Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 24.10.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 24.10.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 5 RI 445/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 2 RI 216/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) bzw. Erwerbsunfähigkeit (EU).
Die am 19. September 1960 geborene Klägerin ist gelernte Verkäuferin und bestand die Prüfung zur
Einzelhandelskauffrau. Bis Dezember 1986 war sie als Verkäuferin versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt
befristet. Von Januar bis Oktober 1987 folgt eine Tätigkeit als Bestückerin. In der Folge war die Klägerin arbeitslos
und nur noch zeitweise als Aushilfe beschäftigt. Im April 1991 nahm sie ein Beschäftigungsverhältnis als
Altenpflegehelferin im I. e.V. an, das am 30. September 1998 endete, nachdem die Klägerin seit Dezember 1994
arbeitsunfähig krank war. Nach Auslaufen ihres Arbeitslosengeld(Alg)-Anspruches bezog die Klägerin Arbeitslosenhilfe
(Alhi). Derzeit ist vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig ein Rechtsstreit um die Weitergewährung dieser Leistung
anhängig.
Die Beklagte gewährte der Klägerin medizinische Leistungen zur Rehabilitation (Reha) vom 10. bis 24. April 1996 in
der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont. Der Entlassungsbericht vom 10. Mai 1996 nennt als
Entlassungsdiagnosen:
- psychophysische Erschöpfung vor dem Hintergrund unklarer Überforderung
- cerebraler Krampfanfall 1/95 Eine Leistungsbeurteilung enthält der Entlassungsbericht nicht. Die Klägerin hatte die
Maßnahme vorzeitig abgebrochen.
Am 20. August 1996 beantragte die Klägerin erstmals die Gewährung von Rente wegen BU bzw. EU.
Die Beklagte zog einen hausärztlichen Befundbericht ein und veranlasste eine Begutachtung durch die Ärztin für
Anästhesiologie J ... Diese kam in ihrem Gutachten vom 28. Januar 1997 zu dem Ergebnis, die Klägerin leide an
verminderter psychischer Belastbarkeit mit Angstanfällen, Panikattacken, Tremor und Schweißausbrüchen,
wiederkehrendem Herzrasen ohne Anhalt für organische Ursachen und einem Zustand nach zweimaligen
Krampfanfällen im Februar und Dezember 1996. Es bestehe noch ein vollschichtiges Restleistungsvermögen für
leichte Arbeit ohne Schicht- oder Nachtdienst, ohne Absturzgefahr, nicht an laufenden Maschinen, ohne besonderen
Zeitdruck und ohne besondere nervliche Belastung. Ein erneutes Heilverfahren sei empfehlenswert.
Nach Beteiligung ihres Ärztlichen Dienstes lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag mit Bescheid vom 12. März 1997
ab.
Auf den Widerspruch der Klägerin vom 4. April 1997, den sie mit einer hausärztlichen Bescheinigung begründet hatte,
holte die Beklagte das Gutachten des Nervenarztes Dr. K. vom 3. Juli 1997 ein. Darin kam der Gutachter zu der
Auffassung, bei der Klägerin seien ein Anfallsleiden, eine Angstneurose sowie psychovegetative
Regulationsstörungen zu diagnostizieren. Im augenblicklichen Zustand sei sie nicht in der Lage, eine regelmäßige
Tätigkeit außerhalb ihres Wohnbereiches auszuüben. Zur Behandlung der Angstneurose sei ein erneutes Heilverfahren
sinnvoll.
Daraufhin erkannte die Beklagte das Vorliegen von EU auf Zeit an, bewilligte der Klägerin auf Grund eines
Leistungsfalles vom 20. August 1996 Rente wegen EU vom 1. März 1997 bis 28. Februar 1998, die später bis zum
31. Mai 1998 weitergewährt wurde, und gewährte ihr erneut medizinische Leistungen zur Reha.
Vom 7. Oktober bis 4. November 1997 absolvierte die Klägerin daraufhin ein Heilverfahren in der Fachklinik L ... Der
Entlassungsbericht vom 19. November 1997 nannte als Entlassungsdiagnosen:
1. Epilepsie. 2. Funktionelle Störungen psychischen Ursprungs 3. Uterusmyom.
Das Anfallsleiden sei medikamentös eingestellt. Ein Leistungsbild könne erst nach entsprechendem anfallsfreiem
Intervall neu erstellt werden.
Auf die Weitergewährungsanträge der Klägerin vom 17. Dezember 1997 bzw. 25. Februar 1998 holte die Beklagte das
weitere Gutachten des Nervenarztes Dr. K. vom 13. März 1998 ein. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, die
Leistungsfähigkeit der Klägerin werde noch durch die Angstneurose und das Anfallsleiden beeinträchtigt. Ihr Verhalten
bei dem Heilverfahren in der Fachklinik L. habe aber gezeigt, dass sie durchaus in der Lage sei, Kontakte aufzubauen
und sich außerhalb der Wohnung zu bewegen, deshalb seien ihr nunmehr wieder leichte Arbeiten vollschichtig
möglich. Eine weitere Arbeitsunfähigkeit der Klägerin sei von seiner Seite nicht zu empfehlen, da ihr damit auch
jegliche Motivation genommen werde, sich zu belasten. Eine optimale Einstellung der Anfallsbereitschaft, notfalls eine
medikamentöse Therapie der Ängste und eine Psychotherapie sollten der Klägerin soviel Kraft geben, dass sie leichte
Arbeiten vollschichtig verrichten kann.
