Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.06.2008
LSG Nsb: bundesamt für migration, stadt, versorgung, zahnärztliche behandlung, kamerun, hiv, aushändigung, abschiebung, erlass, gerichtsakte
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss vom 20.06.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 16 AY 19/08 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 11 AY 47/08 ER
Die Nr. 1 des Beschlusses des Sozialgerichts Osnabrücks vom 7. März 2008 wird klarstellend wie folgt gefasst: Der
Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig zur Sicherstellung
der erforderlichen medizinischen Behandlung und Versorgung Behandlungsscheine zu gewähren beginnend mit dem
20. März 2008 bis zur Entscheidung über die Klage vom 26. Mai 2008 gegen den Bescheid vom 29. Februar 2008 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2008, längstens bis zur Entscheidung des
Verwaltungsgerichts Osnabrück über die Klage vom 14. Februar 2008 gegen den Bescheid des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge vom 4. Februar 2008.
Die Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen.
Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin beider Instanzen hat der Antragsgegner zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Aushändigung von
Krankenbehandlungsscheinen nach § 4 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Zeitraum ab dem 20. März
2008 durch Aushändigung an ihren Prozessbevollmächtigten für die Zeit ihres Aufenthaltes außerhalb des Bereichs
der festgelegten räumlichen Beschränkung.
Die am 22. November 1976 geborene Antragstellerin ist kamerunische Staatsangehörige. Sie reiste im September
1999 ohne Personalpapiere in die Bundesrepublik ein und beantragte am 28. September 1999 ihre Anerkennung als
Asylberechtigte. Die Antragstellerin wurde asylverfahrensrechtlich der Stadt F. im Bereich des Antragsgegners
zugewiesen. Der Asylantrag wurde durch Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 12. Oktober 1999 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der hiergegen eingelegte Antrag auf Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes wurde durch Beschluss des Verwaltungsgerichts (VG) G. vom 29. November 1999 –H. –
abgelehnt, die eingereichte Klage durch Urteil vom 17. Januar 2000 –I. – abgewiesen; die letztgenannte Entscheidung
ist seit dem 22. Oktober 1999 rechtskräftig. Nach Abschluss des Asylverfahrens wurde sie wegen fehlender
Heimreisepapiere geduldet; in diesen Duldungen war der Aufenthalt auf den Bereich der Stadt F. und den Bereich des
Antragsgegners beschränkt. In der Zeit vom März 2000 bis Ende Juli 2005 war die Antragstellerin unbekannten
Aufenthalts. Im Sommer 2005 wurde bei der Antragstellerin eine HIV-Infektion diagnostiziert; wegen der Einzelheiten
wird auf die Bescheinigung der Medizinischen Hochschule J. vom 15. Oktober 2007 (Bl. 51 f. der Gerichtsakte)
verwiesen. Der Antrag auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens vom 11. August 2005 wurde durch Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Dezember 2005 abgelehnt; dabei ging das Bundesamt davon aus,
dass eine HIV-Infektion nicht nachgewiesen sei. Die hiergegen eingereichte Klage wurde durch Urteil des VG G. vom
6. März 2006 –K. –, rechtskräftig seit dem 30. März 2006, abgewiesen; dabei ging das VG davon aus, dass der
Antragstellerin im Falle einer Rückkehr nach Kamerun die notwendigen Medikamente für eine Behandlung ihrer
Krankheit zur Verfügung stünde. Durch Bescheid des Antragsgegners vom 17. November 2006 wurde die
Antragstellerin u.a. wegen strafrechtlicher Verurteilungen ausgewiesen. Die hiergegen eingereichte Klage wurde durch
Urteil des VG G. vom 14. Mai 2007 –L. - abgewiesen. Der Zulassungsantrag wurde durch Beschluss des
Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. September 2007 –M. –zurückgewiesen.
Am 13. März 2007 wurde die Antragstellerin bei der Botschaft von Kamerun in Köln vorgestellt. Inzwischen liegt ein
befristetes Passersatzpapier vor. Durch Beschluss des Amtsgerichts F. vom 8. Juni 2007 –N. - wurde die
Abschiebehaft angeordnet. Die für den 25. Juni 2007 geplante Abschiebung der Antragstellerin konnte nicht
durchgeführt werden, weil die Antragstellerin nicht angetroffen wurde,
Seit dem 23. August 2007 hält sich die Antragstellerin im "Kirchenasyl" in O. auf. Seitdem wurden anfangs Kranken-
Behandlungsscheine nicht mehr ausgestellt. Die medizinische Versorgung wurde in dieser Zeit durch Spenden
finanziert.
Am 23. Oktober 2007 beantragte die Antragstellerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in Abänderung der
bisherigen Bescheide wegen ihrer Erkrankung das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7
AufenthG festzustellen. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt durch Bescheid vom 4. Februar 2008 ab. Hiergegen ist
sei dem 14. Februar 2008 eine Klage beim VG G. anhängig, über die soweit ersichtlich noch nicht entschieden worden
ist.
