Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18.11.2004

LSG Nsb: armee, besondere härte, wehrpflicht, udssr, staatsangehörigkeit, soldat, erwerb, stadt, versorgung, ermessen

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 18.11.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 18 V 9/99
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5 V 4/03
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 10. September 2002 wird geändert. Der Beklagte wird verurteilt, den
Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung im Wege des Härteausgleichs gem. § 89 Abs 1 iVm § 2 Abs 2
BVG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden. Der Bescheid vom 27. Mai 1997 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juli 1998 wird insoweit aufgehoben. Im Übrigen wird die Berufung
zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), hilfsweise um die
Gewährung eines Härteausgleiches nach dem BVG.
Die Klägerin ist die Witwe und Rechtsnachfolgerin des am 23. Juni 1923 geborenen und am 27. Juli 1997
verstorbenen Versorgungsberechtigten (VB) Fedor Eidelmann. Der VB wurde als Kind jüdischer Eltern in der Ukraine
geboren. Nach Übersiedlung in die Bundesrepublik im Jahre 1992 hatte er den Status eines Kontingentflüchtlings. Im
Jahre 1996 stellte der VB einen Antrag auf Einbürgerung. Der VB war der deutschen Sprache nicht mächtig.
Im Juni 1941 schloss der VB die Oberschule in der Ukraine nach Vollendung der 10. Klasse ab. Im Januar 1942
wurde der VB in die Rote Armee eingezogen. Von Februar bis Oktober 1942 besuchte er die Infanterie-Militärschule in
Krasnocholmsk als Offiziersschüler. Von Oktober 1942 bis April 1943 war er Zugführer eines Schützenzuges. Ab April
1943 war er Kompaniechef einer Schützenkompanie im Range eines Leutnants. Ab April 1944 wurde er als Stabschef
eines Bataillons eingesetzt. Am 29. Juli 1944 wurde er als Adjutant im Rang eines Oberleutnants im Baubataillon des
115. Schützenregimentes an der deutsch-russischen Front nordwestlich von Brest in Weißrussland von einem
Granatsplitter im linken Kiefergelenk verletzt. Ab Dezember 1944 wurde er als Stellvertreter des Kommandeurs des
Schützenbataillons eingesetzt. Ab Februar 1945 war der VB Kommandeur des Schützenbataillons. Am 29. April 1945
erlitt der VB bei einem Fronteinsatz vor der Stadt Schwerin eine weitere schwere Verwundung am linken Bein. Zu
diesem Zeitpunkt stand er im Range eines Gardemajors der Garde- Schützendivision eines Baubatallions. Nach
Kriegsende verblieb der VB in der Roten Armee. Von 1947 bis 1950 diente er als Kommandeur eines
Kampftruppenteils. 1962 wurde er Regimentskommandeur. Danach wechselte er 1962 zur Nordmeerflotte. 1967 wurde
er als Besatzungskommandeur einer Schiffsstammabteilung im Enddienstgrad eines Oberst aus gesundheitlichen
Gründen in den Ruhestand versetzt. Der VB hatte den Status eines Kriegsinvaliden, der ihm aufgrund der
Gesetzgebung der UdSSR und der Unionsrepubliken für die Invaliden des Vaterländischen Krieges das Recht auf
Vergünstigungen und Ermässigungen gab (Invalidenausweis vom 26. April 1991).
Im Juni 1992 stellte der VB einen Antrag auf Beschädigtenversorgung, der erfolglos blieb, weil der VB weder
Deutscher, deutscher Volkszugehöriger noch Vertriebener im Sinne des BVG sei (Bescheid vom 4. Juni 1992). Ein im
Februar 1994 gestellter Antrag auf Beschädigtenversorgung blieb aus denselben Gründen erfolglos (Bescheid vom 18.
April 1994).
