Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 26.11.2002
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 26.11.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Braunschweig S 10 SB 197/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5/9 SB 8/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe des festzustellenden Grades der Behinde-rung (GdB) im Rahmen eines
Neufeststellungsverfahrens.
Im Streit steht noch die Frage, ob die bei der 1943 geborenen Klägerin bestehen-den Beeinträchtigungen einen
höheren als den im erstinstanzlichen Verfahren vom Beklagten bereits anerkannten GdB von 30 rechtfertigen.
Mit Abhilfebescheid vom 11. Januar 1984 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 20 fest unter
Anerkennung der folgenden Funktionsstörungen:
1. umformende Veränderung der Wirbelsäule (verwaltungsinterne Bewertung mit einem GdB von 10 )
2. Verlust der Gebärmutter mit beiden Anhängen (verwaltungsinterne Be-wertung mit einem GdB von 15- 20).
Mit Antrag vom 20. November 1996 beantragte die Klägerin unter anderem die Neufestsetzung des GdB wegen
Verschlimmerung ihrer Wirbelsäulenbeschwer-den. Hinzu getreten seien Beeinträchtigungen des linken Kniegelenks,
häufige Atemwegsinfekte mit Verlust des Geruchssinns, Abgeschlagenheit sowie erhebli-che Kopfschmerzen.
Mit Bescheid vom 7. Januar 1997 lehnte der Beklagte den Neufeststellungsantrag ab, da eine Verschlimmerung der
anerkannten Beschwerden nicht eingetreten sei und den hinzugetretenen Beeinträchtigungen kein messbarer GdB
zukomme. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 1997
zurückgewiesen.
Dagegen hat die Klägerin am 21. Januar 2000 Klage erhoben, mit der sie die Festsetzung eines GdB von mindestens
40 weiterverfolgt hat. Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat zur Aufklärung des Sachverhalts Be-fundberichte von
Dr. H., Internist/Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde, Dr. I., Facharzt für Orthopädie, Dr. J., Fachärztin für
Orthopädie; Dr. K., Facharzt für Neurochirurgie; L., Facharzt für Orthopädie, herangezogen. Gemäß Beweisan-ordnung
vom 19. Januar 1998 hat es das fachorthopädische Gutachten des Dr. M. vom 20. Februar 1998 mit den ergänzenden
Stellungnahmen vom 10. Juli 1998 und 1. Juni 1999 eingeholt worden. Dr. M. kommt in seinem Gutachten zu
folgenden Diagnosen:
1. ausgeprägte mehr-etagige Bandscheibendegeneration im Bereich der LWS. Arthrose im Bereich der kleinen
Wirbelgelenke (empfohlener GdB 20).
2. Schwere degenerative Veränderungen im Bereich der mittleren und unte-ren Halswirbelsäule mit Beeinträchtigung
der nervalen Strukturen und langanhaltenden Schulterarmsyndromen bzw zervikaler Kopfschmerzen (empfohlener
GdB 30).
3. Dezente Instabilität linkes Kniegelenk (empfohlener GdB 10).
Daraus ergebe sich ein Gesamt-GdB von 40, der allein verursacht werde durch die Behinderungen am Haltungs- und
Bewegungsapparat.
Daraufhin hat der Beklagte ein von der Klägerin angenommenes Teil-Anerkenntnis ( Ausführungsbescheid vom 10.
Juni 1998 ) dahin abgegeben, dass der GdB ab November 1996 mit 30 bewertet und als Behinderungen Wirbelsäu-
lenbeschwerden im oberen und unteren Bereich sowie eine Instabilität des linken Kniegelenks anerkannt werde. Von
demselben Zeitpunkt an werde eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festgestellt.
Mit Urteil vom 3. November 1999 hat das SG die weitergehende Klage abgewie-sen. Zur Begründung seiner
Entscheidung hat es ausgeführt, dass die bei der Klägerin bestehenden Behinderungen keinen höheren als den vom
Beklagten anerkannten GdB von 30 rechtfertigten. Dabei stützt das SG seine Überzeugung auf die medizinischen
Feststellungen des Sachverständigen, kommt jedoch zu einer geringeren Bewertung der Behinderungen im Rahmen
der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz” (AHP).
