Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 23.10.2002
LSG Nsb: berufskrankheit, belastung, versicherter, gespräch, niedersachsen, tumor, rechtsverordnung, währung, wissenschaft, arbeitsunfall
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 23.10.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 5 U 144/97
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 9/3 U 35/00
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in diesem Verfahren darum, ob bei dem während des Berufungsverfahrens verstorbenen
Versicherten E. (Versicherter) eine Berufskrank-heit anzuerkennen und Verletztenrente zu gewähren war. Die
Berufungsklägerin ist als dessen Witwe Rechtsnachfolgerin des Versicherten.
Der 1947 geborene Versicherte erlernte ab 1961 den Beruf des Automechanikers in der Fa. F. in Melle. In diesem
Betrieb war er sodann im Anschluss bis 1968 tätig. Nach Ableistung des Grundwehrdienstes von Oktober 1968 bis
März 1970 war er erneut als Geselle und ab 1. März 1977 als Meister in diesem Betrieb be-schäftigt. Dies war bis
zum 1. Dezember 1995 der Fall. Ab dem 11. Dezember 1995 war der Versicherte als Meister/Betriebsleiter im
Autohaus G. in Melle be-schäftigt.
Anfang des Jahres 1996 wurde bei dem Versicherten ein Tumor in der Lunge diagnostiziert. Im März 1996 kam es zu
einer ersten Thorakotomie, wobei der rechte Oberlappen der Lunge entfernt wurde. Unter dem 25. Juni 1996 erstattete
der Thorax- und Gefäßchirurg Prof. Dr. H. eine BK-Anzeige. Zur Begründung wies er auf die Belastung des
Versicherten durch seine Tätigkeit mit Asbest hin. Die Berufungsbeklagte leitete Ermittlungen ein. Unter.anderem.
kam es am 5. September 1996 zu einem persönlichen Gespräch des Versicherten mit einem Mitarbeiter des
Technischen Aufsichtsdienstes der Berufungsbeklagten (Dr. I.). Die Angaben des Versicherten flossen in eine
Berechnung der Asbestfaserjahre durch den TAD vom 25. September 1996 ein. Bei diesem Gespräch gab der Ver-
sicherte an, an Bremsen von Pkw sei ca. fünfmal am Tag an fünf Fahrzeugen mit insgesamt ca. 3 Stunden Dauer
gearbeitet worden. Auf ihn selbst sei dabei ein Umfang von 2 Stunden pro Arbeitstag entfallen. Zwei- bis dreimal pro
Woche sei-en Bremsbacken geschliffen worden. Dies habe etwa 1 bis 1,5 Stunden gedauert. Alle zwei bis drei
Wochen sei es zu einer Kupplungsreparatur gekommen. Diese habe jeweils 0,5 Stunden Zeitaufwand erfordert. Die
Arbeiten an Brems- und Kupplungsbelägen seien ohne Absaugung erfolgt. Bei der Berechnung der As-bestfaserjahre
legte der TAD standardisierte Zeiten für Arbeiten an Bremsen und Kupplungen für Automechaniker zu Grunde und
ging von dem 31. Oktober 1987 als dem Tag der letzten Belastung aus. Dies berücksichtigend gelangte er zu ins-
gesamt 15,3 Asbestfaserjahren.
In der Folge musste sich der Versicherte noch zweimal einer Thorakotomie we-gen weiter aufgetretener Tumore in der
Lunge unterziehen (1999 und 2001). Das entnommene Material begutachtete jeweils der Pathologe Prof. Dr. J.
(Gutachten vom 18. November 1996 und vom 15. September 1999). Dieser kam jeweils zu dem Ergebnis, bei der
Lungenstaubanalyse hätten sich keine Anhaltspunkte für eine vermehrte Asbestbelastung ergeben. Auch
Anhaltspunkte für hyaline Pleu-raplaques seien nicht bekannt. Daher sei insgesamt keine Wahrscheinlichkeit für eine
Asbestinduzierung der Erkrankung gegeben. Im Anschluß an die letzte Ope-ration im Mai 2001 verstarb der
Versicherte im Juli 2001 während einer Anschlußheilbehandlung in Folge einer akuten Hämoptoe.
Die Berufungsbeklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.
April 1997 die Anerkennung einer Berufs-krankheit (BK) nach der Nr. 4104 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ab.
