Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.03.2002
LSG Nsb: obduktion, umkehr der beweislast, vernehmung von zeugen, befund, ärztliche behandlung, anerkennung, tod, belastung, silikose, witwenrente
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 07.03.2002 (rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 6 U 157/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 6 U 336/00
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 6. Juni 2000 und der Bescheid
der Beklagten vom 15. März 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1997 geändert. Es
wird festgestellt, dass der Ehemann der Klägerin an den Berufskrankheiten Nummern 4101 und 4103 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung erkrankt war. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Verletztenrente vom 12. Mai
1992 bis 31. August 1992 in Höhe von 50 vom Hundert der Vollrente und ab 1. September 1992 bis 31. Oktober 1993
Verletztenvollrente sowie ab 14. Oktober 1993 Witwenrente zu zahlen. Die weitergehende Berufung wird
zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zahlung von Verletzten- und Witwenrente. Streitig ist, ob ihr 1913 geborener und am 14.
Oktober 1993 verstorbener Ehemann C. (Versicherter) wahrscheinlich an einer Berufskrankheit (BK) nach Nrn. 4101
und 4103 der Anlage (Anl.) zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) litt (Quarzstaublungenerkrankung – Silikose,
Asbeststaublungenerkrankung – Asbestose – oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura) und ob
sein Tod wahrscheinlich Folge dieser BKen ist.
Der Versicherte war in den Jahren 1954 und 1955 als Hilfsschlosser in der Güterwaggon-Instandsetzung und danach
bis 1967 im Stahlwerksbereich als Feuerungsmaurer und bei metallurgischen Tätigkeiten einer hohen Quarz- und
Asbeststaubbelastung ausgesetzt (Stellungnahmen des Dipl.-Ing. D. vom 6. April 1994 und 5. Juni 1997). Ungefähr im
Jahr 1967 bemerkte er erstmals Atembeschwerden (vgl. die Angaben des Versicherten im Fragenbogen vom 17.
Oktober 1992). Am 11. Mai 1992 suchte der Versicherte wegen hochgradiger Atemnot und Ruheinsuffizienz die Ärztin
Dr. E. auf, die aufgrund Therapieresistenz und massiver Zunahme der Beschwerden den Versicherten in die Klinik für
Pneumologie des Kreiskrankenhauses F. einwies (Befundbericht vom 4. November 1992). Dr. G. diagnostizierte im
Arztbrief vom 16. September 1992 eine schwere fortgeschrittene interstitielle Lungenerkrankung unklarer Genese mit
schwerer respiratorischer Partialinsuffizienz und eingeschränkter Diffusionskapazität und erstattete die ärztliche
Anzeige über eine BK vom selben Tag. Die röntgenologische Untersuchung habe ein Endstadium vieler
Pneumokoniosen (Staublungenerkrankungen) mit Lungenfibrose und Wabenlunge ergeben. Dr. G. nahm eine
Mischstaubpneumokoniose, evtl. Asbestose an. Des Weiteren vermerkte er die Verordnung eines Sauerstoffgeräts
und einer Cortisontherapie. Im Januar 1993 stellte sich der Versicherte erneut bei Dr. G. vor. Im Arztbrief vom 14.
Januar 1993 wies Dr. G. auf eine Verschlechterung der Gasaustauschsituation hin und empfahl eine Befundkontrolle
in ungefähr 2 Monaten. In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 25. Mai 1993 hielt Prof. Dr. H. "eine pathotrop
ausreichende Exposition gegenüber Quarz- und Asbeststäuben als wahrscheinlich". Die Röntgenaufnahmen zeigten
den Befund einer beidseitigen Lungenfibrose, die nach Ausprägung und Lokalisation den Verdacht auf eine
Mischstaubpneumokoniose nahe lege. Er empfahl die Beiziehung weiterer Röntgenaufnahmen und die gutachtliche
Klärung des Vorliegens einer BK durch Dr. G., die während des erneuten stationären Aufenthalts des Versicherten
vom 5. Juli bis 4. August 1993 erfolgte.
