Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.01.2003

LSG Rpf: freiwillige versicherung, rente, nachzahlung von beiträgen, eintritt des versicherungsfalls, erwerbsunfähigkeit, berufsunfähigkeit, firma, neurologie, erwerbsfähigkeit, beitragslücke

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Urteil vom 29.01.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Koblenz
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 6 RA 52/02
1. Das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 26.2.2002 sowie der Bescheid der Beklagten vom 13.11.1998 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.7.2000 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zur
Nachentrichtung von Beiträgen zur Antragspflichtversicherung für den Zeitraum von April 1994 bis November 1997
zuzulassen und ihm vorbehaltlich der Beitragszahlung die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1.7.1998 zu gewähren.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten ein Anspruch des 1954 geborenen Klägers auf Rente wegen Erwerbs- oder
Berufsunfähigkeit, wobei die Beklagte davon ausgeht, dass die besonderen versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen nicht vorliegen.
Der Kläger hat den Beruf eines Gipsformgießers erfolgreich erlernt. Von 1976 bis 1982 war er beim
Bundesgrenzschutz beschäftigt. Von Oktober 1982 bis zur Abschlussprüfung am 3.7.1985 besuchte der Kläger die
staatliche Fachschule Bildungsgang Keramik-Gestaltung, Höhr-Grenzhausen. Vom 30.7.1985 bis zum 30.11.1985
arbeitete der Kläger bei der Firma B in K , F. Von Januar 1986 bis Januar 1987 machte der Kläger eine Ausbildung
zum Kerammodelleur. Er bestand die Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer zu Koblenz am 16.1.1987.
Anschließend arbeitete er versicherungspflichtig in diesem Beruf und machte sich im April 1993 selbständig. Ab Mai
1995 betrieb der Kläger allein eine Firma.
Im März 1994 sprach der Kläger bei der Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten in Bonn vor. Er ersuchte um
Aufklärung darüber, inwieweit für ihn ein Versicherungsschutz bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bestehe. Er stellte
einen Antrag auf freiwillige Versicherung für das Jahr 1993. Mit entsprechendem Formularantrag, der bei der
Beklagten am 26.4.1994 einging, stellte er einen Antrag auf freiwillige Versicherung, den er um den Begriff der
Anwartschaftsversicherung ergänzte. Gleichzeitig stellte er einen Antrag auf Feststellung von
Kindererziehungszeiten/Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für seine am 17.2.1984 geborene Tochter
Anna und einen Antrag auf Kontenklärung. Mit Schreiben vom 4.8.1997 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er die
Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit nicht erfülle. Der Zeitraum von Januar 1984
bis Dezember 1985 sei nicht mit Beiträgen belegt. Zur Klärung anderer Zeiten seien noch Auskünfte erforderlich. Der
Kläger wurde um Mitteilung binnen 4 Wochen gebeten, ob er seinen Antrag auf Beitragszahlung für eine freiwillige
Versicherung ab April 1993 aufrecht erhalte. Falls er sich innerhalb dieses Zeitraumes nicht melde, werde der Vorgang
als abgeschlossen betrachtet.
Am 25.12.1997 kam es bei dem Kläger zu einer intracraniellen Blutung im Stammganglienbereich links. In Folge trat
bei ihm eine rechtsseitige Hemiparese auf. Im Juli 1998 stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit. Die Beklagte zog einen ärztlichen Entlassungsbericht der W -
Klinik-Schwerpunktklinik Neurologie und Psychosomatik - W 21.7.1998 bei. Darin wurde ausgeführt, dass aufgrund der
schweren Erkrankung mit halbseitiger Lähmung und ausgeprägten Sprachstörungen der Kläger nicht in der Lage sei,
in seinem ursprünglichen Beruf zu arbeiten. Er sei auch den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht
gewachsen. Eine abschließende Beurteilung sei nicht möglich. Es müsse die Therapie abgewartet werden. Die
Beklagte holte ein Gutachten von Dr. K , Arzt für Neurologie und Psychiatrie, B E , vom 6.10.1998 ein. Dieser kam zu
dem Ergebnis, das der Kläger nach seinem Apoplex nicht mehr in der Lage sei, einer Erwerbsfähigkeit nachzugehen.
Die Beklagte holte einen Entlassungsbericht des neurologischen Rehabilitationszentrums "G ", B vom 15.6.1999 ein.
Darin berichtete der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B , dass der Kläger unverändert an einer hochgradigen
rechtsseitigen brachio-facial betonten spastischen Hemisymptomatik mit begleitender Hemihypästesie leide. Der
Kläger sei weiterhin erwerbsunfähig. Mit Bescheid vom 13.11.1998 und Widerspruchsbescheid vom 27.7.2000 lehnte
die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Es fehle an den erforderlichen besonderen versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen. Dem Antrag auf Zahlung von freiwilligen Beiträgen für die Jahre 1993 und 1994 könne nicht
entsprochen werden. Auch bei einer Nachzahlung von Beiträgen für diesen Zeitraum könnten die
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit nicht
erfüllt werden. Der Zeitraum des Auslandsaufenthaltes von August 1985 bis November 1985 sei rentenrechtlich nicht
belegt.
