenommen und Heilbehandlung vom 21.06. bis 09.07.1997 gewährt. Weitergehende Folgen habe auch das Gericht
nicht feststellen können, weil die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nur von vorübergehender Art waren. Die am
Unfalltag im Krankenhaus P ... vorgenommene Behandlung habe keine wesentlichen äußeren und inneren
Verletzungen erkennen lassen. Auch die sich daran anschließende Behandlung durch den Hausarzt Dipl.-Med. B1 ...
enthalte lediglich den Hinweis, dass am 26.06.1997 noch Kopfschmerzen bestanden hätten und dass eine
Überweisung an die Chirurgische Uni-Klinik L ... sowie an die Neurologische Klinik veranlasst wurde. Zwar habe sich
der Kläger am 09.07.1997 in der Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität L ... vorgestellt und
dort fronto-temporale Kopfschmerzen links beklagt, zu der geplanten Untersuchung (EEG) am 24.07.1997 sei er aber
nicht mehr erschienen. Die am 26.06.1997 gefertigten Röntgenaufnahmen des Schädels hätten keine sicheren
Verletzungsfolgen ergeben. Auch enthalte das Arbeitsamtsgutachten vom 10.02.1999 keine Hinweise auf beim Kläger
noch im Juni 1997 bestehende Kopfschmerzen. Auch nach den Unterlagen der behandelnden Ärzte Dipl.-Med. B2 ...,
Dipl.-Med. R1 ... und Dr. H1 ... könnten keine bleibenden Schädigungsfolgen angenommen werden.
Gegen das dem Kläger mit Einschreiben vom 10.05.2001 zugestellte Urteil legte dieser am 05.06.2001 beim SG
Leipzig Berufung ein. Das Recht stehe auf seiner Seite. Das Gericht in W ... habe die Täter rechtmäßig verurteilt. Er
könne nicht verstehen, warum das Gericht etwas abweise, obwohl er alle Unterlagen vorgebracht habe.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem 1. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts vom 07.11.2001 zog
der Kläger seine Berufung zurück. Ausweislich der Sitzungsniederschrift wurde die Berufungsrücknahme nochmals
vorgelesen und genehmigt. Der Kläger wurde durch den Senat vorher darauf hingewiesen, dass gemessen am
derzeitigen nachgewiesenen Beschwerdebild der angefochtene Bescheid des Beklagten nicht zu beanstanden sein
dürfte. Er wurde darauf hingewiesen, dass das schädigende Ereignis als solches nicht in Zweifel gezogen werde.
Mit Fax vom 12.12.2001 beantragte der Kläger die Wiederaufnahme des Verfahrens. Begründet wurde dies damit,
"dass zu dem Verfahren nicht alle Unterlagen verstanden worden wären". Auch habe er festgestellt, dass nicht nur die
Unterlagen des Hausarztes, sondern auch die über die Behandlung im Kreiskrankenhaus P ... und die Akten der
Staatsanwaltschaft dabeigewesen wären. Ihm sei nicht bekannt gewesen, dass er Zeugen bestellen könne, die zu
seiner gesundheitlichen Sache Aussagen machen könnten. Die Verhandlung sei "durch Mißverständlichkeit bezogen
worden".
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
festzustellen, dass das Verfahren L 1 VG 4/01 nicht durch Berufungsrücknahme erledigt wurde, und das Urteil des SG
Leipzig vom 13.03.2001 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 04.12.1998 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.06.1999 zu verurteilen, dem Kläger ab dem 21.06.1997
Beschädigtenversorgung nach einer MdE von mindestens 25 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält die Entscheidung des SG Leipzig für zutreffend. Der Kläger habe im Termin zur mündlichen
Verhandlung die Berufung zurückgenommen. Damit sei das Verfahren beendet. Wiederaufnahmegründe gemäß § 179
Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien nicht ersichtlich.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen
sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Feststellungsantrag des Klägers ist zulässig, § 55 Abs. 1 SGG, in der Sache jedoch unbegründet.
Das Verfahren L 1 VG 4/01 wurde durch die Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 07.11.2001
beendet.