Dr. G. diagnostizierte im internistisch-pneumologischen Gutachten vom 29. September 1993, das bei der Beklagten
am 18. November 1993 einging, eine berufsbedingte Mischstaubpneumokoniose (Siliko-Asbestose), die zu einer
erheblichen Gasaustauschstörung mit schwerer manifester respiratorischer Partialinsuffizienz in Ruhe und dauerhafter
Sauerstoff-Bedürftigkeit geführt habe. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte der Gutachter ab dem
Zeitpunkt des stationären Aufenthalts am 1. September 1992 auf 100 vom Hundert (vH). Nach Aktenlage sei davon
auszugehen, dass die MdE zuvor ab 11. Mai 1992 mindestens 50 vH betragen habe. Die Beklagte legte die Akten
Prof. Dr. H. vor, der zur abschließenden Beurteilung das Protokoll der im Gutachten erwähnten
Lungenfunktionsdiagnostik benötigte. Nachdem die Beklagte dieses von Dr. G. angefordert hatte, teilte die
Stationsärztin Dr. I. mit, dass der Versicherte während des stationären Aufenthalts vom 4. bis 14. Oktober 1993
infolge der schweren Grunderkrankung gestorben sei (vgl. den Krankheitsbericht vom 8. November 1993). Eine
Mitteilung an die Beklagte sei nicht erfolgt, da der Versicherte auf einer anderen Station verstorben sei und der dortige
Stationsarzt das Gutachten scheinbar übersehen habe (Schreiben vom 14. Dezember 1993, Telefonvermerk vom 27.
Dezember 1993). In der weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme vom 21. Januar 1994 führte Prof. Dr. H. aus,
dass sowohl der Röntgenbefund als das Muster der pulmonalen Funktionseinschränkung atypisch für eine Silikose
oder Asbestose sei. Zum Zweck einer verlässlichen Aussage über die berufliche Verursachung der Erkrankung sei
eine Autopsie nach Exhumierung erforderlich, die jedoch nicht durchgeführt werden konnte, weil der Versicherte
feuerbestattet wurde. Prof. Dr. H. führte weiter aus, dass in diesem Fall mit Bedenken die Diagnose einer atypischen
Lungenasbestose akzeptiert und eine BK Nr. 4303 zur Anerkennung vorgeschlagen werden könne. Daraufhin wurde
Dr. J. im Referat für Angelegenheiten der arbeitsmedizinischen Vorsorge der Hauptverwaltung eingeschaltet.
In seiner Stellungnahme vom 3. Februar 1994 führte Dr. J. aus, röntgenologisch seien im Wesentlichen erhebliche
Vermehrungen der kleinen unregelmäßigen Schatten vorhanden. Besonders betroffen seien die Unterfelder und die
Mantelregion der Lunge. Eine wesentliche Vermehrung rundlicher Schatten, die einer Silikose entspreche, sei nicht
eindeutig zu identifizieren, ohne dass sie ausgeschlossen werden könne. Weiter seien wabige Veränderungen
vorhanden. Grundsätzlich könne der Befund einer schweren fortgeschrittenen Asbestose entsprechen. Die Betonung
der Lungenmantelregion sei allerdings untypisch. Untypisch für eine Asbestose sei auch das Fehlen
charakteristischer pleuraler Plaques. Eine silikotische Komponente im Sinne einer Mischstaubpneumokoniose lasse
sich nicht ausschließen. Ein gravierender Befund liege aber offensichtlich nicht vor. Er – Dr. J. – stimme mit Prof. Dr.
H. darin überein, dass der Röntgenbefund nicht als ganz asbesttypisch anzusehen, letztlich aber mit einer Asbestose
vereinbar sei. Eine eindeutige Klärung sei nur durch eine Obduktion zu gewinnen gewesen. Wenn es wahrscheinlich
zu machen sei, dass eine erhebliche Asbeststaubexposition mit deutlicher Überschreitung der früheren Grenzwerte
von 1 Faser/cm³ anzunehmen sei, sei der Befund mit Wahrscheinlichkeit als Asbestose zu werten. Der Schätzung
der MdE durch Dr. G. sei zuzustimmen. Nachdem der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten die
Exposition gegenüber Asbest auf ungefähr 15 Faserjahre berechnet hatte (Stellungnahme des Dipl.-Ing. D. vom 6.