Durch Urteil vom 26.2.2002 hat das Sozialgericht Koblenz (SG) die Klage abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Der
Versicherungsverlauf des Klägers enthalte für den maßgeblichen Zeitraum von Januar 1992 bis zum Eintritt des
Versicherungsfalls im Dezember 1997 nur 15 Pflichtbeiträge. Ein Anspruch auf Versichertenrente komme auch unter
den Voraussetzungen der Regelungen der §§ 240 Abs. 2 , 241 Abs. 2 SGB VI a.F. nicht in Betracht, da für die Zeit
von August bis Dezember 1985 eine Beitragslücke bestehe. Die Anerkennung einer Berücksichtigungszeit wegen
Kindererziehung scheide nach § 57 iVm § 56 Abs. 3 SGB VI aus, da keine Entsendung vorgelegen habe. Die Zeit
könne auch nicht als Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1, Nr. 4 SGB VI anerkannt werden, da es sich hierbei
nicht um einen Teil einer Schulausbildung gehandelt habe. Die Ausbildung des Klägers sei am 3.7.1985 mit der
Prüfung abgeschlossen gewesen. Es habe keine Gesamtausbildung bestehend aus Schulbesuch und Praktikum
vorgelegen. Auch bei freiwilliger Nachentrichtung von Beiträgen könne die Lücke im Jahre 1985 nicht mehr
geschlossen werden.
Gegen das am 26.3.2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.4.2002 Berufung eingelegt.
Der Kläger ist der Auffassung, er hätte auch über die Antragspflichtversicherung informiert werden müssen. Im Wege
des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches müsse es ihm ermöglicht werden, rückwirkend Beiträge zur
Pflichtversicherung zu erbringen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 26.2.2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13.11.1998 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.7.2000 aufzuheben und ihn zur Nachentrichtung von
Pflichtversicherungsbeiträgen für den Zeitraum von April 1994 bis Dezember 1997 zuzulassen und die Beklagte unter
dieser Bedingung zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die getroffenen Entscheidungen für zutreffend.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte der
Beklagten. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten sind aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zulassung
zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Antragspflichtversicherung und auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach
Entrichtung der Pflichtversicherungsbeiträge.
Vorliegend sind die §§ 43, 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung heranzuziehen, da der Kläger
seinen Rentenantrag bereits im Juli 1998 gestellt hat. Tatbestandsvoraussetzung für die Gewährung einer Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit war nach diesen Vorschriften, dass der Versicherte in den letzten
60 Kalendermonaten vor Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit mindestens 36 Kalendermonate mit
Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt hat.
Der Versicherungsfall ist bei dem Kläger am 25.12.1997 eingetreten. An diesem Tag erlitt er im
Stammganglienbereich links eine Blutung, die zu einer hochgradigen rechtsseitigen spastischen Hemisymptomatik
führte. Nach Überzeugung des Senats kann der Kläger nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt keine gewinnbringenden Tätigkeiten mehr verrichten. Dies ergibt sich aus dem Gutachten
von Dr. K vom 6.10.1998 und dem Bericht des neurologischen Rehabilitationszentrums "G vom 15.6.1999. Danach ist
es unwahrscheinlich, dass bei dem Kläger auch ein nur halbschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt wiederhergestellt werden kann.
Ausgehend von einem Versicherungsfall im Dezember 1997 umfaßt der maßgebliche Zeitraum die Zeit von Dezember
1992 bis November 1997. In diesem Zeitraum sind für den Kläger 4 Monate mit Pflichtbeiträgen im
Versicherungsverlauf vermerkt.
Zutreffend sind die Beklagte und das SG davon ausgegangen, dass ein Anspruch des Klägers auf Versichertenrente
nicht durch die §§ 240 Abs. 2, 241 Abs. 2 SGB VI a.F. begründet werden kann. Der Versicherungsfall ist zweifelsfrei
nicht vor dem 1.1.1984 bzw. im Laufe des Jahres 1984 eingetreten. Für den Kläger besteht auch eine nicht mit
berücksichtigungsfähigen Zeiten oder Beitragszeiten belegter Zeitraum von August 1985 bis Dezember 1985, so dass
die Voraussetzungen des § 240 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 6 SGB VI nicht erfüllt sind. Zur Vermeidung von
Wiederholungen verweist der Senat insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils und sieht
von einer Darstellung seiner eigenen Entscheidungsgründe ab. Zutreffend ist auch, dass durch die Nachentrichtung
freiwilliger Beiträge für die Jahre 1993 und folgende kein Anspruch des Klägers begründet werden kann, da die Lücke
im Jahr 1985 nicht geschlossen werden kann.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist jedoch nicht auszuschließen, dass der Kläger die versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung noch erfüllen kann.