Nachdem der VB einen Einbürgerungsantrag gestellt hatte, stellte er im April 1996 erneut einen Antrag auf
Beschädigtenversorgung. Unter Vorlage diverser medizinischer und militärischer Unterlagen gab er an, ohne seinen
Willen Offizier geworden zu sein. Nach Kriegsende habe er mehrfach Entlassungsgesuche aus der Armee gestellt, die
jedoch abgelehnt worden seien. Der Antrag blieb erneut erfolglos. Zur Begründung führte der Beklagte wiederum an,
dass der VB nicht zu dem nach dem BVG anspruchsberechtigten Personenkreis zähle. Zwar könne mit Zustimmung
des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung bei Kontingentflüchtlingen eine Ausnahmeregelung getroffen
werden. Die Voraussetzungen hierfür erfülle der VB aber nicht, weil er nicht Wehrdienst in der russischen Armee
geleistet habe, sondern als Berufssoldat tätig gewesen sei, wofür der Offiziersstatus, zuletzt im Rang eines Oberst
spreche (Bescheid vom 27. Mai 1997).
Unter Bezugnahme auf die Bescheinigung des Gebietsmilitärkommissariats der Stadt Kiew vom 17. Juni 1997,
wonach der VB am 17. Januar 1942 in den Militärdienst einberufen worden ist und einer weiteren Archivauskunft des
staatlichen Archivs des Orenburger Gebiets vom 16. März 1990 legte der VB Widerspruch ein. Nach Vorlage der
Stellungnahme des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Stadt Potsdam vom 17. Juni 1998, wonach der VB
den Status eines Berufssoldaten gehabt habe, da eine gesetzliche Wehrpflicht nicht bestanden habe, blieb der
Widerspruch erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 1998).
Hiergegen hat die Klägerin am 22. Januar 1999 vor dem Sozialgericht (SG) Hannover Klage erhoben. Sie hat sich
daruf berufen, dass der VB Wehrdienst in einer fremden Armee geleistet habe. Er sei in den Militärdienst einberufen
worden, so dass der Wehrdienst nicht freiwillig abgeleistet worden sei. Der eigentliche Berufswunsch des VB sei
Ingenieur gewesen. Es gebe keinen Grund, Berufssoldaten fremder Herkunftsländer von der Beschädigtenversorgung
auszuschließen. Das Sozialgericht (SG) hat eine Stellungnahme des Institutes für Militärgeschichte für Streitkräfte
GUF in Moskau vom 18. Juli 2000 eingeholt, wonach es nach dem zweiten Weltkrieg keine Berufsarmee gegeben
habe. Die Einberufung der Bürger habe auf einer allgemeinen Militärdienstpflicht beruht. Im August 1941 sei die
Mobilisierung der Militärdienstpflichtigen, insbesondere des Jahrganges 1923 erfolgt.
Daraufhin hat das SG die Klage mit Urteil vom 10. September 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es im
Wesentlichen ausgeführt, dass der VB nicht zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis gem. §§ 1, 2 BVG zähle,
da er weder Deutscher, deutscher Volkszugehöriger, Vertriebener noch Spätaussiedler gewesen sei. Auch stehe ihm
ein Anspruch nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 zweite Alternative BVG nicht zu, weil der VB militärischen Dienst außerhalb der
deutschen Wehrmacht geleistet habe. Es fehle auch an den Voraussetzungen für die Gewährung eines
Härteausgleichs gem. § 89 Abs. 1 BVG, wie sie in den Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung vom 02. Mai 1994 (Az.: VI 1-5200) und vom 11. April 1995 (Az.: VI 1-5200) formuliert sind. Der VB sei
weder deutschsprachig noch Verfolgter des Nationalsozialismus gewesen. Im Übrigen scheiterten die
Voraussetzungen daran, dass der VB den Status eines Berufssoldaten gehabt habe. Unter Bezugnahme auf das
Urteil des BSG vom 18. Juni 1996, Az.: 9 RV 6/94 (SozR 3-5050 § 5 Nr 2 = BSGE 78, 265) sei der Auschluss von
Versorgung wegen eines im feiwilligen Wehrdienst erlittenen Unfalls keine besondere Härte; die nichtfreiwillige
Leistung des Wehrdienstes sei vielmehr Voraussetzung für die Gewährung eines Härteausgleichs. In Ländern ohne
Berufssoldatentum mit gleichzeitiger Wehrpflicht überwiege die freiwillige Ableistung des Wehrdienstes immer dann,
wenn der Soldat in auffälligerArt und Weise eine mililtärische Karriere durchlaufen habe, denn nur besonders
verlässliche, kompetente und treu ergebene Sodaten könne es gelingen, in jungen Jahren derart herausgehobene
Ämter zu erlangen. Vom Eintritt in die Offizierschule an habe der VB einen Status ähnlich dem eines Berufssoldaten
gehabt. Die militärische Karriere habe der VB dann konsequent auch über das Ende des Krieges hinaus bis zu seinem
Ruhestand fortgeführt. Auch dies spreche für eine freiwillig abgeleistete Militärzeit.
