Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 06.02.2003
LSG Nsb: abstrakte normenkontrolle, beitragspflicht, klageänderung, niedersachsen, ehepartner, klageerweiterung, gleichbehandlung, klagegrund, einwilligung, rechtsschutz
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 06.02.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bremen S 11 RI 165/98
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 12 RI 38/00
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 12. Mai 2000 wird zurückgewiesen. Die
weitergehende Klage wird als unzulässig abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind der Klägerin hinsichtlich der
Kosten, die ihr bis zum Ende des Klageverfahrens entstanden sind, zu 2/3, im Übrigen nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin eine höhere Altersrente zusteht.
Die am 13. Dezember 1921 geborene Klägerin ist Mutter zweier Kinder (geboren am 3. März 1951 und 15. April 1957).
Sie bezieht nach dem Bescheid der Beklagten vom 14. November 1986 Altersruhegeld ab Januar 1987. Grundlage der
Berechnung waren u. a. Pflichtbeiträge bis Januar 1945 und freiwillige Beiträge aus dem Zeitraum von Janu-ar 1950
bis Juli 1956, ferner Kindererziehungszeiten (KEZ), die in dem Zeitraum vom 26. März bis 1. Juli 1951 und 7. Januar
bis 6. April 1952 mit der Entrichtung von freiwilli-gen Beiträgen zusammenfielen. Sodann wurde für den Zeitraum vom
21. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 eine Ersatzzeit berücksichtigt.
Die Klägerin hat am 17. Dezember 1986 Klage beim Sozialgericht (SG) Bremen erhoben und zunächst geltend
gemacht, die während der KEZ gezahlten freiwilligen Beiträge müssten sich rentensteigernd auswirken; es sei
verfassungswidrig, dass niedrige freiwil-lige Beiträge zu einer schlechteren Bewertung von Ersatz- und Ausfallzeiten
führten.
Angesichts von beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahren ist das Klage-Verfahren mit
Beschluss des SG vom 29. September 1992 ausgesetzt worden. Eine weitere Aussetzung des Rechtsstreits bis zu
einer gesetzlichen Neuregelung für das Zusammentreffen von KEZ mit Beitragszeiten hat das SG Bremen am 31.
Januar 1997 beschlossen.
Mit Bescheiden vom 7. April 1998 und 4. Mai 1998 hat die Beklagte die Rente der Kläge-rin neu festgestellt, wobei sie
geringfügige Nachzahlungen errechnet hat. Grund für die Rentenerhöhung ist nach diesen Bescheiden (Anlage 6),
dass zusätzliche persönliche Entgeltpunkte für KEZ in zeitlich gestaffeltem Umfang zu berücksichtigen sind. Unter
dem 26. Juni 1998 hat die Beklagte die neue Berechnungsweise dahingehend erläutert, dass KEZ bei
Zusammentreffen mit sonstigen in der gleichen Zeit zurückgelegten renten-rechtlichen Zeiten stets kumulativ
berücksichtigt werden. Die Beklagte hat andererseits auch darauf hingewiesen, dass eine Änderung der Bewertung
von Ersatz- bzw. Ausfall-zeiten bis Dezember 1964 durch die Rechtsänderung nicht eintrete. Die Beklagte hat ferner
eine Proberechnung vorgelegt, wonach sich eine Änderung der Rentenhöhe nicht ergibt, wenn freiwillige Beiträge
während KEZ (1. April 1951 bis 31. März 1952) unbe-rücksichtigt blieben.
Mit Urteil vom 12. Mai 2000 hat das SG Bremen die Klage abgewiesen. Das Gericht hat zur Begründung ausgeführt,
die Ersatzzeiten der Klägerin könnten nicht höher bewertet werden. Sie seien vielmehr in dem ursprünglichen
Bescheid der Beklagten nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) zutreffend berechnet worden.
Es seien nämlich die bis zum 31. Dezember 1964 angefallenen Werteinheiten durch die 125 Monate, in denen
Beiträge entrichtet worden seien, geteilt worden. Hieraus habe sich ein Wert von 3,26 ergeben. Zwar wäre dieser Wert
höher ausgefallen, wenn keine freiwilligen Beiträge gezahlt worden wären und nur die 80 Monate mit Pflichtbeiträgen
Berücksichtigung gefunden hätten. Der Gesetzgeber habe aber festgelegt, dass zur Wertermittlung von beitragslosen
Zeiten der Monatsschnitt aller innerhalb eines be-stimmten Zeitraums vorhandenen Beitragszeiten heranzuziehen sei.