Daraufhin lehnte die Beklagte den Weitergewährungsantrag mit Bescheid vom 29. April 1998 ab. Die medizinischen
Voraussetzungen seien für eine Rentenzahlung über den Wegfallzeitpunkt hinaus nicht mehr gegeben.
Mit ihrem Widerspruch vom 8. Mai 1998 machte die Klägerin unter Vorlage eines entsprechenden hausärztlichen
Attestes geltend, ihr Gesundheitszustand sei seit der erstmaligen Zeitrentengewährung unverändert.
Nach Beteiligung ihres Ärztlichen Dienstes wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 16.
September 1998 zurück. Unter Berücksichtigung der bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen besitze die Klägerin
wieder ein vollschichtiges Restleistungsvermögen für leichte Arbeiten.
Mit ihrer hiergegen am 8. Oktober 1998 vor dem SG Braunschweig erhobenen Klage machte die Klägerin geltend,
weiterhin in rentenberechtigendem Maße leistungsgemindert zu sein.
Das SG Braunschweig zog einen Befundbericht des behandelnden Hausarztes Dr. M. bei und holte das Gutachten
des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. vom 19. November 1999 ein. Der Sachverständige nannte als
Diagnosen:
1. Chronifizierte Angststörung mit Paniksyndrom. 2. Somatoforme autonome Störung (Herzklopfen, Tremor). 3.
Zustand nach zweimaligen generalisierten cerebralen Krampfanfällen.
Die Klägerin sei noch in der Lage, körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auszuüben, wenn
Arbeiten mit besonderem Gefährdungspotential (frei laufende Maschinen, Gerüstarbeiten und Schichtdienst)
vermieden würden. Sie sei noch in der Lage, eine leichte Beschäftigung, z.B. leichte Sortierarbeiten oder Büroarbeiten
überwiegend im Sitzen mit den üblichen Ruhepausen vollschichtig auszuüben.
Daraufhin hat das SG Braunschweig die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. Juni 2000 abgewiesen. Die Klägerin sei
weder berufs- noch erwerbsunfähig. Als ungelernte Altenpflegehelferin genieße sie keinen Berufsschutz. EU-Rente
stünde ihr nicht zu, weil die während des Gerichtsverfahrens und zuletzt im Verwaltungsverfahren eingeholten
Gutachten keine rentenrelevante Einschränkung des Restleistungsvermögens ergeben hätten.
Mit ihrer hiergegen am 29. Juni 2000 eingelegten Berufung macht die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres
bisherigen Vorbringens geltend, die Beklagte und das SG Braunschweig hätten die bei ihr vorliegenden
Gesundheitsstörungen nicht hinreichend gewürdigt. Insbesondere sei es ihr auch unter Anstrengung aller zumutbaren
Willenskräfte nicht möglich, die sich aus ihren Gesundheitsstörungen ergebenden Hindernisse, einer regelmäßigen
Erwerbstätigkeit nachzugehen, zu überwinden.
Die Klägerin beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 5. Juni 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 29.
April 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 1998 aufzuheben, und
2. die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise, Rente wegen Berufsunfähigkeit, über
den 31. Mai 1998 hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat im vorbereitenden Verfahren das Gutachten der Fachärztin für Neurologie,
Psychiatrie und Psychotherapie Dr. O. vom 15. Januar 2001 eingeholt. Die Sachverständige nannte als Diagnosen:
1. Cerebrales Anfallsleiden. 2. Angst- und Panikstörung mit soziophobischen und vegetativen Symptomen.
Aus nervenärztlicher Sicht sei die Klägerin weiterhin einsatzfähig für sämtliche Frauenarbeiten mit normalem, ihrem
Ausbildungsstand angemessenen Anforderungsprofil, wenn keine Tätigkeiten unter vermehrtem Stressanfall oder
Zeitdruck, in gefährlichen Höhen oder an gefährlichen Geräten verrichtet würden. Unter diesen Einschränkungen
bestehe weiterhin ein vollschichtiges Leistungsvermögen.
Des Weiteren hat der Senat die Arbeitgeberauskunft des P. e.V. vom 19. September 2001 beigezogen.
Außer der Gerichtsakte haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Leistungsakte des Arbeitsamtes Hildesheim
vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§ 143 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und
somit zulässig.
In der Sache ist sie unbegründet. Die Beklagte und das SG Braunschweig haben zutreffend entschieden, dass die
Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen BU bzw. EU hat.
