Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17.05.2001

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 17.05.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 6 U 65/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6/3 U 251/00
Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 4. April 2000 und der Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 1996 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1997 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass eine
Luxation der rechten Schulter Folge des Arbeitsunfalls vom 9. Februar 1994 ist. Die Beklagte hat dem Kläger die
außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Schulterluxation als Folge eines Arbeitsunfalls. Der 1960 geborene Kläger
war am 9. Februar 1994 als Bauhelfer bei der Firma I. in J. beschäftigt. Der Kläger und dessen Vorarbeiter, Herr K.,
hatten den Auftrag, auf einer Baustelle in L. einen Regenwasserschacht einzubauen. Dazu war es u.a. erforderlich,
Schachtringe in die Baugrube einzusetzen. Die Schachtringe wurden mit Ketten an der Baggerschaufel befestigt und
dann in die Grube abgesenkt. Anschließend mussten die Ketten wieder vom Ring gelöst werden.
Nach dem D-Arztbericht des Chirurgen Dr. M. ist der Kläger am 9. Februar 1994 von einem Gerüst geklettert und hat
sich dabei die rechte Schulter verdreht. Der Durchgangsarzt diagnostizierte eine Subluxation der rechten Schulter. Am
7. März 1994 gab der Kläger gegenüber dem Chirurgen Dr. N. an, er sei ausgerutscht und habe versucht, sich mit der
rechten Hand festzuhalten. Dabei habe er einen starken Ruck und starke Schmerzen in der rechten Schulter verspürt.
Bei der amtlichen Vernehmung im Februar 1995 gab er ebenfalls an, von einer Leitersprosse ausgerutscht zu sein und
sich beim Abrutschen/Stürzen an einer Baggerschaufel festgehalten zu haben. Beim Festhalten habe er sich die
Schulter ausgekugelt/verrissen. Der Arbeitgeber teilte am 15. März 1994 mit, der Kläger habe angegeben, sich beim
Festhalten der Ketten den Arm ausgekugelt zu haben. Demgegenüber gab Herr O. am 4. Juli 1995 an, der Kläger
habe gar keine Arbeiten ausgeführt. Als er ihm gesagt habe, er solle die Kette anfassen (um sie zu lösen), habe er
den Arm gehoben und mitgeteilt, er könne wegen Schmerzen in der Schulter nicht arbeiten.
Die Beklagte holte das Gutachten von Prof. Dr. P. vom 2. November 1995 ein. Bei der Untersuchung gab der Kläger
an, er habe in die Baugrube steigen wollen, um deren Tiefe auszumessen. Dabei sei er von den feuchten
Leitersprossen abgerutscht und habe sich auf der Suche nach einem Halt mit der rechten Hand an der Baggerschaufel
festgehalten. Aufgrund der Schmerzen sei ihm schwarz vor Augen geworden und er sei in die Baugrube gestürzt. Mit
Hilfe seines Arbeitskollegen habe er sich dann in die Baggerschaufel gesetzt und aus der Baugrube heben lassen.
Seitdem sei es noch zweimal zu Verrenkungen der rechten Schulter gekommen. Die Gutachter führten aus, das
Ereignis vom 9. Februar 1994 habe zu einer Luxation (nicht zu einer Subluxation) der rechten Schulter geführt. Der
vom Kläger geschilderte Ereignisablauf sei prinzipiell geeignet, eine traumatische Schulterluxation zu verursachen.
Als Unfallfolgen stellten sie fest: Allseitige Bewegungs-einschränkung der rechten Schulter, Muskelkraftminderung der
rechten Schulter und des rechten Armes, Verrenkungsneigung der rechten Schulter, röntgenologische Veränderungen.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit schätzten sie vom 11. Mai 1994 bis 30. Oktober 1995 auf 20 und ab 31. Oktober
1995 auf 30 vom Hundert.