Hiergegen richtet sich die am 28. Januar 2003 eingelegte Berufung. Unter Vertiefung des erstinstanzlichen
Vorbringens meint die Klägerin, dass der VB nicht einem Berufssoldaten gleichzustellen sei. Unter Vorlage zweier
Bestätigungen der Brüder des verstorbenen VB beruft sich die Klägerin darauf, dass der VB die Militärschule nicht
freiwillig besucht habe. Nach dem Krieg habe er mehrere Entlassungsanträge aus dem Militärdienst gestellt, die
jedoch abschlägig beschieden wurden, weil der VB in der Armee anderweitig verwendet worden sei. Der VB habe an
sich Ingenieur werden wollen. Hierfür spreche auch, dass er während des Krieges als sogenannter "Bausoldat" tätig
gewesen sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß schriftsätzlich,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 10. September 2002, den Bescheid des Beklagten vom 27. Mai 1997
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juli 1998 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, Beschädigtenversorgung nach einer MdE von mindestens 25 vH für die Zeit vom 01.
April 1996 bis 31. Juli 1997 zu gewähren,
3. hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung im Wege des
Härteausgleichs nach § 89 Abs 1 iVm § 2 Abs 2 BVG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu
bescheiden.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Sachverständigengutachtens des Historikers Dr. Bernhard Chiari
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam vom 18. August 2004.
Die Beschädigtenakte des VB, Az.: 803 039 03, und die Prozessakten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens
haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen. Im Einzelnen wird auf den Inhalt der Akten Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Mit Zustimmung der Beteiligten hat der Senat gem. § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche
Verhandlung durch Urteil entschieden.
Die gemäß § 143 SGG zulässige Begründung ist teilweise begründet. Der Klägerin stehen als
Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne der §§ 56 Abs. 1 Nr. 1, 59 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)
Ansprüche auf Beschädigtenversorgung nicht zu, weil der VB nicht zu dem nach § 1 Abs 1, § 2 Abse. 1 und 2, § 7
Abs 1 Nr. 3 BVG anspruchsberechtigten Personenkreis zählt. Insoweit haben das SG und der Beklagte die Ansprüche
zu Recht abgelehnt.
Anspruch auf Versorgung hat, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen
Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch diesem
diensteigentümlichen Verhältnis eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat (§ 1 Abs. 1 BVG). Militärischer Dienst im
Sinne dieses Gesetzes ist gem. § 2 Abs 1 BVG
a) jeder nach deutschen Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat oder Wehrmachtbeamter, b) der Dienst im deutschen
Volkssturm, c) der Dienst in der Feldgendarmerie, d) der Dienst an den Heimatflakbatterien.
Als Soldat der russischen Armee unterfällt der VB nicht dem genannten Personenkreis.
Gem. § 2 Abs 2 BVG steht bei Vertriebenen im Sinne des § 1 BVG, die Deutsche oder deutsche Volkszugehörige
sind, die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslands vor dem 09. Mai 1945 dem
Dienst in der deutschen Wehrmacht gleich. Satz 1 gilt auch für Spätaussiedler im Sinne des § 4 des
Bundesvertriebenengesetzes (§ 2 Abs. 2 BVG). Da der VB weder Deutscher, noch deutscher Volkszugehöriger oder
Spätaussiedler war, unterfällt er auch nicht diesem Personenkreis.