April 1994), gelangte Dr. J. in seiner Stellungnahme vom 26. Mai 1994 zu dem Ergebnis, dass eine Asbestose nicht
wahrscheinlich sei. Bei einer Exposition von weniger als 50 Faserjahren sei eine asbestbedingte Lungenfibrose nicht
zu erwarten. Hinzu komme der für eine Asbestose etwas untypische Befund. Auf die gewerbeärztliche Stellungnahme
der Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. K. vom 27. Juli 1994 veranlasste die Beklagte die weitere Berechnung der
Asbestfaserjahre durch Dipl.-Ing. D. vom 8. Dezember 1994, die 25,3 Faserjahre ergab. Daraufhin regte Frau Dr. K. in
ihrer gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 4. Januar 1995 die Beiziehung älterer Röntgenaufnahmen an. Nach ihrer
Sichtung empfahl sie die Anerkennung einer BK (Stellungnahme vom 15. Februar 1995). Demgegenüber blieb Dr. J.
bei seiner Auffassung, dass eine Asbestose möglich, aber wenig wahrscheinlich sei (Stellungnahme vom 23. Juni
1995). Auf Veranlassung der Gewerbeärztin (vgl. das Schreiben der Frau Dr. K. vom 31. Juli 1995) erstattete Dr. G.
die gutachterliche Stellungnahme vom 8. August 1995. Während Dr. G. die röntgenologischen Veränderungen mit
einer asbestbedingten Lungenfibrose für vereinbar hielt und die Anerkennung als BK empfahl, gelangten Dres. L. und
M. im Gutachten vom 18. Januar 1996 zu einem gegenteiligen Ergebnis. Der gesamte pulmonale Befund erscheine
untypisch für eine asbestbedingte Fibrosierung. Daraufhin lehnte die Beklagte Entschädigungs-leistungen ab
(Bescheid vom 15. März 1996).
Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte zunächst weitere Stellungnahmen des TAD und des Dr. J. ein.
Anschließend beauftragte sie Prof. Dr. N. mit der Erstattung des Gutachtens vom 23. Januar 1997. Prof. Dr. N. und
Dr. O. hoben hervor, aus arbeitsmedizinischer Sicht bestehe kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Versicherte in
den 50er und 60er Jahren ungefähr 13 bis 14 Jahre lang einer hochgradigen Einwirkung von Asbestfaser- und
quarzhaltigen Stäuben ausgesetzt gewesen sei. Gerade die Berufsgruppe der Feuerungsmaurer sei in außerordentlich
hochgradigem Maße gegenüber diesen Stäuben exponiert gewesen. Mit dem Auftreten einer röntgenologisch
eindeutigen Lungenasbestose sei ab einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis von ungefähr 50 Faserjahren zu
rechnen. Die Beurteilung der Einwirkung von asbestfaser- und quarzhaltigen Stäuben sei hier erschwert, weil keine
detaillierte, qualifizierte Arbeitsplatzanamnese vom Versicherten selbst erhoben worden sei. Nicht nachvollzogen
werden könne die Wertung, dass die röntgenmorphologischen Veränderungen untypisch für eine Lungenasbestose
seien. Der fehlende Nachweis einer Pleuraasbestose sei kein Kriterium für das Nichtvorliegen einer Lungenasbestose.
Der Verlauf der Lungenasbestose über fast 30 Jahre mit zunehmender Progredienz sei durchaus typisch für die
Expositionsbedingungen, die in den 50er und 60er Jahren bestanden hätten. Bei Zusammenschau der
Arbeitsplatzvorgeschichte, der sicherheitstechnischen Ermittlungen zur Asbestfaserstaubeinwirkung mit ihren
Unwägbarkeiten, der Krankheitsvorgeschichte und der Entwicklung der röntgenologisch erkennbaren Lungenfibrose
spreche weitaus mehr dafür als dagegen, dass ein Zusammenhang zwischen der Asbestfaserstaubeinwirkung am
Arbeitsplatz im Zeitraum von 1954 bis 1967 und der interstitiellen Lungenfibrose des Versicherten bestehe. Die
Voraussetzungen zur Anerkennung einer BK nach Nrn. 4101 und 4103 der Anl. zur BKV lägen vor. Die MdE betrage
ab März 1986 30, ab September 1992 50 und ab Juli 1993 80 vH. Der Tod sei zweifelsfrei Folge der BK.