Am 12. Mai 1997 ist insoweit Klage erhoben worden. Während des laufenden Klageverfahrens hat die
Berufungsbeklagte darüber hinaus geprüft und mit Be-scheiden vom 25. November 1998 sowie vom 9. Juli 1999
verneint, ob bei dem Versicherten Berufskrankheiten nach den Nrn. 4303, 4110 oder 1103 der Anlage zur BKVO
vorliegen. Im Zuge dieser Prüfungen sind zu den Verwaltungsvorgän-gen der Berufungsbeklagten noch
Stellungnahmen der Gewerbeärztin Dr. K. (vom 14. Oktober 1998) sowie des Arbeits-, Sozial- und Umweltmediziners
Prof. Dr. L. gelangt. Im Klageverfahren hat die Berufungsbeklagte noch Stellungnah-men ihres TAD (vom 31. Juli
1997 und vom 12. Oktober 1998) vorgelegt. Hierin hat der zuständige Aufsichtsbeamte berichtet, er habe pro Schicht
eine Belas-tungszeit von 1,5 Stunden zugrunde gelegt. Diese Zeit habe er aus dem Faserre-port des Hauptverbandes
der gewerblichen Berufsgenossenschaften entnom-men. Weiter hat die Berufungsbeklagte eine Stellungnahme des
sie beratenden Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. M. vom 10. September 1997 vor-gelegt, in der dieser
ausführt, er halte die Stellungnahmen des TAD für überzeu-gend. Weiter hat das Sozialgericht auf Antrag des
Versicherten ein Gutachten des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. N. vom 23. April 1998 beige-zogen.
Auch dieser hat im Wesentlichen ausgeführt, sämtliche Aufnahmen bild-gebender Verfahren ergäben keine Hinweise
auf das Vorliegen von Pleurapla-ques. Es habe unstrittig ein bösartiger Tumor vorgelegen. In einem weiter vorge-
legten Arztbrief des Internisten Dr. O. hat dieser mitgeteilt, er habe aufgrund sei-ner Untersuchungen das Vorliegen
eines Tumors im Oberbauch insbesondere in der Pankreas ausgeschlossen.
Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat die Klage mit Urteil vom 9. Dezember 1999 abgewiesen. Zur Begründung hat
es im Wesentlichen ausgeführt, eine Anerken-nung der Lungenkrebserkrankung des Versicherten als BK komme nur
in Be-tracht, wenn 25 Asbestfaserjahre nachgewiesen worden seien. Dies sei aber im Verfahren nicht gelungen.
Der Versicherte hat das gegen seinen Bevollmächtigten am 11. Januar 2000 zu-gestellte Urteil am 25. Januar 2000
Berufung eingelegt.
Zu deren Begründung hat er im Wesentlichen darauf hingewiesen, die Berech-nung der Asbestfaserjahre sei hier
falsch vorgenommen worden. Er habe insbe-sondere wesentlich mehr Zeit als vom TAD zu Grunde gelegt damit
verbracht, Bremsen und Kupplungen zu reparieren. Die Berufungsklägerin beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichtes Osnabrück vom 9. Dezember 1999 sowie den Bescheid der Berufungsbeklagten vom
14. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 1997 aufzuheben,
2. die Berufungsbeklagte zu verurteilen, bei dem Versicherten E. das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Nr.
4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung festzustellen,
3. für den Versicherten ab Januar 1996 Verletztenrente in gesetzli-cher Höhe zu zahlen.
Die Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung hält sie an der Berechnung der Asbestfaserjahre, wie sie von ihrem TAD vorgenommen wurde, fest.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Tho-raxchirurgen Priv.-Dozent Dr. P.
(vom 11. Juli 2001) sowie des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. N. (vom 30. August 2001) beigezogen.
Sodann hat der Senat im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter am 13. August 2002 die Zeugen Q., R., S. und
T. vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisauf-nahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Sodann sind noch wei-tere Unterlagen des Pathologen Dr U. im Hinblick auf die letzte Operation des Versicherten
beigezogen worden.
Entscheidungsgründe:
In Anwendung von §§ 124 Abs 2, 155 Abs 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht im
Einverständnis der Beteiligten durch den Berichter-statter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung.
Die gemäß § 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§ 143 f SGG statthafte Berufung ist
zulässig.
Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das von dem Kläger angefochtene Urteil des SG vom 9. Dezember 1999 hat zu-treffend die Klage abgewiesen. Der
Bescheid der Beklagten vom 14. Januar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 1997 ist
rechtmäßig. Der Versicherte hatte keinen Anspruch auf die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr 4104 der
Anlage zur BKVO und die Zuerkennung einer Verletztenrente.
Nach §§ 212, 214 Abs 3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) – Gesetzliche Unfallversicherung – sind im
vorliegenden Rechtsstreit die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) weiterhin anzuwenden, denn der
vom Versi-cherten geltend gemachte Versicherungsfall (Berufskrankheit) wäre, wenn es sich um einen solchen
handeln würde, vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. Janu-ar 1997 eingetreten. Der Versicherte hatte die
Feststellung der BK und die Ge-währung von Verletztenrente seit Antragstellung im Juni 1996 begehrt, so dass die
begehrte Verletztenrente schon für Zeiten vor dem 1. Januar 1997 festzuset-zen gewesen wäre, soweit ihre
Voraussetzungen vorgelegen hätten.
