Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 03.09.2003

LSG Nsb: arbeitsunfähigkeit, rückforderung, subjektiv, niedersachsen, anhörung, unfallfolgen, unfallversicherung, zustand, rechtswidrigkeit, rechtsgrundlage

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 03.09.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 6 U 88/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 321/02
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 18. April 2002 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt die Zahlung einer Verletztenrente ab dem 1. März 1999, außerdem wendet sie sich gegen die
Rückforderung von Verletztengeld für den Zeitraum vom 19. November 1998 bis 28. Februar 1999. Die 1934 geborene
Klägerin ist als Unternehmerin bei der Beklagten versichert. Am 24. Oktober 1997 rutschte sie beim Betreten ihres
Geschäfts aus und fiel auf das Gesäß. Am selben Tag suchte sie ihre Hausärztin Dr. C. auf und am 27. Oktober 1997
den Durchgangsarzt Dr. D. (E.). Bei der Untersuchung durch Dr. D. fanden sich keine äußeren Verletzungszeichen,
jedoch ein geringer Druckschmerz über dem lateralen Beckenkamm. Die röntgenologische Untersuchung der rechten
Hüfte ergab keine knöchernen Verletzungen. Dr. D. diagnostizierte eine Prellung des rechten Beckenkamms und
empfahl Salbenverbände. Am 2. Februar 1998 berichtete er über eine deutliche Gangunsicherheit aufgrund einer am
24. Oktober 1997 erlittenen schweren Beckenprellung. In der Folgezeit war die Klägerin wegen dieser
Gangunsicherheit in Behandlung bei Dr. D. und erhielt von der Beklagten Verletztengeld. Mit Bescheid vom 15.
Dezember 1998 gewährte die Beklagte einen Vorschuss auf das Verletztengeld für die Zeit vom 19. November bis 31.
Dezember 1998 in Höhe von 3.367,56 DM. In dem Bescheid heißt es u.a.: "Diese Zahlung erfolgt unter dem
Vorbehalt, dass unsere Entschädigungspflicht anerkannt wird und Leistungen mindestens in Höhe der gezahlten
Vorschüsse zu gewähren sind. Für den Fall, dass unsere Leistungspflicht nicht besteht oder die endgültig zu
gewährenden Leistungen niedriger sind als die gezahlten Vorschüsse, ist der überzahlte Betrag zu erstatten ... Wir
weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Vorschusszahlung unter Vorbehalt erfolgt. Zur Zeit ist nicht geklärt, ob bei
ihnen überhaupt noch unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit gegeben ist”. Mit weiteren Bescheiden vom 25. Januar 1999,
19. Februar 1999 und 5. März 1999 gewährte die Beklagte weitere Vorschüsse in Höhe von 3.400,- DM
(Arbeitsunfähigkeitszeit bis einschließlich 28. Februar 1999). Außerdem holte die Beklagte das Gutachten des Dr. F.
vom 17. Februar 1999 ein. Nach dessen Beurteilung hat die Klägerin bei dem Unfall am 24. Oktober 1997 eine
Beckenprellung ohne wesentliche Komplikationen erlitten, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von ca. 8 Wochen geführt
hat. Die subjektiv geklagten Beschwerden und die demonstrative Gangbildstörung ließen sich – so Dr. F. - durch
pathologische Befunde auf unfallchirurgischem Gebiet nicht erklären. In ihrem neurologischen Gutachten vom 26.
April 1999 konnten Dres. G. ebenfalls keine Verletzungsfolgen auf neurologischem Gebiet feststellen. Die gezeigte
Gangstörung sei als relativ bewusstseinsnahe demonstrative Aggravation einzuordnen. Bei Ablenkung normalisiere
sich das Gangbild.
Mit Bescheid vom 6. Mai 1999 lehnte die Beklagte die Zahlung einer Verletztenrente mit der Begründung ab,
unfallbedingt habe eine Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 19. Dezember 1997 (8 Wochen
nach dem Unfall) bestanden. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1999
zurück. Dagegen hat die Klägerin am 1. Juli 1999 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben.