Gemäß § 156 Abs. 1 SGG kann die Berufung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen
werden. Dies ist Ausfluss der auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Dispositionsmaxime. Die Rücknahme
stellt eine Prozesshandlung dar und ist gegenüber dem LSG zu erklären. Bei einer Zurücknahme in der mündlichen
Verhandlung ist diese zu Protokoll zu nehmen und dem Erklärenden vorzulesen (vgl. § 122 SGG i.V.m. § 162 ZPO;
Meyer-Ladewig, SGG, § 156 Rn. 2). Diese Förmlichkeiten wurden in der Sitzung vom 07.11.2001 beachtet. Der Kläger
hat gegenüber dem damals zuständigen Senat wörtlich erklärt: "Ich ziehe die Berufung hiermit zurück." Ausweislich
des Protokolles wurde diese Aussage ihm vorgelesen und vom ihm genehmigt. Dies wird vom Kläger auch in keiner
Weise angegriffen. In seinem Schriftsatz vom 11.12.2001 geht auch er davon aus, dass er die "Klage"
zurückgenommen hat. Mit der Rücknahme wurde das Urteil des Sozialgerichts rechtskräftig.
Gründe, die der Wirksamkeit der Berufungsrücknahme entgegenstehen, sind nicht ersichtlich. Als Prozesshandlung
setzt die Berufungsrücknahme grundsätzlich Prozessfähigkeit voraus (vgl. Meyer-Ladewig, § 156 SGG, Rn. 2), doch
bestehen hier keine Anhaltspunkte, dass der Kläger nicht prozessfähig war. Er hat sowohl das Verfahren vor dem SG
Leipzig bestritten wie auch die Berufung selbst eingelegt. Damit steht es zu seiner Disposition, sie auch wieder
zurücknehmen.
Der Kläger kann die Berufungsrücknahme vom 07.11.2001 auch nicht wirksam anfechten oder widerrufen. Anfechtung
oder Widerruf sind grundsätzlich nicht zulässig (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 156 Rn. 2; BSGE 14, 138 ff.). Einlegung
und Rücknahme von Klage und Berufung sind gestaltende Prozesshandlungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen
und Formerfordernisse dem Prozessrecht und nicht dem materiellen Recht unterliegen. Die Grundsätze des
bürgerlichen Rechts über Nichtigkeit und Anfechtbarkeit von Willenserklärungen sind auf Prozesshandlungen nicht
anwendbar (Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 102 SGG, Anm. 2). Etwas anderes gilt nur
dann, wenn der Widerruf gleichzeitig mit der Zurücknahme bei Gericht eingeht oder wenn ein Berufungsurteil nach den
Bestimmungen des Vierten Buches der Zivilprozessordnung (ZPO) angegriffen werden könnte (§ 179 SGG i.V.m. §§
578 ff. ZPO). Diese Ausnahmen liegen hier nicht vor. Der Widerruf ging zeitlich mehr als einen Monat nach der
Berufungsrücknahme bei Gericht ein und auch Wiederaufnahmegründe sind nicht gegeben. Solche werden in dem
Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens vom 11.12.2001 auch nicht geltend gemacht. Dass dem Kläger nicht bekannt
war, dass er auch Zeugen zu seinem Gesundheitszustand benennen könnte, stellt keinen Grund für eine
Wiederaufnahme des Verfahrens dar. Dass er sich zwischenzeitlich überlegt hat, das Verfahren dennoch
fortzusetzen, ist für die Frage der Gültigkeit der Prozesshandlung unbeachtlich. Der Kläger war sich grundsätzlich
darüber klar, dass der Rechtsstreit mit seiner Berufungsrücknahme beendet wurde.
Eine sachliche Prüfung des Begehrens des Klägers scheidet ebenso wie eine Zeugenanhörung zu seinem
Gesundheitszustand aus, da durch die Berufungsrücknahme das anhängige Streitverfahren rechtskräftig beendet
wurde. Der (unechte) Hilfsantrag zur Sachentscheidung steht unter der Bedingung, dass der Feststellungsantrag
durchdringt. Da dies nicht der Fall ist, kann über den Antrag in der Sache nicht entschieden werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Revisionsgründe sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.