Gem. § 7 Abs 1 Nr. 3 BVG wird das Gesetz auch angewendet auf andere Kriegsopfer, die ihren Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, wenn die Schädigung mit einem Dienst im
Rahmen der deutschen Wehrmacht oder militärähnlichem Dienst für eine deutsche Organisation in ursächlichem
Zusammenhang steht (1. Alt.) oder in Deutschland oder in einem zurzeit der Schädigung von der deutschen
Wehrmacht besetzten Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten ist (2. Alt.). Der VB hat weder im Sinne
der ersten Alternative von § 7 Abs 1 Nr. 3 BVG Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht noch einen
militärähnlichen Dienst für eine deutsche Organisation geleistet. Es besteht kein Zweifel daran, dass der VB
ausschließlich als Soldat der Roten Armee gedient hat. Auch die zweite Alternative von § 7 Abs. 1 Nr. 3 BVG lässt
sich nicht feststellen. Es mag dahinstehen, ob die örtlichen Voraussetzungen dieser Alternative vorliegen. Nach
höchstrichterlicher Rechtsprechung greift die zweite Alternative dem Sinn und Zweck der Vorschrift bereits dann nicht,
wenn der militärische Dienst außerhalb des Rahmens der deutschen Wehrmacht geleistet worden ist und in Ausübung
dieses Dienstes Gesundheitsschäden durch Kampfhandlungen eingetreten sind (vgl. BSGE 45, 166 = SozR 3100 § 7
Nr 5; BSGE 89, 207 = SozR 3-3100 § 7 Nr 7). Demnach hat die erste Alternative des § 7 Abs. 1 Nr. 3 BVG für
ausländische Kombattanten Vorrang. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die zweite Alternative von § 7 Abs. 1
Nr. 3 BVG einen für Dienstleistenden außerhalb des Rahmens der deutschen Wehrmacht von den übrigen Merkmalen
der ersten Alternative unberührt bleibenden zusätzlichen Versorgungsanspruch schaffen wollte (vgl. BSGE 45, 166 =
SozR 3100 § 7 Nr 5).
Die Berufung ist insoweit begründet, als der Beklagte über den zu 3. gestellten Hilfsantrag nach pflichtgemäßem
Ermessen neu zu entscheiden haben wird. Insofern waren die angefochtenen Bescheide aufzuheben. Das SG hat den
zulässigen Bescheidungsantrag (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG) zu Unrecht abgewiesen. Der Beklagte hat von seinem
Ermessen, im Wege des Härteausgleichs über die Beschädigtenversorgung zu entscheiden (§ 89 Abs 1 iVm § 2 Abs
2 BVG), in einer nicht dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Der Beklagte hat
verkannt, dass der VB im Zeitpunkt der beiden Kriegsverwundungen Wehrdienst in einer fremden Armee geleistet
bzw. die gesetzliche Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes vor dem 09. Mai 1945 erfüllt hat (§ 2 Abs
2 BVG).
Gem. § 89 Abs 1 BVG kann mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung ein Ausgleich
gewährt werden, sofern sich in einzelnen Fällen aus den Vorschriften des BVG besondere Härten ergeben. Der
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann der Gewährung von Härteausgleich allgemein zustimmen (§ 89
Abs. 2 BVG). Das BMA hat mit Rundschreiben vom 02. Mai 1994 (Az.: VI 1-5200) geregelt, dass unter § 89 Abs. 1
i.V.m. § 2 Abs. 2 BVG folgende Fallgruppen Ansprüche nach dem BVG geltend machen können:
1. deutschsprachige Juden aus den Ostgebieten bzw. Ost- und Südosteuropa, die ihren Wehrdienst in der Roten
Armee oder in einer anderen fremden Armee abgeleistet haben (Zeitraum 01. September 1939 bis 08. Mai 1945).
2. Verfolgte des Nationalsozialismus (z.B. polnische oder russische Juden), die ebenfalls vor dem 09. Mai 1945
Wehrdienst in der Roten Armee oder in einer anderen fremden Armee geleistet haben. 3. Kontingentflüchtlinge, wenn
sie a) Wehrdienst in einer fremden Armee (vor dem 09. Mai 1945) geleistet haben oder eine Gesundheitsschädigung
durch unmittelbare Kriegseinwirkungen außerhalb des deutsch-besetzten Gebietes (aber innerhalb des
Kampfgebietes) erlitten haben, b) Gesundheitsschäden durch unmittelbare Kriegseinwirkung im deutsch-besetzten
Gebiet erlitten haben.