Nach Anhörung forderte die Beklagte mit Bescheid vom 12. August 1999 Vorschusszahlungen in Höhe von 6.767,56
DM zurück. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 1999 zurück.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 7. Oktober 1999 Klage vor dem SG Braunschweig erhoben
(Az. S 6 U 136/99). Das SG hat beide Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung und Verhandlung verbunden. Die
Klägerin hat den Arztbrief des Orthopäden H. vom 22. Juli 1999 eingereicht.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18. April 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägerin
stehe ab 19. November 1998 weder Verletztengeld noch Verletztenrente zu. Das vorschussweise gezahlte
Verletztengeld sei zurückzuzahlen, weil sich der in den Bescheiden enthaltene Vorbehalt der unfallbedingten
Arbeitsunfähigkeit realisiert habe.
Gegen dieses am 12. Juni 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4. Juli 2002 Berufung eingelegt, mit der sie ihr
Begehren weiterverfolgt.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
1. das Urteil des SG Braunschweig vom 18. April 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 6. Mai 1999 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 1999 und vom 12. August 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 27. September 1999 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. März 1999 Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 vH der Vollrente zu
zahlen.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 18. April 2002 aufzuheben.
Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit Verfügungen der Berichterstatterin vom 23. Juni und 24. Juli 2003 darauf hingewiesen worden,
dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen
ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde
gelegen.
II.
Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung
nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und
eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).
Die Beklagte hat zu Recht Ansprüche der Klägerin auf Verletztengeld oder Verletztenrente ab dem 19. November
1998 verneint (1.). Die Klägerin ist auch verpflichtet, der Beklagten das für den Zeitraum vom 19. November 1998 bis
28. Februar 1999 gezahlte Verletztengeld in Höhe von 6.767,56 DM zu erstatten.
1. Gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII wird Verletztengeld erbracht, wenn der Versicherte infolge des Arbeitsunfalls
arbeitsunfähig ist. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII besteht ein Anspruch auf Verletztenrente, wenn die
Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens 20 vH gemindert ist. Die
Voraussetzungen dieser gesetzlichen Bestimmungen sind hier nicht erfüllt. Denn seit dem 19. November 1998 lassen
sich keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 24. Oktober 1997 feststellen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit der Klägerin
oder zu einer MdE um mindestens 20 vH führen könnten. Zu dieser Beurteilung kommt der Senat nach Auswertung
der im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten und weiteren ärztlichen Berichten. Bei dem Sturz hat die Klägerin
eine Beckenprellung erlitten. Dabei handelt es sich um eine ihrer Natur nach folgenlos abklingende
Gesundheitsstörung. Dagegen vermochte der Senat nicht festzustellen, dass die von der Klägerin angegebenen
Schmerzen im Bereich des Beckens und der Hüfte und die damit verbundene Gangunsicherheit mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Es bestehen schon Zweifel, ob diese Symptomatik
tatsächlich in dem von der Klägerin angegebenen Ausmaß vorliegt. Dagegen spricht, dass sowohl Dr. D. (Bericht vom
1. Dezember 1998) als auch Dres. I. die Gangstörung im Sinne einer demonstrativen Aggravation eingeordnet haben
und die Klägerin nach den Beobachtungen von Dres. I. bei Ablenkung ein normales Gangbild aufwies. Zweifel an der
angegebenen Symptomatik bestehen außerdem, weil die Umfangsmaße der unteren Extremitäten fast seitengleich
sind. Dies lässt nur den Schluss auf eine geringe Schonung des rechten Beines zu. Darauf hat Dr. F. zu Recht
hingewiesen. Dies kann jedoch dahinstehen. Denn entscheidend gegen einen Zusammenhang zwischen dem Unfall
und der Schmerzsymptomatik bzw. der Gangstörung spricht, dass es bei dem Unfall nicht zu Verletzungen
gekommen ist, die die Beschwerden der Klägerin erklären könnten: Bei der Erstuntersuchung durch Dr. D. fanden sich
keine äußeren Verletzungszeichen, es bestand lediglich ein geringer Druckschmerz über dem lateralen Beckenrand.