Anschließend ermittelte Dipl.-Ing. D. erneut die Staubbelastung des Versicherten. Die Stellungnahme vom 5. Juni
1997 schloss er mit der Wertung, dass der Versicherte mit Sicherheit einer hohen Staubbelastung ausgesetzt
gewesen sei. Dem Gutachter sei zuzustimmen, dass die Berechnung der Faserjahre auch jetzt noch mit großen
Ungenauigkeiten behaftet sein könne. Aufgrund der weiteren Ermittlungen berechnete Dipl.-Ing. D. eine Exposition von
ingesamt 37 Asbestfaserjahren. In der Stellungnahme vom 23. Juli 1997 hielt Dr. J. an seiner Wertung fest. Auch
durch Literatur werde bestätigt, dass durch computertomographische Untersuchungen asbestbedingte
Pleuraveränderungen bei Asbestosen als charakteristischer Befund belegt seien, auch wenn sie nicht in jedem Fall
vorhanden sein müssten. Auch Dr. G. habe den Umstand fehlender Pleuraveränderungen diskutiert. Letztlich sei die
Frage, ob es sich um einen typischen oder nicht typischen Befund handele, nicht von vorrangiger Bedeutung, da der
röntgenologische Befund bei entsprechender Exposition mit einer As-bestose vereinbar sei. Die Berechnungen des
TAD hätten eine kumulative Asbestfaserstaubdosis von 15 bis 37 Faserjahren ergeben. Die Schwankung der
erhobenen Werte ergebe sich im Wesentlichen daraus, dass wiederholt für den Versicherten günstigere Annahmen
gemacht worden seien ("Worst-Case-Betrachtung"). Die Annahmen beruhten auf Angaben von Zeugen und
betrieblichen Personen, die konkrete Kenntnisse über die Arbeitsplatzverhältnisse besitzen und als technische
Aufsichtsbeamte über langjährige Erfahrungen in Stahlwerken verfügten. Die Vermutung des Prof. Dr. N., dass die
tatsächliche Belastung wesentlich höher gewesen sei, sei zwar nicht auszuschließen, aber nicht durch konkrete
Fakten zu belegen. Da erst ab 50 Faserjahren mit dem Auftreten einer röntgenologisch eindeutigen Asbestose zu
rechnen sei, sei eine für die Hervorrufung einer asbestbedingten Lungenfibrose (Asbestose) geeignete Exposition
nicht belegt. Dieses gelte auch für die BK Nr. 4101.
Die Beklagte gab dem Widerspruch nicht statt (Widerspruchsbescheid vom 15. September 1997).
Das Sozialgericht (SG) Braunschweig ist der Argumentation der Beklagten gefolgt und hat die am 14. Oktober 1997
erhobene Klage durch Urteil vom 6. Juni 2000 abgewiesen.
Gegen das ihr am 12. Juli 2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4. August 2000 Berufung eingelegt. Unter
Hinweis auf die Ausführungen des Prof. Dr. N. und des Dr. O. hält sie an ihrer Auffassung fest, dass der Tod ihres
Ehemannes wahrscheinlich Folge einer BK sei. Des Weiteren hebt sie hervor, durch die unterlassene Obduktion in
Beweisschwierigkeiten zu sein. Ihr Ehemann sei im November 1992 erneut im Kreiskrankenhaus F. behandelt worden.
Die schwere Lungenerkrankung sei der Beklagten bekannt gewesen, ohne dass die Beklagte Vorkehrungen zur
Beweissicherung getroffen habe. Dieses dürfe ihr – der Klägerin – nicht zum Nachteil gereichen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des SG Braunschweig vom 6. Juni 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 15. März 1996 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1997 aufzuheben, festzustellen, dass ihr Ehemann an den BKen
Nrn. 4101 und 4103 der Anl. zur BKV erkrankt war, die Beklagte zu verurteilen, ihr Verletztenrente, und zwar ab 1.