Gegen das am 28. Dezember 1999 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 21. Ja-nuar 2000 Berufung eingelegt mit der
Begründung, dass das SG weder den me-dizinischen Sachverhalt ausreichend ermittelt noch die beigezogenen
Stellung-nahmen des Sachverständigen objektiv gewürdigt habe. Offenbar gehe das SG in Bezug auf die Bewertung
der Schädigung in zwei Wirbelsäulenabschnitten von einer unklaren Sachverständigenaussage aus, die es versäumt
habe zu klären. Als Folge der Schmerzzustände, die den gesamten Wirbelsäulenbereich erfass-ten, habe sie eine
Schmerztherapie beginnen müssen. Der behandelnde Neuro-chirurg habe eine ausgeprägte Fibromyalgie sowie ein
myofacielles Syndrom di-agnostiziert. Der Entlassungsbericht der N. gebe ihren Gesundheitszustand nur
unvollständig wieder, da Schmerzlinderung und Verbesserung der Beweglichkeit nur wenige Tage angehalten hätten.
Die neben dem orthopädischen Beschwerdebild bestehenden Narbenschmerzen nach Unterleibsoperationen sowie die
rezidivierende Bronchitis mit Nebenhöhle-naffektionen seien gänzlich unberücksichtigt geblieben.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
1. das Urteil des SG Braunschweig vom 3. November 1999 aufzuheben,
2. den Bescheid des Beklagten vom 7. Januar 1997 und den Widerspruchs-bescheid vom 22. April 1997 in der
Fassung des Ausführungsbescheides vom 10. Juni 1998 zu ändern,
3. den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 40 festzustellen.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er vertritt die Ansicht, dass nach den vorliegenden ärztlichen Befunden schwer-wiegende Schädigungen im Hals- und
Lendenwirbelsäulenbereich nicht festge-stellt werden könnten, ebensowenig wie die behaupteten erheblichen
Einschrän-kungen der Beweglichkeit des rechten Kniegelenks.
Das Landessozialgericht hat aktuelle Befundberichte des Hausarztes Dr. O., des Internisten Dr. H., der Orthopäden
Dr. I., Dr. J. und Dr. L. sowie des Neurochirur-gen Dr. P. eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Schwerbehindertenakte sowie der
Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Ver-handlung nach § 124 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 40. Auch im Berufungsverfahren vor
dem erkennenden Senat haben sich die Vor-aussetzungen für die begehrte Erhöhung nicht feststellen lassen.
Rechtsgrundlage für die Neufeststellung ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 69
Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) vom 19. Juni 2001, das am 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist, das
Schwerbehinderten-gesetz (SchwbG) ersetzt hat und deshalb hier anwendbar ist. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein
mit Dauerwirkung ausgestatteter Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhält-nissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung ein-tritt.
An einer solchen Änderung in Gestalt einer Verschlimmerung des Gesundheits-zustandes der Klägerin, die einen
höheren als den bereits vom Beklagten aner-kannten GdB von 30 rechtfertigt, fehlt es.
In Bezug auf die von der Klägerin vorgetragen Narbenschmerzen nach Unter-leibsoperationen fehlt es an der
Objektivierbarkeit, da diese aus keinem der ein-geholten Befundberichte hervorgehen. In seinem Befundbericht vom
16. Dezem-ber 1998 weist Dr. O. darauf hin, dass die Beschwerden im Narbenbereich von ihm nicht behandelt
würden. Die Angabe in seinem Befundbericht vom 22. Dezember 2000, die Klägerin klage immer wieder über ziehende
Unterbauch-beschwerden, die durch Narbenbildung erklärt würden, ist zu wenig differenziert, um ein Leiden zu
belegen. Dass dem Verlust der Gebärmutter bei der Klägerin wegen ihres Alters kein messbarer GdB zukommt, hat
das SG bereits zutreffend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf diese Aus-führungen
Bezug, § 153 Abs.2 SGG.