Bei der röntgenologischen Untersuchung fand sich keine knöcherne Verletzung. Auch die folgenden Untersuchungen
haben keinen Hinweis auf Verletzungsfolgen auf unfallchirurgischem und/oder neurologischem Gebiet ergeben (vgl.
Behandlungsberichte Dr. D., Gutachten Dr. F., Gutachten Dres. I.).
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und ihren Beschwerden auch nicht
dadurch belegt, dass Dr. D. ihr – über die 8. Woche nach dem Unfall hinaus – durchgehend
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt hat. Denn den Berichten von Dr. D. lässt sich nicht entnehmen, in
welcher Weise der Unfall ursächlich für diese Beschwerden gewesen sein soll. Im Gegenteil hat auch dieser Arzt
bereits am 1. Juli 1998 darauf hingewiesen, dass die Schmerzen nicht eindeutig mit der Beckenprellung zu erklären
seien. Der Senat hatte bei der auf Zahlung von Verletztenrente gerichteten Klage nur zu prüfen, ob die Klägerin ab 1.
März 1999 Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat, nicht jedoch, ob die
Verletztengeldzahlungen zu Unrecht erfolgt sind. Eine für die Klägerin günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht
unter Berücksichtigung des Behandlungsberichtes des Orthopäden H. vom 22. Juli 1999. Denn dieser Arzt teilt keine
objektiven Unfallfolgen mit, sondern lediglich die von der Klägerin subjektiv angegebenen Beschwerden. Schließlich
lässt sich auch nicht aus der Tatsache, dass der Klägerin von Dr. J. ein TNS-Gerät verordnet worden ist, daraus
schließen, dass die angegebenen Schmerzen unfallbedingt sind.
2. Die Beklagte war auch berechtigt, von der Klägerin das für den Zeitraum vom 19. November 1998 bis 28. Februar
1999 gezahlte Verletztengeld zurückzufordern. Denn die endgültige Leistungsfeststellung hat nach Einholung der
Zusammenhangsgutachten von Dr. K. ergeben, dass der Klägerin jedenfalls ab dem 19. November 1998 kein
Verletztengeld mehr zustand. Zwar konnte die Beklagte die Rückforderung nicht auf § 42 Abs. 2 SGB I stützen, weil
diese Vorschrift hier nicht anwendbar ist. Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der zuständige Leistungsträger
Vorschüsse zahlen, wenn ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner
Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist. Im vorliegenden Fall war dagegen die Feststellung der
Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach unklar, während die Anspruchshöhe nicht anders zu berechnen
gewesen wäre als in der Zeit bis zum 18. November 1998 und somit schon feststand. Die unzutreffend angegebene
Rechtsgrundlage für die Rückforderung führt jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit des Bescheides, weil die Beklagte
auch bei der hier vorliegenden Konstellation – ergänzend zu § 42 SGB I – berechtigt war, vor Abschluss der
endgültigen Sachverhaltsfeststellungen eine sogenannte "Vorwegzahlung” zu leisten und sich die Rückforderung
vorzubehalten (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 1990 - Az. 4 RA 57/89 - BSGE 67, 104; BSG, Urteil vom 12. Mai 1992 -
Az. 2 RU 7/92 - SozR 3-1200 § 42 Nr. 2). Der Klägerin ist auch hinreichend bestimmt deutlich gemacht worden, dass
es sich bei der Zahlung von Verletztengeld ab 19. November 1998 nur um eine vorläufige Regelung handelt. Denn die
Beklagte hat im Bescheid vom 15. Dezember 1998 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass noch nicht geklärt sei, ob
bei der Klägerin überhaupt noch unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit gegeben sei und dass diese den überzahlten Betrag
zu erstatten habe, wenn sich herausstelle, dass eine weitere Leistungspflicht nicht bestehe. Deshalb kann die
Klägerin nicht mit Erfolg einwenden, die Vorschusszahlungen gutgläubig verbraucht zu haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht
gegeben.