Da KEZ bis 1985 nicht als Beitragszeiten ausgestaltet seien, sondern als Versicherungszeiten eigener Art,
beeinflussten die KEZ nicht die Bewertung von Ersatzzeiten. Der Gesetzgeber sei auch berechtigt gewesen, in
Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips eine solche Berechnung für beitragslose Zeiten vorzusehen. Die Regelung
stelle ferner eine zulässige Bestim-mung des Inhalts und der Schranken des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1
Satz 2 Grundgesetz (GG) dar; es sei in diesem Zusammenhang nicht zu beanstanden, dass sich die Bewertung von
beitragslosen Zeiten an den Beitragszahlungen ausrichte. Auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
des Art. 3 GG liege nicht vor. An-gesichts des Umfangs ihrer Pflichtbeiträge und freiwilligen Beiträge sei die Klägerin
nicht vergleichbar mit denjenigen Versicherten, die weniger als 60 Beitragsmonate aufwiesen und deren Ersatzzeiten
infolgedessen nach pauschalen Mindestwerten festgesetzt wür-den.
Gegen dieses ihr am 24. Juli 2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24. August 2000 Berufung beim
Landessozialgericht (LSG) Bremen eingelegt. Sie trägt vor, nach dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG
dürften in der gesetzlichen Rentenversiche-rung Versicherte nicht schlechter gestellt werden als Einkommenserzieler,
die nicht der gesetzlichen Rentenversicherung angehörten. Dies könne nur dann erreicht werden, wenn sich Beiträge
zur gesetzlichen Rentenversicherung generell rentensteigernd aus-wirkten. Der Gesetzgeber habe aber hinsichtlich der
Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung und hinsichtlich des der Beitragspflicht unterliegenden
Einkommens willkürliche und damit verfassungswidrige Regelungen getroffen. Dies wirke sich insbe-sondere bei der
rentenrechtlichen Behandlung von Familien aus.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 12. Mai 2000 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihrer Bescheide
vom 14. November 1986, 7. April 1998 und 4. Mai 1998 zu verurteilen, ihr Altersruhegeld in der Weise zu zahlen, dass
aus der Berech- nung des Wertes der Ersatzzeiten die frei- willigen Beiträge für die Monate April bis Juli 1951 sowie
Januar bis März 1952 aus der Berechnung herausgenommen werden.
Ferner beantragt die Klägerin,
1. die willkürliche Festlegung der Beitragspflicht von Rentenversicherungsbeiträgen aufzuheben und durch eine
Beitragspflicht für alle Menschen zu ersetzen,
2. die willkürliche Festlegung, welche Einkünfte der Beitragspflicht unterliegen, aufzuheben und durch eine
Beitragspflicht auf alle Einkunftsarten zu ersetzen,
3. die Beitragspflicht ab dem 15. Lebensjahr beginnen und mit dem Ablauf des 65. Lebensjahres enden zu lassen,
wenn in dieser Zeit der Versicherungsfall nicht eingetreten ist,
4. die Umstellung der Rentenanpassungen von der Bruttolohnentwicklung der Einkommen auf die Netto-
lohnentwicklung der Einkommen und die Umstellung der Höhe der Rentenanpassung an die Höhe der In- flationsrate
rückwirkend ab Eintritt dieser Gesetzes- änderungen aufzuheben,
5. die jetzige Form der Witwer- und Witwenrenten ab- zuschaffen und die Einzelansprüche der Ehepartner in einen
gemeinschaftlichen Familienanspruch um- zuwandeln sowie die Höhe der beitragspflichtigen Einkommen von Familien
unabhängig von der Art der Einkommen und der Frage der Einkommens- verteilung auf die Ehepartner auf das
Doppelte der Höhe des beitragspflichtigen Einkommens einer Einzelperson festzulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die weiter- gehende Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Erwiderung auf die nach ihrer Auffassung zutreffenden Ausführun-gen in den
Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils.
Die Beklagte hat ferner mitgeteilt, dass sie in die angestrebte Erweiterung der Klage nicht einwillige und diese auch
nicht für sachdienlich halte, da im Wesentlichen eine Än-derung des Rentenversicherungsrechts begehrt werde,
welche in die Zuständigkeit der Gesetzgebungsorgane falle.
Das erkennende Gericht hat die Klägerin mit Schreiben vom 17. August 2001 auf Be-denken hinsichtlich der
Sachdienlichkeit der angestrebten Klageänderung hingewiesen.
Die beigezogene Rentenakte der Beklagten – Versicherungsnummer 28 131221 H 514 – und die Prozessakte des
LSG Niedersachsen-Bremen/SG Bremen – L 12 RI 38/00, S 11 RI 165/98 – sind zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist – bezogen auf ihren Hauptantrag – zulässig. Insbesondere ist ein Rechtsschutzbedürfnis
der Klägerin gegeben. Dieses könnte angesichts der von der Beklagten im Klageverfahren vorgelegten
Probeberechnung vom 7. Oktober 1999 zwar zweifelhaft erscheinen. In dieser Probeberechnung hat die Beklagte die
in den Mo-naten April bis Juli 1951 und Januar bis März 1952 entrichteten freiwilligen Beiträge un-berücksichtigt
gelassen und ist gleichwohl zum gleichen Vomhundertsatz für die Renten-bemessungsgrundlage von 37,92 gelangt.