Der Kläger ist nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nachträglich zur
Antragspflichtversicherung zuzulassen. Der Kläger war ab April 1993 selbständig tätig. Er hat sich im März 1994 an
die Beklagte gewandt, um sich zu informieren, welche Möglichkeit er hat, um in den Genuss einer Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit der Beklagten zu kommen. Nach dem nicht in substanziierter Weise angegriffenen
Vorbringen des Klägers ist er damals nicht auf die Möglichkeit hingewiesen worden, seinen Versicherungsschutz
durch eine Antragspflichtversicherung nach § 4 Abs. 2 SGB VI aufrecht zu erhalten. Auch die Niederschrift zur
Vorsprache des Klägers in der Auskunfts- und Beratungsstelle der Beklagten in Bonn vom 31.3.1994 enthält keinen
Hinweis auf eine Information zur Antragspflichtvesicherung. Zu einer solchen Beratung bestand jedoch Anlass, da der
Kläger sich gerade über die Möglichkeit der Aufrechterhaltung seines Versicherungsschutzes für eine Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit informieren wollte. Der Kläger hätte auch zwingend darüber informiert werden müssen,
da wegen der Beitragslücke im Jahr 1985 die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nicht zielführend war. Dies
hätte für die Beklagte besonderer Anlass sein müssen, den Kläger darauf hinzuweisen und ihm anheim zu stellen, den
Antrag auf Zulassung zur freiwilligen Versicherung in einen solchen auf Antragspflichtversicherung als Selbständiger
abzuändern (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.6.1994 - 13 RJ 25/93).
Zwar darf nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass der
Kläger, wenn er über die Möglichkeit der Antragspflichtversicherung informiert worden wäre, dies auch entsprechend
getan hätte, da die Beiträge höher gewesen wären als entsprechende Mindestbeiträge zur freiwilligen
Rentenversicherung. Das Beratungsbegehren und der darin ganz offensichtlich zum Ausdruck kommende Wunsch
des Klägers, sich die Möglichkeit einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zu erhalten, lässt den
Schluss zu, dass der Kläger bei einer ausreichenden Beratung sich veranlasst gesehen hätte, einen Antrag auf
Antragspflichtversicherung zu stellen. Hierfür spricht auch die schriftliche Ergänzung des Klägers in seinem Antrag
auf Beitragszahlung zur Angestelltenversicherung. Der Kläger vermerkte unter dem vorgedruckten Text "freiwillige
Versicherung" den Begriff der Anwartschaftsversicherung. Die Firma des Klägers war nach seinen Angaben
wirtschaftlich erfolgreich, so dass er wirtschaftlich in der Lage war, höhere Pflichtbeiträge zu erbringen. 1994 war der
Kläger Vater von 4 Kindern, was für sein erhöhtes Sicherungsbedürfnis im Fall von EU und BU spricht.
Die Regelung des § 197 Abs. 1 SGB VI, wonach Pflichtbeiträge wirksam sind, wenn sie gezahlt werden, so lange der
Anspruch auf ihre Zahlung noch nicht verjährt ist, steht der Nachentrichtungsmöglichkeit nicht entgegen. Nach § 197
Abs. 3 SGB VI ist in Fällen besonderer Härte, insbesondere bei drohendem Verlust der Anwartschaft auf eine Rente,
der Antrag des Versicherten auf Zahlung von Beiträgen auch nach Ablauf der im Abs. 1 genannten Frist zuzulassen,
wenn der Versicherte an der rechtzeitigen Beitragszahlung ohne Verschulden gehindert war. Dies ist unzweifelhaft der
Fall, weil der Kläger unvollständig und damit falsch beraten wurde.
Die Versicherungspflicht beginnt nach § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB VI mit dem Tag, der dem Eingang des Antrags
folgt, frühestens jedoch mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen eingetreten sind. Bei dem Kläger, der sich am
31.3.1994 hat beraten lassen, ist somit von einer Antragstellung am 31.3.1994 auszugehen. Er ist daher für die
Nachentrichtung von Beiträgen zur Antragspflichtversicherung für die Zeit vom 1.4.1994 bis zum 30.11.1997
zuzulassen. Der Kläger ist damit in die Lage versetzt, mehr als 36 Pflichtbeiträge zu erbringen.
Da der Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen durch Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen
noch erfüllen kann, ist die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Rentenzahlung ist jedoch davon abhängig, dass der Kläger tatsächlich die geschuldeten Pflichtbeiträge erbringt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.