Nach § 547 RVO besteht ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Un-fallversicherung, insbesondere auf
Verletztenrente, nach Eintritt eines Arbeitsun-falles. Dabei gilt als Arbeitsunfall auch eine Berufskrankheit (§ 551 Abs
1 Satz 1 RVO). Berufskrankheiten sind nach § 551 Abs 1 Satz 2 RVO Krankheiten, welche die Bundesregierung
durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in §§
539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der
Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnis-sen der medizinischen Wissenschaft
durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich
höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann hierbei bestimmen, dass die Krankheiten nur
dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht worden sind (§ 551
Abs 1 Satz 2 RVO). Gemäß § 551 Abs 3 RVO gelten für die Berufskrankheiten die für Arbeitsunfälle maßgebenden
Vorschriften entsprechend. Als Zeitpunkt des Unfalls gilt der Be-ginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung
oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
In der Person des Versicherten konnten die Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK nach der Nr 4104 der Anlage
zur BKVO nicht festgestellt werden. Da-nach werden Lungen- oder Kehlkopfkrebs als BK anerkannt,
- in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) - in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter
Erkrankung der Pleura oder - bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz
von mindestens 25 Faserjahren.
Diese Voraussetzungen haben sich in der Person des Versicherten während des gesamten Verfahrens und durch alle
angestellten Ermittlungen nicht nachweisen lassen.
So ist zwar zunächst zwischen den Beteiligten unstreitig, dass bei dem Versi-cherten ein Lungenkrebs (primäres
Adenokarzinom des bronchio-alveolären Typs) vorgelegen hat. Es ist aber weiter auch unstreitig, dass sich weder
eine Asbeststaublungenerkrankung im Sinne der ersten Tatbestandsalternative noch eine durch Asbeststaub
verursachte Erkrankung der Pleura im Sinne der zweiten Tatbestandsalternative bei dem Versicherten haben
nachweisen lassen. Dies er-gibt sich insbesondere aus den diversen Untersuchungsergebnissen der Patholo-gen Dr
U. und Prof Dr J. (Bl 49 ff der VV e, Bl 104 des mit " Aktenauszug be-zeichneten Vorgangs der Berufungsbeklagten;
siehe auch den Bericht von Dr. U. über die letzte Untersuchung von Lungengewebe des Versicherten durch Prof Dr J.
im Jahre 2001im Ergänzungsbericht vom 1. Juni 2001, Bl 292 der Gerichtsak-te). Diese haben in der Lunge des
Versicherten anläßlich der verschiedenen Ge-websuntersuchungen kein signifikant erhöhtes Maß an Asbestfasern
feststellen können. Darüber hinaus sind bei dem Versicherten aber auch keine pleuralen Läsionen oder andere
Hinweise auf eine pleurale Erkrankung gefunden worden (Prof Dr L. Bl 140 des "Aktenauszugs”; Dr N., Bl 41 der
Gerichtsakte).
Auch die von der dritten Tatbestandsalternative der BK vorausgesetzten 25 As-bestfaserjahre haben sich nicht
nachweisen lassen. Insoweit haben sich die vom Versicherten erhobenen Einwände gegen die Berechnungen des
TAD der Beru-fungsbeklagten (erstmals unter dem 27. September 1996, Bl 36 ff des Verwal-tungsvorgangs) auch
durch umfangreiche weitere Ermittlungen des Gerichts nicht erhärten lassen. Insbesondere konnten die im
Erörterungstermin am 13. August 2002 vernommenen Zeugen nicht bestätigen, daß der Versicherte in einem er-
heblich höheren Maß als dies von dem TAD zu Grunde gelegt worden ist, mit Ar-beiten beschäftigt war, die zu einer
Belastung seiner Atemwege mit Asbeststaub geführt haben könnten (insbesondere Arbeiten an Bremsen und
Kupplungen). Die einzelnen Zeugenaussagen weichen zwar in Details voneinander ab, waren aber für das Gericht –
vor allem unter Berücksichtigung der seitdem vergange-nen, langen Zeit - im Ganzen glaubwürdig und überzeugend.
Hieraus ergibt sich – zusammenfassend – sogar, daß Herr Dr I. vom TD der Berufungsbeklagten bei der von ihm
vorgenommenen Berechnung eher großzügig zu Gunsten des Versi-cherten vorgegangen ist. Dies ergibt sich für das
erkennende Gericht unter ande-rem auch daraus, dass der Versicherte bereits ab 1977 als Meister tätig war. Wie alle
Zeugen bestätigt haben, musste er in dieser Funktion in viel geringerem Umfang als dies zuvor in seiner Funktion als
Geselle der Fall war gefährdende Arbeiten selbst vornehmen und sich dabei selbst über längere Zeit dem direkten
Einfluß von Asbestfasern aussetzen. Insoweit hat Dr I. dem Gericht auch über-zeugend erläutert, warum es bei der
Berechnung der Asbestfaserjahre entschei-dend auf die Nähe zu den gefährdenden Arbeiten ankommt und ein bloßes
An-wesendsein in der Halle nicht ausreicht. Nach alledem konnte sich das Gericht nicht die Überzeugung bilden, dass
der Versicherte einer kumulativen Asbestfa-serstaub-Dosis von 25 Faserjahren ausgesetzt war.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).