März 1986 bis 31. August 1992 in Höhe von mindestens 30 vH, ab 1. September 1992 bis 30. Juni 1993 in Höhe von
mindestens 50 vH und ab 1. Juli 1993 in Höhe von mindestens 80 vH der Vollrente, und ab 14. Oktober 1993
Witwenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 6. Juni 2000 zurückzuweisen
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und hat ergänzend ausgeführt, dass sie Vorkehrungen zur
Sicherung einer Obduktion nicht habe treffen können, weil sie erst nach dem Tod des Versicherten informiert worden
sei. Die Gründe für die verspätete Mitteilung über das Ableben des Versicherten lägen nicht in ihrem
Verantwortungsbereich. Auch aufgrund des Arztbriefs vom 14. Januar 1993 habe sie nicht mit dem kurzfristigen
Ableben des Versicherten rechnen können. Denn darin heiße es zusammenfassend, dass trotz der Schwere der
Grunderkrankung und des Alters des Versicherten von einem durchaus befriedigenden Verlauf gesprochen werden
könne. Einen anderen ärztlichen Hinweis habe sie nicht erhalten. Deshalb sei es ihr insgesamt nicht möglich
gewesen, Vorkehrungen zur Sicherung einer Obduktion zu treffen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Dem Senat haben neben den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der
Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf
den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Denn
die gemäß § 55 Abs. 1 Ziff. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Feststellungsklage ist begründet. Quarz- und
Asbeststaub, denen der Versicherte beruflich in außerordentlich hohem Maße ausgesetzt war, wirken fibrogen
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl. 1998, S. 992 - 17.2.2, S. 1006 f. - 17.4.2).
Eine solche Fibrose ist beim Versicherten im Vollbeweis nachgewiesen worden und der Senat hat sich aufgrund des
Gesamtergebnisses der Ermittlungen der Beklagten die Überzeugung gebildet, dass diese Erkrankung, an der der
Versicherte verstarb (Krankenbericht vom 8. November 1993), wahrscheinlich wesentlich beruflich (mit)verursacht war
(BKen Nrn. 4101 und 4103 der Anl. zur BKV). Diese Erkrankung hob die Erwerbsfähigkeit des Versicherten vollständig
auf. Deshalb ist auch die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf
Zahlung von Verletztenrente (§ 581 Abs. 1 iVm § 551 Abs. 3 Satz 1 der auf den vorliegenden Sachverhalt noch
anzuwendenden – vgl. Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 Sozialgesetzbuch – SGB - VII –
Reichsversicherungsordnung - RVO) als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehegatten (§ 56 Abs. 1 SGB I)
und Witwenrente (§§ 589 ff. RVO). Diese Wertung stützt der erkennende Senat auf die sorgfältigen Ausführungen der
von der Beklagten beauftragten Gutachter Dr. G. und Prof. Dr. N. sowie der Gewerbeärztin Dr. K ...
Nach den übereinstimmenden Ausführungen dieser Ärzte (vgl. gewerbeärztliche Stellungnahme vom 27. Juli 1994, S.
4 der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. G. vom 8. August 1995, S. 26a des Gutachtens des Prof. Dr. N. und des
Dr. O. vom 23. Januar 1997) und den Stellungnahmen der die Beklagte beratenden Ärzte Prof. Dr. H.