Diesen Fallgruppen sei gemeinsam, dass sie durch die Ansiedlung in Deutschland bzw. den Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit Ansprüche auf Kriegsopferversorgung gegen ihr Herkunftsland verloren hätten. In Fällen zu 1. bis
3. a) bestünden keine Bedenken, Versorgung im Wege des Härteausgleichs nach § 2 Abs. 2 i.V.m. § 89 Abs. 1 BVG
zu gewähren, wenn die Antragsteller im Zeitpunkt der Antragstellung die deutsche Staatsangehörigkeit erworben
hätten.
Mit weiterem Rundschreiben vom 11. April 1995 (Az.: VI 1-5200) wies das Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung darauf hin, dass die in dem Rundschreiben vom 02. Mai 1994 dort aufgezeigten Fallkonstellationen 2.
und 3. a) als rechtlich problematisch erachtet wurden, wenn die Betroffenen im Zeitpunkt der Antragstellung die
deutsche Staatsangehörigkeit nicht oder noch nicht erworben hätten. In diesen Fällen sei wie folgt zu verfahren:
- Die Betroffenen werden angehalten, einen Antrag auf Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zu stellen.
- Bei Vorliegen aller sonstigen Voraussetzungen kann danach mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung im Einzelfall ein Vorbehaltsbescheid erteilt werden, der an den endgültigen Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit und den ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik anknüpft.
Mit weiterem Rundschreiben vom 20. Dezember 1996 (Az.: VI 1-5200) teilte das Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung mit , dass aus Anlass eines Einzelfalles die Frage aufgeworfen worden sei, ob dem Härteausgleich
nach § 89 Abs 1 BVG auch dann zugestimmt werden könne, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Schädigung
Berufssoldat gewesen sei. Da § 2 Abs 2 BVG ausdrücklich nur solche Personen erwähne, die ihre gesetzliche
Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes erfüllt hätten, dürfe nach Auffassung des Bundesministeriums
das Gesetz nicht durch § 89 Abs BVG unterlaufen werden.
Zur Überzeugung des Senats steht nach Einholung des Sachverständigengutachtens des Historikers Dr. Chiari vom
Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam vom 18. August 2004 fest, dass der VB die kriegsbedingten
Gesundheitsschädigungen an der deutsch-russischen Front am 29. Juli 1944 und am 29. April 1945 in Ausübung
seines Wehrdienstes in einer fremden Armee (vor dem 09. Mai 1945) erlitten hat. Die in den zitierten Rundschreiben
des BMA vom 02. Mai 1994 und 11. April 1995 aufgezeigte Fallkonstellation der Ersten Alternative der Nr. 3a
(Wehrdienst in einer fremden Armee vor dem 09. Mai 1945) lässt sich aufgrund der Ausführungen des
Sachverständigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen. Dr. Chiari hat die Einberufungspraxis
in die Rote Armee zum damaligen Zeitpunkt überzeugend geschildert. Danach steht fest, dass der VB im Januar 1942
nicht freiwillig in die Rote Armee eingetreten ist. Der VB wurde vielmehr in Befolgung eines Gestellungsbefehls der
sowjetischen Behörden zum Wehrdienst eingezogen. Grundlage des Einberufungsbefehls war das Gesetz des
obersten Sowjets der UDSSR über die allgemeine Militärdienstpflicht vom 01. September 1939. Dieses sah u.a. eine
Grundwehrdienstzeit zwischen 2 und 5 Jahren - abhängig von der Waffengattung - und die Einberufung für Abgänger
der Mittelschulen ab dem 18. Lebensjahr vor. § 3 des Gesetzes regelte, dass alle männlichen Bürger der UDSSR,
ohne Unterscheidung der Rasse, der Nationalität, des Glaubensbekenntnisses, des Bildungsstandes, der
Abstammung und des sozialen Standes verpflichtet waren, Militärdienst in den Streitkräften der UDSSR zu leisten.