Der vorgetragenen rezidivierenden Bronchitis mit Nebenhöhlenaffektionen kommt ebenfalls kein messbarer GdB zu.
Dem Befundbericht des behandelnden Inter-nisten - Lungen- und Bronchialheilkunde - Dr. H. vom 2. Januar 2001 lässt
sich lediglich eine leichte obstruktive Ventilationsstörung entnehmen. Die Thoraxrönt-genaufnahme hat keinen
krankhaften Befund ergeben. Eine chronische Bronchi-tis, die unter den Voraussetzungen der AHP Nr. 26.8, S. 82 mit
einem GdB zu bemessen wäre, wird weder von Dr. H. noch von dem Hausarzt Dr. O. attestiert.
Die leichte Instabilität des linken Kniegelenkes rechtfertigt keine höhere Bewer-tung als mit einem GdB von 10, wie
verwaltungsintern bereits angenommen. Zu dieser Einschätzung kommt auch der Sachverständige Dr. M. in seinem
fachor-thopädischen Gutachten vom 20. Februar 1998. Damit decken sich die von Dr. I. im Bericht vom 9. Januar
2001 mitgeteilten Befunde. Abgesehen von einer gro-ßen Bakercyste stellte er keinen Gelenkerguss und keinen
Rotationsschmerz fest. Eine Überprüfung der Streck- und Beugefähigkeit nach der Neutral- Null-Methode ergab die
Ausmaße 5/0/130. Aus dem Vergleich zu den Normalwerten mit 0/0/120-150 ergibt sich eine nur minimale
Funktionseinschränkung des Knie-gelenks. Der Befundbericht des Orthopäden L. vom 25. September 2001 weist eine
diskrete Bandinstabilität auf und eine beginnende Gonarthrose. Beide be-gründen keinen höheren Einzel-GdB als 10.
Die Bewertung der Wirbelsäulenschäden in zwei Abschnitten mit einem Einzel-GdB von 30 ist nicht zu beanstanden.
Entgegen der Ansicht der Klägerin beruht das Urteil des SG nicht auf einer unklaren Sachverständigenaussage, die
weite-rer medizinischer Aufklärung bedurft hätte. Das SG hat seinem Urteil die erhobe-nen Befunde des
Sachverständigen ohne Einschränkungen zugrunde gelegt und ist lediglich seiner Bewertung - zu Recht - nicht
gefolgt. An die Bewertung durch den Sachverständigen war das SG nicht gebunden, da die Bewertung des GdB eine
Rechtsfrage und grundsätzlich Aufgabe des Gerichts ist.
Die festgestellte Wirbelsäulenbeeinträchtigung in zwei Abschnitten ist auf der Grundlage der AHP 1996 mit einem
GdB von 30 korrekt bewertet. Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung sind die AHP wie untergesetzliche
Nor-men von der Verwaltung und von den Gerichten anzuwenden und dementspre-chend von den Gerichten auch nur
wie solche eingeschränkt überprüfbar. Die Rechtskontrolle beschränkt sich auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem
Recht, Fragen der Gleichbehandlung und darauf, ob sie dem aktuellen Stand der sozi-almedizinischen Wissenschaft
entsprechen oder ob ein Sonderfall vorliegt. Hin-sichtlich ihrer Richtigkeit können sie nicht durch Einzelfallgutachten
widerlegt werden (BSGE 72, 285; BSGE 75,176). Nach diesen Maßstäben hat das SG die ihm vorliegenden Befunde
zutreffend ausgewertet. Demgegenüber hält sich der orthopädische Sachverständige Dr. M. mit seiner Bewertung des
von ihm diag-nostizierten Wirbelsäulenleidens nicht im Rahmen der AHP 1996. So kommt er in seiner Beurteilung zu
dem Ergebnis, dass sich im unteren (Lenden-)Wirbel-säulenbereich vor allen Dingen paralumbale
Muskelverspannungen, reflektorisch als Ausdruck von sicherlich chronischen Bandscheibenirritationen ergeben, ohne