Am 7. November 2007 beantragte die Antragstellerin bei der Stadt F. Krankenhilfe für die ärztliche Versorgung. Dieses
lehnte die Stadt F. durch Bescheid vom 12. November 2007 wegen Unzuständigkeit ab. Hiergegen legte die
Antragstellerin Widerspruch ein und beantragte zusätzlich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Durch
Beschluss vom 16. November 2007 – S 16 AY 23/07 ER - verpflichtete das Sozialgericht (SG) den Antragsgegner im
Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung, der Antragstellerin zur Sicherstellung der erforderlichen
medizinischen Behandlung und Versorgung für einen Monat beginnend mit dem 22. November 2007
Behandlungsscheine auszustellen und diese ihrem Prozessbevollmächtigten zuzustellen. Daraufhin erhielt die
Antragstellerin die Behandlungsscheine monatlich, zuletzt den Behandlungsschein vom 12. Februar 2008 für die Zeit
vom 15. bis 29. Februar 2008.
Durch Bescheid vom 6. Februar 2008 lehnte die Stadt F. die Ausstellung weiterer Behandlungsscheine ab. Hiergegen
legte die Antragstellerin am 14. Februar 2008 Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 29. Februar 2008 verfügte die Stadt
F., dass zwar wieder Behandlungsscheine ausgestellt werden, diese ab sofort jedoch nur noch in den Räumen der
Stadtverwaltung F. persönlich an die Antragstellerin ausgehändigt werden. Hiergegen legte die Antragstellerin am 7.
März 2008 Widerspruch ein.
Am 6. März 2008 hat die Antragstellerin beim SG Osnabrück den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit
dem Ziel, den Antragsgegner zur Aushändigung der Behandlungsscheine an ihren Prozessbevollmächtigten zu
verpflichten. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, dass die medizinische Versorgung in Kamerun nicht
gesichert sei und es ihr nicht zuzumuten sei, sich zur Abholung der Behandlungsscheine bei der Stadt F. einzufinden,
da ihr dann eine Inhaftierung und anschließende Abschiebung drohe. Der Antragsgegner hat nicht den Anspruch der
Antragstellerin auf Krankenhilfe nach § 4 AsylbLG bestritten, er ist jedoch der Auffassung, diesen Anspruch nur in
dem durch die Duldungen vorgegebenen räumlichen Bereich sicherstellen zu müssen. Außerdem könne sich die
Antragstellerin nicht auf eine unzureichende bzw. nicht finanzierbare medizinische Versorgung in Kamerun berufen;
insoweit verweist er auf die Auskunft des Bundesamtes auf eine Individualanfrage des Antragsgegners (vgl. Bl. 27 bis
31 der Gerichtsakte). Durch Beschluss vom 7. März 2008 hat das SG Osnabrück den Antragsgegner vorläufig
verpflichtet, Behandlungsscheine beginnend mit dem 20. März 2008 bis zur Entscheidung über den Widerspruch
gegen den Bescheid vom 29. Februar 2008, längstens jedoch über einen Zeitraum von drei Monaten auszustellen, und
diese dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin zuzustellen.
Hiergegen hat der Antragsgegner am 2. April 2008 Beschwerde eingereicht. Während des Beschwerdeverfahrens hat
der Antragsgegner die Widersprüche durch Widerspruchsbescheid vom 24. April 2008 zurückgewiesen. Hiergegen hat
die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 26. Mai 2008 beim SG Osnabrück Klage eingereicht. Die Beteiligten
wiederholen und vertiefen ihren bisherigen Vortrag im Beschwerdeverfahren. Der Antragsgegner betont ergänzend,
dass durch finanzielle Leistungen der Zugang zu den medizinischen Leistungen in Kamerun gesichert sei. Die
Antragstellerin passt ihren Antrag an die veränderte prozessuale Situation an.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die
Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahrens S 16 AY 23/07 ER sowie die beigezogene Leistungs- und
Ausländerakte der Antragstellerin verwiesen. Diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der
Entscheidung gewesen.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist gemäß §§ 172 f. Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, sie ist jedoch nicht
begründet.
Das SG Osnabrück hat den Antragsgegner zu Recht vorläufig verpflichtet, Behandlungsscheine an den
Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin auszuhändigen. Der klarstellende Tenor des Beschlusses des Senats
dient der Anpassung an die jetzige prozessuale Situation.
Gemäß § 86 b Abs 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint. Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches, die Rechtsposition, deren
Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, sowie des Anordnungsgrundes – die Eilbedürftigkeit der
begehrten vorläufigen Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs 3
Zivilprozessordnung – ZPO -). Steht der Antragstellerin ein von ihr geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu
und ist ihr nicht zuzumuten, den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, hat der Antragsteller vorläufig Anspruch auf die
beantragte Leistung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes.
Dies zugrunde gelegt, hat die Antragstellerin die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung
glaubhaft gemacht.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände die erforderliche
ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln sowie
sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen
Leistungen zu gewähren. Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass im Hinblick auf die HIV-Erkrankung der
Antragstellerin eine regelmäßige Behandlung und medikamentöse Versorgung erforderlich ist. Der Antragsgegner
weigert sich insoweit auch nicht (mehr), die hierfür erforderlichen Behandlungsscheine auszustellen.