Nach einer weiteren Vernehmung des Herrn O. am 26. März 1996, bei der dieser angab, der Kläger habe lediglich am
oberen Grubenrand gestanden, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Mai 1996 Entschädigungsleistungen mit der
Begründung ab, der Unfallhergang sei nicht bewiesen. Im Widerspruchsverfahren trug der Kläger vor, er habe von der
Leiter aus die Ketten von den Zähnen der Baggerschaufel lösen sollen. Er sei auf der Leiter ausgerutscht und habe
versucht, sich mit der rechten Hand an der Baggerschaufel festzuhalten. Dies sei ihm aber aufgrund der Schmerzen
nicht gelungen, sodass er in die Grube gefallen sei. Der Baggerführer habe ihn mit der Baggerschaufel wieder aus der
Grube geholt, er sei dann 15 bis 20 Minuten fast bewusstlos vor Schmerzen liegen geblieben. Bei der Vorstellung
beim Durchgangsarzt habe er starke Schmerzen und einen Schock gehabt. Auch in Anbetracht seiner mangelnden
Deutschkenntnisse könne es durchaus sein, dass der Arzt ihn nicht richtig verstanden habe. Den Widerspruch wies
die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 1997 zurück. Zur Begründung führte sie aus, keine der deutlich
voneinander abweichenden angeblichen Hergangsschilderungen sei von dem Arbeitskollegen des Klägers bestätigt
worden, insbesondere nicht, dass ein unfallartiger Ablauf geschehen sei.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig hat das SG Herrn K. als Zeugen
vernommen. Der Zeuge hat ausgesagt, der Kläger habe zunächst die Ketten an der Baggerschaufel und dann an dem
Schachtring befestigt, anschließend habe er - der Zeuge - den Ring in den Graben eingesetzt. Dann habe der Kläger
die Ketten wieder lösen sollen, dazu habe er in den Schacht klettern müssen. Der Kläger habe eine Leiter in den
Graben gesetzt und heruntergehen wollen. Dies sei wegen der Enge des Schachtes nur seitlich möglich gewesen. Er
habe sich mit einer Hand an der Leiter festgehalten und mit dem anderen Arm an der Baggerschaufel abgestützt. Er
sei ca. zwei bis drei Stufen heruntergegangen, als der Zeuge gemerkt habe, dass der Kläger Schmerzen im
Schulterbereich habe. Er habe sinngemäß "aua" gerufen, sei dann weiter abgestiegen, habe die Ketten gelöst und sei
die Leiter wieder heraufgestiegen.
Mit Urteil vom 4. April 2000 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Verletztenrente,
weil nicht feststehe, dass die Gesundheitseinschränkungen im Bereich der rechten Schulter Folge eines
Arbeitsunfalls seien. Das vom Kläger geschilderte Unfallgeschehen sei zwar geeignet, eine Luxation einer Schulter zu
verursachen, es sei jedoch nicht nachgewiesen, dass der Unfall sich tatsächlich so ereignet habe. Dagegen sprächen
zum einen die widersprüchlichen Schilderungen des Klägers im Verlauf des Verwaltungsverfahrens. Zum anderen
habe der Zeuge die Angaben des Klägers nicht bestätigt. Zwar habe der Zeuge bei der gerichtlichen Vernehmung
anders ausgesagt als im Verwaltungsverfahren, zu keiner Zeit habe er jedoch bestätigt, dass der Kläger in der
Baugrube von der Leiter abgerutscht sei und versucht habe, sich an der Baggerschaufel festzuhalten. Es spreche
mehr dafür, dass der Kläger an einer habituellen Luxationsneigung leide, dies zeige sich auch daran, dass er nach
dem 9. Februar 1994 zwei weitere Ausrenkungen der Schulter erlitten habe. Bei einer habituellen Luxationsneigung
genügten geringfügige Anlässe, sodass die berufliche Tätigkeit eine Gelegenheitsursache darstelle.
Gegen dieses am 11. Mai 2000 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. Juni 2000 (Dienstag nach Pfingsten) Berufung
eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des SG Braunschweig vom 4. April 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 1996 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1997 aufzuheben,
2. festzustellen, dass eine Luxation der rechten Schulter Folge des Arbeitsunfalls vom 9. Februar 1994 ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 4. April 2000 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17. Mai 2001 hat der Senat den Kläger persönlich gehört und Herrn K. als
Zeugen vernommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Vorbringens der Beteiligten und des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die
Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat auch in der Sache
Erfolg. Denn der nach § 55 Abs. 1 Ziff. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Feststellungsantrag ist begründet. Die
Luxation der rechten Schulter ist wahrscheinlich Folge des Arbeitsunfalls, den der Kläger am 9. Februar 1994 erlitt.
Diese Wertung stützt der Senat auf das von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholte chirurgische
Gutachten vom 2. November 1995, das er als Urkundenbeweis (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff.