dass in diesem Bereich die Nervenwurzeln, wie im Halswirbelbereich bereits akut oder chronisch mitbetroffen sind. Da
gleichzeitig bei der groborientierenden oder segmentalen Untersuchung keine wesentlichen
Bewegungseinschränkungen festgestellt wurden, rechtfertigt dies nach den AHP Nr. 26.18, S. 139 nur eine Bewertung
mit einem GdB von 10. Zu dieser Einschätzung gelangt auch der Sachverständige Dr. M. nach nochmaliger
Überprüfung der Befunde in seiner zweiten ergänzenden Stellungnahme vom 1. Juni 1999. Allerdings kommt er in der
Zusammenschau der Beeinträchtigungen der Lenden- und Halswirbelsäulen-abschnitte zur Bildung eines überhöhten
Gesamt-GdB. Dies beruht auf der rechtsirrigen Annahme, dass bei Vorliegen von Wirbelsäulenschäden mit mit-
telgradigen bis schweren Veränderungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten nach den AHP 1996 Nr. 26.18. S. 140
(zwingend) ein GdB von 40 vorgesehen sei. Auf Anfrage in einem Parallelfall hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat
beim Bun-desministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) jedoch erklärt, im Hinblick auf die Bewertung
mittelgradiger bzw. schwererer funktioneller Veränderungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit GdB-Werten von 20
bzw. 30 sei es sachge-rechter, mittelgradige bzw. schwere Veränderungen in zwei Wirbelsäulenab-schnitten auch mit
unterschiedlichen Werten, nämlich mit 30 bzw. 40 zu bewer-ten. Insofern empfahlen die Beiratsmitglieder die Kriterien
Nr. 26.18 (Seite 140) der AHP wie folgt zu ändern: Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen bis schwe-ren
funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten 30 – 40 (Nieder-schrift über die Tagung der Sektion
"Versorgungsmedizin” vom 15. bis 16. April 1997, BArbBl. 11/1997, S. 77 f). Unter Zugrundelegung der diesermaßen
korri-gierten AHP ist im Rahmen des bestehenden Spielraums eines GdB von 30 – 40 bei der festgestellten
Beeinträchtigung der Halswirbelsäule mit schweren funktio-nellen Auswirkungen und der der Lendenwirbelsäule mit
geringen funktionellen Auswirkungen nur ein GdB von 30 angemessen. Andernfalls entstünde eine Un-
gleichbehandlung zu Wirbelsäulenerkrankungen mit schweren funktionellen Aus-wirkungen in zwei
Wirbelsäulenabschnitten.
Der Entlassungsbericht der N., der nach Ansicht der Klägerin ein unrichtiges, weil unvollständiges Beschwerdebild
dokumentiere, bleibt bei dieser Bewertung ohne Belang, wird also nicht zu Lasten der Klägerin herangezogen. Auf der
anderen Seite kann das erst im Berufungsverfahren geltend gemachte Fibromyalgie-syndrom zu keiner höheren
Festsetzung des GdB führen, da es in seinen kon-kreten Auswirkungen aufgrund der vorliegenden Befundberichte
nicht objektiviert werden kann. Grundsätzlich kann einer Fibromyalgie ein messbarer GdB zu-kommen. Nach Nr.
26.18, S. 136 ist allerdings bei ihrer Beurteilung auf Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie auf die
Auswirkungen auf den Allgemeinzustand abzustellen. Beides ist nicht belegt. Erstmals wird im Befund-bericht des
Neurochirurgen Dr. Q. vom 21. Mai 2001 – auch nur - der Verdacht auf Fibromyalgie geäußert, ohne dass Art und
Ausmaß dargelegt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein Grund die Revision zuzulassen, besteht nicht § 160 Abs. 2 SGG.