Dieses Gesetz wurde bereits vor dem deutschen Angriff und vor Ausrufung des Kriegszustandes am 22. Juni 1941
angesichts der Bedrohung durch die deutsche Wehrmacht dahingehend modifiziert, dass zur Erhöhung des
sowjetischen Verteidigungspotentials eine Entlassungssperre für Wehrpflichtige bis Kriegsende befohlen wurde. Das
Ausscheiden aus den Streitkräften war nur noch bei entsprechend schwerer Verwundung oder dem militärisch
angeordneten Einsatz in einem anderen Bereich, wie etwa der Rüstungsindustrie möglich. Es steht daher zur
Überzeugung des Senats fest, dass der VB in Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des
Herkunftslandes vor dem 9. Mai 1945 im Sinne von § 2 Abs 2 BVG in die Rote Armee eingezogen worden ist.
Diese Beurteilung trifft auch mindestens bis zum Zeitpunkt der beiden Verwundungen am 29. Juli 1944 und am 29.
April 1945 zu. Dem steht nicht entgegen, dass der VB mit dem Eintritt in die Offiziersschule im Februar 1942 die
Offizierslaufbahn eingeschlagen hat und seitdem im Rang eines Offiziers stand. Nach den überzeugenden
Ausführungen des Sachverständigen gab es eine Berufsarmee in der UDSSR bis zu deren Auflösung nicht. Deshalb
war auch der Begriff des Berufssoldaten nach Auskunft des Moskauer Instituts für Militärgeschichte des
Verteidigungsministeriums der russländischen Förderation vom 18. Juni 2000 nicht gebräuchlich. Den rechtlichen
Status eines Berufssoldaten kann der VB deshalb nicht gehabt haben. Hiervon zu unterscheiden ist der faktische und
gesellschaftliche Status von russischen Offizieren, die eine priviligierte Stellung in den Streitkräften und eine zentrale
Funktion im stalinistischen Staat hatten. Auch wenn der Besuch einer Offiziersschule gleichbedeutend war mit einer
lebenslangen Ausübung des Offizierberufes, erfolgten die Verwundungen des VB an der deutsch-russischen Front
nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen infolge eines militärisch begründeten Befehls in
Ausübung des Wehrdienstes, der auf einer gesetzlich begründete Militärpflicht beruhte. Die gesetzliche Militärpflicht
dauerte mindestens bis zum Ende des Krieges an. Sie war nach den geschilderten Umständen seinerzeit so
maßgeblich, dass sich der VB ihr nicht ohne erhebliche persönliche Folgen hätte entziehen können. Ein unter solchen
Bedingungen im zweiten Weltkrieg unter Fronteinsatz abgeleisteter Wehrdienst lässt sich in dieser Konstellation nicht
als "freiwillig" einstufen, denn die gesetzlich begründete Militärpflicht gab dem Wehrdienst das maßgebliche Gepräge.
Diese Beurteilung entspricht im übrigen auch den glaubhaften schriftlichen Angaben des VB und seiner Brüder, die
wiederholt dargelegt haben, dass der VB "nicht freiwillig" Offizier geworden sei. Dass der VB nach Ende des Krieges
eine militärische Bilderbuchkarriere in der damaligen Sowjetunion durchlaufen ist, mindert diese Bewertung nicht. Es
kommt lediglich auf den Zeitpunkt der Verwundungen an; eine Berufsarmee ist erst später begründet worden.
Das vom Sozialgericht angeführte Urteil des Bundessozialgerichts vom 18. Juli 1996, Az.: 9 RV 6/94 (SozR 35050 §
5 Nr. 2 = BSGE 78, 265) steht diesen Feststellungen nicht entgegen. In der vorgenannten Entscheidung ging es um
die Frage, ob ein im freiwilligen Wehrdienst der Nationalen Volksarmee erlittener Dienstunfall im Wege des
Härteausgleichs nach § 89 Abs. 1 BVG i.V.m. § 82 Abs. 2 BVG zu entschädigen ist. Zurzeit des Unfalles im Jahre
1960 gab es in der DDR keine gesetzliche Wehrpflicht. Es handelt sich im Übrigen um eine Einzelfallentscheidung,
die keine Rückschlüsse auf die hier vorliegende Problematik zum kriegsbedingten Wehrdienstes in der Roten Armee
zulässt. Im Übrigen ist auch keine entgegenstehende Entscheidung des Bundessozialgerichts zu dieser Frage
ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht § 160 Abs. 2 SGG.