Die Klägerin möchte die betreffenden freiwilli-gen Beiträge jedoch nicht insgesamt unberücksichtigt wissen, sondern
lediglich bei der Berechnung der Werteinheiten für die Ersatzzeiten. Dieses Begehren wurde von der Probeberechnung
nicht in vollem Umfange erfasst, so dass von einer höheren Rente der Klägerin für den Fall auszugehen ist, dass sie
mit ihrem Begehren durchdringen würde.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG Bremen hat die Klage zu Recht abge-wiesen, da der angefochtene
Bescheid der Beklagten in der Gestalt der Neufeststel-lungsbescheide rechtmäßig ist.
Das SG Bremen hat in dem angefochtenen Urteil eingehend dargelegt, aus welchen Gründen die in den Jahren 1945
und 1946 gelegenen Ersatzzeiten der Klägerin aufgrund aller bis 1964 entstandenen Beitragszeiten zu berechnen
waren. Es hat insbesondere da-rauf hingewiesen, dass hier keine Überschneidung zwischen Ersatzzeiten und KEZ
vorliegt. Das SG ist weiter im Einzelnen darauf eingegangen, dass ein Verstoß gegen verfassungsrechtliche
Grundsätze nicht zu erkennen ist. Das erkennende Gericht macht sich diese Ausführungen zu Eigen und nimmt
hierauf zur Vermeidung von Wiederholun-gen Bezug (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Ergänzend ist zu dem Vorbringen der Klägerin auszuführen, dass eine willkürliche Un-gleichbehandlung der Klägerin
und damit ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungs-grundsatz des Art. 3 GG nicht darin zu sehen ist, dass für die
Wertermittlung der Ersatz-zeiten die bis 1964 angefallenen Pflichtbeiträge und freiwilligen Beiträge zusammen-gefasst
werden. Es entspricht dem Versicherungsgedanken und kann schon von daher nicht als willkürlich angesehen werden,
dass die in einem für maßgeblich erachteten Zeit-raum entrichteten Beiträge insgesamt als Spiegelbild des
Versicherungslebens zur Grundlage der Berechnung der Ersatzzeiten gemacht werden.
Die Klageerweiterungsanträge, die die Klägerin in ihrem Berufungsschriftsatz vom 22. August 2000 gestellt hat, führen
nicht zu einer weitergehenden Prüfung durch das erkennende Gericht; denn sie sind nicht zulässig. Zwar sind eine
Klageänderung im Sin-ne des § 99 Abs. 1 SGG und eine Klageerweiterung im Sinne des § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG auch
im Berufungsverfahren möglich. Es gelten aber die gleichen Zulässigkeitsvoraus-setzungen wie im erstinstanzlichen
Verfahren (§ 153 Abs. 1 SGG).
Bei den Klagerweiterungsanträgen der Klägerin handelt es sich der Sache nach um eine Klageänderung und nicht
lediglich um eine Erweiterung des Klageantrags in der Haupt-sache oder in Bezug auf Nebenforderungen im Sinne von
§ 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG. Die über den Hauptantrag hinausgehenden Anträge der Klägerin stehen in keinem direkten
Zusammenhang mit dem Klagegrund und mit den angefochtenen Bescheiden. Die in den weitergehenden Anträgen der
Klägerin enthaltenen rechtspolitischen Forderungen sind der Sache nach Anträge auf eine abstrakte Kontrolle von
Gesetzesvorschriften. Eine solche abstrakte Normenkontrolle kennt das SGG jedoch nicht. Rechtsschutz durch die
Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kann nicht gegen eine Rechtsnorm in Anspruch ge-nommen werden, sondern nur
gegen Einzelakte des Leistungsträgers aufgrund solcher Rechtsnormen (s. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG 7.
Auflage § 55 Rz. 10a m. w. N.). Eine verfassungsrechtliche Prüfung der dem Rentenbescheid der Klägerin zugrunde
liegenden Rechtsvorschriften ist im vorliegenden Rechtsstreit im Rahmen der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage
durchgeführt worden, so dass für eine Erweite-rung im Sinne der weitergehenden Anträge der Klägerin kein Raum ist.
Wenn sich damit die Erweiterungsanträge der Klägerin als Klageänderung darstellen, wären diese nach § 99 Abs. 1
SGG nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Eine
Einwilligung der Beklagten liegt ausdrücklich nicht vor. Angesichts des oben bereits aufgezeigten Umstandes, dass
eine abstrakte Prüfung von Rechtsnormen im sozialgerichtlichen Verfahren nicht möglich ist, hält das Gericht die
Klageänderung auch nicht für sachdienlich. Ob die von der Klägerin vorgebrachten rechtspolitischen Argumente
stichhaltig und bei der künftigen Rechtsent-wicklung zu berücksichtigen sind, ist im politischen Raum durch die
Organe der Gesetz-gebung und nicht durch die an Recht und Gesetz gebundenen Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) zu
prüfen.
Die Berufung konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Für die Zulassung der Revision lag kein gesetzlicher Grund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG vor.