(beratungsärztliche Stellungnahme vom 21. Januar 1994) und Dr. J. (S. 4 der beratungsärztlichen Stellungnahme vom
3. Februar 1994, S. 5 der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 23. Juli 1997) befindet sich die Klägerin aufgrund
verschiedener Umstände in einem Beweisnotstand. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der
sich der erkennende Senat angeschlossen hat (vgl. z.B. Urteil vom 25. Januar 2001 – L 6 KN 3/99 U), führen zwar
Beweisschwierigkeiten selbst dann nicht zu einer Umkehr der Beweislast, wenn sie auf einer fehlerhaften
Beweiserhebung oder sogar auf einer Beweisvereitelung durch denjenigen beruhen, dem die Unerweislichkeit der
Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht. Auch ist die Rechtsprechung nicht befugt, in diesen Fällen das
Beweismaß zu verringern und z.B. bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs die Möglichkeit statt der
erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausreichen zu lassen (BSG SozR 3-1500 § 128 Nr. 11). Eigentümlichkeiten eines
Sachverhalts können aber in besonders gelagerten Einzelfällen Anlass sein, an den Beweis verminderte
Anforderungen zu stellen. Das bedeutet, dass sich Unfallversicherungsträger und Gerichte schon aufgrund weniger
tatsächlicher Anhaltspunkte von einem bestimmten Geschehensablauf überzeugen können (BSG, Urteil vom 31. Mai
1996 – 2 RU 24/95). Der hier zu beurteilende Sachverhalt rechtfertigt diese Vorgehensweise:
Aufgrund der unterlassenen Obduktion des Versicherten konnte das Vorliegen einer Silikose und Asbestose durch
Gewebeuntersuchungen nicht festgestellt werden. Diesen Umstand hat die Beklagte zu vertreten. Denn ihr obliegt es,
den Sachverhalt umfassend zu ermitteln und Vorkehrungen zu treffen, dass eine erforderliche Obduktion durchgeführt
wird (§ 20 SGB X). Die Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass sie erst nach der Bestattung des Versicherten
und damit erst zu einem Zeitpunkt von seinem Ableben erfuhr, zu dem eine Obduktion nicht mehr möglich war. Es ist
aber zu berücksichtigen, dass der Beklagten – dieses hebt die Berufung zu Recht hervor – seit der ärztlichen Anzeige
über eine BK des Dr. G. vom 16. September 1992 die schwere Lungenerkrankung des Versicherten bekannt war. Dr.
G. hielt die Notwendigkeit einer Cortison- und Sauerstofftherapie fest und teilte im Krankenbericht vom 16. September
1992 die Werte der Blutgasanalyse mit, aus denen das vollständig aufgehobene Leistungsvermögen des Versicherten
hervorgeht (vgl. S. 4. f. der beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. J. vom 3. Februar 1994: " ...ist sichtlich von
einer MdE von 100 % auszugehen."). Im Befundbericht vom 4. November 1992 berichtete die Ärztin Dr. E. über
hochgradige Atemnot und Ruheinsuffizienz. Im Arztbrief vom 14. Januar 1993 erfuhr die Beklagte von einer
Verschlechterung der Gasaustauschsituation, die kurzfristige Befundkontrollen erforderte. Auch wenn Dr. G. in diesem
Arztbrief von einem "durchaus befriedigenden Verlauf" spricht, ist die Schwere der Grunderkrankung ohne Weiteres
ersichtlich. Insbesondere aufgrund des hohen Lebensalters wird auch einem medizinischen Laien aus den der
Beklagten bis zum Sommer 1993 vorliegenden medizinischen Unterlagen der kritische Gesundheitszustand des
Versicherten deutlich. Trotzdem hat sich die Beklagte weder an das Kreiskrankenhaus F. noch an die Hausärztin Dr.
E. gewandt, damit im Fall des Ablebens des Versicherten unverzüglich eine Obduktion veranlasst wird. Dazu war sie
jedoch nach § 20 SGB X verpflichtet. Schon deshalb sind an den Nachweis der BKen weniger hohe Anforderungen zu
stellen (BSG SozR 3-1500 § 128 Nr. 11; vgl. auch Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 25. März 1998 – L 8 U
93/97).