Unstreitig ist auch, dass der Antragsgegner aufgrund der Zuweisungslage und der räumlichen Beschränkungen in den
erteilten Duldungen gemäß § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG für die Leistungsgewährung örtlich zuständig ist.
Streitig ist jedoch, ob der Antragsgegner auch verpflichtet ist, diesen Krankenhilfebedarf außerhalb seines
Zuständigkeitsbereiches sicherzustellen.
Gemäß § 11 Abs. 2 AsylbLG darf Leistungsberechtigten in den Teilen der Bundesrepublik Deutschland, in denen sie
sich einer asyl- oder ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, die für den tatsächlichen
Aufenthaltsort zuständige Behörde nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe leisten. Diese
Begrenzung gilt auch für den nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG örtlich zuständigen Leistungsträger, soweit sich ein
Leistungsberechtigter außerhalb des Zuständigkeitsbereiches dieses Leistungsträgers aufhält. Zu diesen unabweisbar
gebotenen Hilfen gehört in der Regel nur die Gewährung der notwendigen Reisekosten für die Rückkehr in den
Zuständigkeitsbereich des nach § 10a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zuständigen Leistungsträgers sowie die dringend
erforderlichen Verpflegungskosten. Lediglich in begründeten Ausnahmefällen kann sich im Rahmen des § 11 Abs. 2
AsylbLG eine weitergehende Leistungspflicht ergeben. So ist etwa im Falle eines Unfalles eine aus medizinischen
Gründen unaufschiebbar erforderliche Krankenhilfe zu gewähren (vgl. GK-AsylbLG, § 11 Rn. 58 ff. m.w.N.).
Leistungen an einem anderen Ort setzen somit Gründe voraus, die ein Verbleiben dort zwingend erfordern und eine
Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 5. September 2006 – 2 K 403/04 – recherchiert
in juris, Rn. 21).
Angesichts der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und auch nur angezeigten
summarischen Prüfung lässt sich gegenwärtig noch nicht hinreichend sicher feststellen, ob der Antragstellerin eine
Rückkehr in die Stadt F. für das Abholen der Behandlungsscheine zumutbar ist. Die Befürchtung, bei der Stadt F. bei
der Abholung der Behandlungsscheine inhaftiert zu werden und von einer baldigen Abschiebung bedroht zu sein, ist
nicht von der Hand zu weisen. Diese allgemeine Befürchtung allein rechtfertigt es jedoch regelmäßig nicht, sich
außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des örtlich zuständigen Leistungsträgers aufhalten zu dürfen und dort
Leistungen zu erhalten. Vielmehr muss ein besonderes darüber hinausgehendes Interesse hinzukommen, um eine
zumindest vorübergehende Unzumutbarkeit einer Rückkehr in den Zuständigkeitsbereich des örtlich zuständigen
Leistungsträgers annehmen zu können. Eine solche Entscheidung kann nur unter Berücksichtigung der besonderen
Umstände des Einzelfalles ergehen. Vorliegend sind nach summarischer Prüfung derartige besondere Umstände zur
Zeit noch gegeben. Bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten der HIV-Erkrankung der Antragstellerin ist nämlich von
dem für diese Beurteilung zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch keine bestandskräftige
Sachentscheidung getroffen worden. Im Bescheid vom 27. Dezember 2005 aufgrund des Asylfolgeantrags vom 11.
August 2005 ging das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nämlich noch davon aus, dass eine HIV-Infektion
nicht nachgewiesen sei. Davon kann nach den jetzt vorliegenden medizinischen Bescheinigungen, insbesondere von
der Medizinischen Hochschule J. vom 15. Oktober 2007, nicht mehr ausgegangen werden. Der weitere Bescheid des
Bundesamtes vom 4. Februar 2008 ist noch nicht bestandskräftig. Zwar ging das VG G. schon im Urteil vom 6. März
2006 –K. – davon aus, dass der Antragstellerin im Falle einer Rückkehr nach Kamerun die erforderlichen
Medikamente für eine Behandlung ihrer Krankheit zur Verfügung stünden. Auch das Niedersächsische
Oberverwaltungsgericht ging im Ausweisungsrechtsstreit im Beschluss vom 21. September 2007 –M. – davon aus,
dass nach der fachkundigeren Stellungnahme des P. -Instituts für Tropenmedizin die notwendigen Medikamente in
Kamerun zur Verfügung stehen. Im Rahmen einer Folgeabwägung im vorliegenden Verfahrens des vorläufigen
Rechtsschutzes hält es der erkennende Senat aber für sachgerecht, bezüglich der Behandlungssituation in Kamerum
zumindest den Ausgang des Klageverfahrens vor dem VG G. gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge vom 4. Februar 2008 abzuwarten. Dieses führt auch nicht zu unzumutbaren Nachteilen für den
Antragsgegner.
Bei dieser Sachlage ist auch der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund
gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).