Zivilprozessordnung) zu würdigen hat (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1988 - 2/9b RU 66/87). Nach den überzeugenden
Ausführungen des Prof. Dr. Q. und des Oberarztes Dr. R. besteht kein Zweifel daran, dass der Kläger bei dem
Arbeitsunfall eine traumatische Schulterluxation erlitt. Für die vom SG angenommene "habituelle Luxationsneigung"
besteht kein Anhaltspunkt. Gegen eine "körpereigene Veranlagung zur Schultergelenks-ausrenkung" spricht schon,
dass der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben vor dem Unfall die rechte Schulter erheblich belastet hat, indem er
Tennis gespielt hat und außerdem, dass er während seiner beruflichen Tätigkeit als Dreher alle anfallenden Arbeiten
verrichtet hat, ohne dass es zu Komplikationen gekommen ist. Auch in den Vorerkrankungs-verzeichnissen der IKK
Südheide und der AOK S. finden sich keine Behandlungen oder Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen Erkrankungen im
Schulterbereich, wohl aber wegen anderer Erkrankungen. Deshalb stellt der Arbeitsunfall vom 9. Februar 1994 keine
rechtlich unerhebliche, sog. Gelegenheitsursache dar.
Die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat auch den von den Gutachtern zugrundegelegten
Unfallhergang bestätigt. Er ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens i.S.d. Vollbeweises nachgewiesen.
Insbesondere ist die Darstellung des Klägers vor dem erkennenden Senat glaubhaft. Anders als die Beklagte vermag
der Senat nicht zu erkennen, dass der Kläger insoweit abweichend von seinen Erstangaben mit zeitlichem Abstand
vom Unfall detailliertere oder gar zweckgerichtete Angaben gemacht hätte: Er hat vielmehr bereits am 7. März 1994
gegenüber Dr. N. angegeben, er sei ausgerutscht und habe versucht, sich mit der rechten Hand festzuhalten. Die
nächste dokumentierte Aussage (gegenüber der Stadt J. datiert vom 10. Februar 1995. Auch hier hat der Kläger
geschildert, dass er auf einer Leitersprosse abgerutscht sei und sich beim Abrutschen/Stürzen an der Baggerschaufel
festgehalten habe. Schließlich hat er den gleichen Unfallhergang auch am 31. Oktober 1995 anlässlich der
Untersuchung bei Prof. Dr. P. angegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger weder einen Ablehnungsbescheid
noch ein sonstiges auf die Rechtslage hinweisendes Schreiben der Beklagten erhalten, das ihn zu einer bestimmten
Unfallschilderung veranlasst haben könnte.
Keine entscheidende Bedeutung misst der Senat dem Umstand zu, dass die Angaben des Klägers im
Durchgangsarztbericht vom Unfalltag anders wieder-gegeben sind. Danach ist der Kläger "von einem Gerüst geklettert
und hat sich dabei die rechte Schulter verdreht". Diese Unfallschilderung ist jedoch - mög-licherweise wegen
Sprachschwierigkeiten - erwiesenermaßen ungenau, weil am Unfalltag keine Gerüstarbeiten verrichtet wurden. Das
ergibt sich auch aus den insoweit völlig übereinstimmenden Angaben des Klägers vor dem Senat und der Aussage
des Arbeitskollegen O ... Auch der Unfallbericht des Arbeitgebers vom 15. März 1994 ist gleichermaßen ungenau.
Schließlich hat die durchgeführte Beweisaufnahme im Ergebnis die Darstellung des Klägers bestätigt. Jedenfalls
spricht die Aussage des Zeugen O. nicht gegen den vom Kläger geschilderten Unfallhergang. Der Zeuge hat zwar im
Verwaltungsverfahren angegeben, der Kläger habe Schulterschmerzen geäußert, als er lediglich - ohne zu arbeiten -
dagestanden habe. Diese Darstellung, die ebenfalls auf Sprachschwierigkeiten beruhen mag, hat er jedoch bereits bei
der Vernehmung durch das SG richtiggestellt und im Kern die plausible - eine traumatische Luxation erklärende -
Unfallschilderung bestätigt, indem er ausgesagt hat, der Kläger sei auf einer Leiter in den Schacht hinabgestiegen und
habe dabei plötzlich Schmerzen in der Schulter angegeben. Diese Aussage hat er bei seiner Vernehmung vor dem
Senat anschaulich verdeutlicht und geschildert, dass sich der Kläger plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht
zusammengebeugt am Boden der Grube befunden habe. Seine ursprüngliche Angabe ist unabhängig hiervon auch in
keiner Weise plausibel. Denn sie bietet keine Erklärung dafür, wie es ohne Gewalteinwirkung zu einer Schulterluxation
und damit zu einer massiven Schulterverletzung gekommen sein soll. Zwar hat der Zeuge auch bei der Vernehmung
durch den Senat nicht bestätigt, dass der Kläger von der Leiter abgerutscht ist und sich an der Baggerschaufel
festgehalten hat. Er hat aber eingeräumt, sich nicht mehr genau an den Geschehensablauf erinnern zu können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.