Des Weiteren befindet sich die Klägerin deshalb in Beweisschwierigkeiten, weil der Versicherte von der Beklagten
nicht im Einzelnen über die Belastung an seinen früheren Arbeitsplätzen befragt wurde (S. 25 f. des Gutachtens des
Prof. Dr. N. und des Dr. O. vom 23. Januar 1997). Der Beklagten hat zu Beginn des Verfahrens offensichtlich die
Wertung ihres beratenden Arztes Prof. Dr. H. genügt, der aufgrund der knappen Angaben des Versicherten über seine
Berufstätigkeit und der Stellungnahme des TAD vom 24. März 1993 von einer "pathotrop ausreichenden Exposition
gegenüber Quarz- und Asbeststäuben" ausging. Erst aufgrund der unterlassenen Obduktion hat die genaue
Expositionshöhe an Bedeutung gewonnen. Denn mit dem Auftreten einer röntgenologisch eindeutigen
Lungenasbestose ist erst ab einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis von ungefähr 50 Faserjahren zu rechnen
(aaO, S. 22; vgl. auch die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. J. vom 26. Mai 1994). Auch wenn Dr. J. in seiner
Stellungnahme vom 23. Juli 1997 zutreffend die Bemühungen der Beklagten hervorhebt, das Versäumnis der
Befragung des Versicherten durch Vernehmung von Zeugen und durch technischen Sachverstand zu beheben, kann
auch nach dieser Stellungnahme nicht ausgeschlossen werden, dass die tatsächliche Belastung wesentlich höher lag
als sie Dipl.-Ing. D. ermittelte (S. 3 der Stellungnahme vom 5. Juni 1997: " ...Berechnung der Faserjahre mit großen
Ungenauigkeiten behaftet ..."). Auch dieses Versäumnis ist der Beklagten zuzurechnen.
Im Übrigen hängt die Gewährung von Beweiserleichterungen nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der
erkennende Senat auch insoweit anschließt, nicht von einem Verschulden der Beklagten ab. So können sich zu
berücksichtigende Beweisschwierigkeiten bei einem tödlichen Unfall eines allein arbeitenden Versicherten ergeben
(BSGE 19, 52, 56: Durch Eigentümlichkeiten der Seefahrt bedingter Beweisnotstand). Auch bei einem unfallbedingten
Erinnerungsverlust können Beweiserleichterungen zugebilligt werden (BSG, Urteil vom 12. Juni 1990 – 2 RU 58/98).
Insgesamt können Eigentümlichkeiten eines Sachverhalts in besonders gelagerten Einzelfällen Anlass sein, an den
Beweis verminderte Anforderungen zu stellen (BSG, Urteil vom 31. Mai 1996 – 2 RU 24/95). Allgemein gültige
Beweiserleichterungsrichtlinien widersprechen dem in § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verankerten Grundsatz der freien
richterlichen Beweiswürdigung (BSG, Beschluss vom 18. Juli 1990 – 2 BU 37/90). Deshalb ist weiter von Bedeutung,
dass sich die Klägerin auch wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Versicherten, der eine bioptische
Sicherung der Asbestfibrose zu Lebzeiten nicht ermöglichte (S. 4 der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. G. vom
8. August 1995), in Beweisschwierigkeiten befindet. Von Bedeutung ist auch, dass die im Jahr 1992 erfolgte
Computertomographie des Thorax nicht unter der Fragestellung einer Asbestose erfolgte (aaO, S. 3 f.). Schließlich ist
zu berücksichtigen, dass während des stationären Aufenthalts des Versicherten im Oktober 1993 im
Kreiskrankenhaus F. das einen Monat zuvor durch Dr. G. gefertigte Gutachten übersehen wurde und dass deshalb die
Krankenhausärzte von sich aus keine Veranlassung sahen, mit der Beklagten die Frage der Notwendigkeit einer
Obduktion zu erörtern (Vermerk über das mit der Stationsärztin I. am 27. Dezember 1993 geführte Telefongespräch).
Dass die Klägerin von sich aus nicht diese Frage gegenüber der Beklagten ansprach, kann ihr nicht vorgehalten
werden. Abgesehen davon, dass es fraglich ist, ob die – im Zeitpunkt des Todes ihres Ehemannes 66 Jahre alte –
Klägerin in ihrer Trauer über den Tod ihres Ehemannes diese Fragestellung überblicken konnte, drängte diese sich für
die Klägerin jedenfalls deshalb nicht auf, weil sie nach der ärztlichen Anzeige über eine BK des Dr. G. vom 16.
September 1992 und dem eine BK bejahenden internistisch-pneumologischen Gutachten des Dr. G. vom 29.
September 1993 nicht damit rechnen musste, dass diese Frage weiterer Aufklärung bedurfte.