Anspruch auf Rente wegen BU nach § 43 Abs. 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) in der bis
zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung, die hier nach § 300 Abs. 2 SGB VI weiter Anwendung findet, haben
Versicherte, wenn sie unter anderem berufsunfähig sind. Nach § 43 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig Versicherte,
deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig
und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten
gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst
alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und
Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen
Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Arbeit vollschichtig ausüben
kann; dabei muss die jeweilige Arbeitsmarktlage außer Betracht bleiben.
Die Klägerin ist nicht berufsunfähig im Sinne dieser Bestimmung.
Der medizinische Sachverhalt ist durch die im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren beigezogenen ärztlichen
Unterlagen und eingeholten Gutachten geklärt. Danach leidet die Klägerin an einer Angst- und Panikstörung mit
soziophobischen und vegetativen Symptomen bei latenter Anfallbereitschaft nach zweimaligen generalisierten
cerebralen Krampfanfällen im Jahre 1996. Das ergibt sich aus einer Zusammenschau der Gutachten von Dr. N. und
Dr. O., steht in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen des Hausarztes der Klägerin und ist im Übrigen zwischen
den Beteiligten auch unstreitig.
Dieser Befund bedingt eine Reihe qualitativer Leistungseinschränkungen. Die Klägerin darf nicht mehr mit Tätigkeiten
unter vermehrtem Stressanfall oder Zeitdruck und mit Arbeiten, die ein besonderes Gefährdungspotenzial enthalten
(freilaufende Maschinen, Gerüstarbeiten und Schichtdienst), beschäftigt werden. Bei Beachtung dieser
Einsatzbeschränkungen liegt jedoch noch ein vollschichtiges Restleistungsvermögen zumindest für körperlich leichte
Arbeiten vor. Auch insoweit schließt sich der Senat der Beurteilung durch die Sachverständigen Dr. O. und Dr. N. an,
denn sie haben die Leistungseinschränkungen der Klägerin zutreffend und überzeugend aus den diagnostizierten
Gesundheitsstörungen hergeleitet. Soweit die Klägerin einwendet, es sei ihr auch unter Einsatz aller zumutbaren
Willenskräfte nicht möglich, die sich aus ihren Gesundheitsstörungen ergebenden Hindernisse, einer regelmäßigen
Erwerbstätigkeit nachzugehen, zu überwinden, vermag dies das Rentenweitergewährungsbegehren nach den
schlüssigen Ausführungen der Sachverständigen Dr. N. und Dr. O., deren Feststellungen mit denjenigen des Dr. K.
übereinstimmen, nicht zu stützen. Zwar können auch psychisch bedingte Störungen zu BU oder EU führen. Diese
führen aber nur zur Rente, wenn sie durch willentliche Beeinflussung - auch mit ärztlicher Hilfe - nicht mehr behebbar
d.h. unüberwindbar sind (vgl. dazu KK-Niesel, § 43 SGB VI Anm. 74 sowie BSG SozR Nr. 38, 39 und 76 zu § 1246
RVO sowie Urteil vom 12.09.1990 - S 5 RJ 88/99 -). Zuletzt hat dazu die Sachverständige Dr. O. ausgeführt, dass die
Klägerin einer kombinierten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung einschließlich medikamentöser
Therapie zugänglich sei. Die Sachverständige führt für den Senat überzeugend weiter aus, die praktisch intakte
partnerschaftliche Beziehung der Klägerin könne einen entsprechenden therapeutischen Prozess abstützen. Damit
korrespondiert auch die von der Klägerin selbst gegenüber der Sachverständigen Dr. O. gemachte Angabe, für sich
noch nicht mit dem Erwerbsleben abgeschlossen zu haben.
Mit dem noch vorhandenen Restleistungsvermögen muss sich die Klägerin auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen
Arbeitsmarktes verweisen lassen, ohne dass ihr eine konkrete Tätigkeit benannt zu werden braucht. Berufsschutz im
Sinne des vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Mehrstufenschemas der Berufe steht der Klägerin nicht zu.
Als bisheriger Beruf gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI ist die von ihr zuletzt ab April 1991 ausgeübte Beschäftigung als
Altenpflegehelferin anzusehen. Hierbei handelt es sich nach der Arbeitgeberauskunft des Philipp-Spitta-Vereins Peine
e.V. vom 19. September 2001 um eine ungelernte Tätigkeit, was durch die tarifliche Eingruppierung bestätigt wird.
Demgegenüber kann der erlernte Beruf der Verkäuferin mit Prüfung zur Einzelhandelskauffrau nicht als bisheriger
Beruf berücksichtigt werden, denn die Klägerin hat ihre Tätigkeit im erlernten Beruf nicht aus gesundheitsbedingten
Gründen aufgegeben.
Steht der Klägerin keine Rente wegen BU zu, so hat sie erst Recht keinen Anspruch auf Rente wegen EU, weil deren
Gewährung an noch engere Voraussetzungen geknüpft ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es liegt kein gesetzlicher Grund vor, die Revision zuzulassen.