Unter Berücksichtigung der Beweisschwierigkeiten der Klägerin, die schon aufgrund der unterlassenen Obduktion
bestehen und im Übrigen auch aus den weiter genannten Gründen vorliegen, genügen dem erkennenden Senat die
von Dr. G., Prof. Dr. N. und Dr. O. sowie der Gewerbeärztin Dr. K. genannten Gründe, um sich mit der im Recht der
gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Wahrscheinlichkeit von einer beruflich verursachten Silikose und
Asbestose zu überzeugen. Entscheidend ist danach, dass der Versicherte – dieses hebt Dipl.-Ing. D. in der
Bewertung der Höhe der Exposition abschließend hervor (S. 3 der Stellungnahme vom 5. Juni 1997) – einer hohen
Staubbelastung ausgesetzt war und dass die Berufsgruppe der Feuerungsmaurer, der der Versicherte angehörte, nach
den Ausführungen des – auf dem Gebiet der Asbestforschung besonders erfahrenen – Prof. Dr. N. zu der
Personengruppe zählte, die in "außerordentlich hochgradigem Maße" (S. 22 des Gutachtens vom 23. Januar 1997)
Asbest- und Quarzstäuben ausgesetzt war. Auch sind die röntgenologischen Befunde nach den Ausführungen aller
gehörten Ärzte mit einer Asbestose jedenfalls vereinbar. Diese Wertung geht im Ergebnis auch aus dem Gutachten
der Dres. L. und M. vom 18. Januar 1996 hervor. Denn diese Ärzte kommen allein unter Zugrundelegung von 25,3
Faserjahren zu einem die BKen verneinenden Ergebnis. Schließlich spricht nach der gewerbeärztlichen
Stellungnahme vom 25. Februar 1995 und dem Gutachten vom 23. Januar 1997 auch der klinische Verlauf für eine
berufliche Verursachung der Erkrankung, und Anhaltspunkte für eine berufsunabhängig entstandene Lungenfibrose
bestehen nicht (S. 24 des internistisch-pneumologischen Gutachten vom 29. September 1993).
Die dieser Wertung entgegenstehende Schlussfolgerung des Dr. J. führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn Dr. J. hat
die Feststellung der BKen mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Wahrscheinlichkeit
allein davon abhängig gemacht, ob sich eine Belastung des Versicherten von mindestens 50 Asbestfaserjahren
nachweisen lässt und rechtliche Folgerungen insbesondere aus der unterlassenen Obduktion nicht einbezogen. Im
Übrigen bestehen auch bei der Frage der beruflichen Belastung des Versicherten für die Klägerin die oben
dargestellten Beweisschwierigkeiten. Schließlich hat auch der die Beklagte beratende Arzt Prof. Dr. H. in seiner
Stellungnahme vom 21. Januar 1994 die Anerkennung einer BK vorgeschlagen, sollte eine Obduktion nicht möglich
sein.
Die Zahlung von Verletztenrente ist in dem ausgeurteilten Umfang begründet. Bei Sauerstoffpartialdrücken unter 40
mm/Hg und der Notwendigkeit eines Sauerstoffkonzentrators war die Erwerbsfähigkeit des Versicherten mit Beginn
der stationären Behandlung am 1. September 1992 vollständig aufgehoben. Beschwerden, die eine ärztliche
Behandlung erforderten, sind davor ab dem 11. Mai 1992 dokumentiert (Befundbericht der Ärztin Dr. E. vom 4.
November 1992). Deshalb überzeugt die Schätzung der MdE durch Dr. G. ab 11. Mai 1992 mit 50 und ab 1.
September 1992 mit 100 vH (vgl. auch die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. J. vom 3. Februar 1994, S. 4 f.).
Der weitergehenden und nicht begründeten Schätzung des Prof. Dr. N. und des Dr. O. kann demgegenüber nicht
gefolgt werden. Denn es fehlen insoweit klinische Anknüpfungsbefunde. Deshalb kann dem Begehren der Klägerin auf
Zahlung von Verletztenrente nicht in vollem Umfang entsprochen werden.
Da die Folgen der BKen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten um mindestens 50 vH minderten, ist schon nach der
gesetzlichen Vermutungsregelung des § 589 Abs. 2 RVO davon auszugehen, dass er an diesen Folgen verstarb. Im
Übrigen besteht daran kein Zweifel. Deshalb hat die Klägerin auch Anspruch auf Zahlung von Witwenrente.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.