Urteil des LSG Hessen vom 13.04.2005
LSG Hes: verschlechterung des gesundheitszustandes, therapie, vorläufiger rechtsschutz, arzneimittel, behandlung, hauptsache, krankenversicherung, hiv, gefahr, krankenkasse
Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 13.04.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 2 KR 20/05 ER
Hessisches Landessozialgericht L 8 KR 38/05 ER
Auf die Beschwerde des Antragstellers und Beschwerdeführers wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden
vom 24. Februar 2005 aufgehoben. Die Antrags- und Beschwerdegegnerin wird unter Aufhebung des Bescheids vom
23. November 2004 verpflichtet, die Kosten für einen Therapieversuch mit "Serostim" für die Dauer von drei Monaten
zu übernehmen.
Die Antrags- und Beschwerdegegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers und Beschwerdeführers.
Gründe:
I.
Das Verfahren betrifft im einstweiligen Rechtsschutz die Frage der Kostenübernahme für einen Therapieversuch mit
einem nicht zugelassenen Importarzneimittel.
Der bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller (geb. 1958) wird seit 1990 wegen eines weit
fortgeschrittenen Immundefektes bei HIV-Infektion in der Gemeinschaftspraxis Dr. G./L./Dr. X. betreut und
antiretroviral behandelt. Der Immundefekt konnte mit dieser Behandlung aufgehalten werden und war teilweise
rückläufig. Die antiretrovirale Kombinationstherapie (HAART) führte bei dem Antragsteller jedoch zu einer
zunehmenden Fettumverteilungsstörung (Lipodystrophie). Am 25. Oktober 2004 beantragte er deshalb bei der
Antragsgegnerin die Prüfung einer Kostenübernahme zur ambulanten Behandlung mit "Serostim" (Therapieversuch für
die Dauer von drei Monaten). Dieses Präparat ist in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zur Behandlung des
"AIDS-Wasting-Syndroms" zugelassen. Die zuständige Fachkommission der Europäischen Zulasssungsbehörde
EMEA hat eine Zulassung nicht empfohlen. In Deutschland fehlt deshalb eine Zulassung. Den Antrag auf
Kostenübernahme lehnte die Antragsgegnerin dementsprechend mit Bescheid vom 23. November 2004 ab.
Am 3. Februar 2005 hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht Wiesbaden um vorläufigen Rechtsschutz
nachgesucht. Dazu hat er geltend gemacht, dass Symptome der Nebenwirkungen in den letzten Monaten und ganz
besonders in den letzten Wochen drastisch zugenommen hätten. Nach einer von dem Sozialgericht eingeholten
medizinischen Stellungnahme des behandelnden Internisten Dr. G. vom 13. Februar 2005 komme es bei dem
Antragsteller zunehmend zu gastrointestinalen Funktionsstörungen (Übelkeit, Völlegefühl, krampfartige Schmerzen,
Wechsel zwischen Durchfall und Verstopfung, massive Rückenschmerzen im LWS-Bereich) und es zeige schon bei
geringer Anstrengung eine ausgeprägte Atemnot. Die Ursache dieser Beschwerden bestünden in einem ursächlichen
Zusammenhang zu der pathologischen Fettakkumulation im Bauchraum, die zu mechanischem Druck auf innere
Organe führen. Die einzige Möglichkeit, eine weitere Fettansammlung zu verhindern, bestehe darin, die seit Februar
2003 erfolgreiche Therapie abzusetzen. Dies führe aber mit absoluter Sicherheit in kürzester Zeit zu einer massiven
Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit allen Konsequenzen und lebensgefährlichen Folgen der Aids-
Erkrankung. Deshalb solle mit dem Therapieversuch möglichst umgehend begonnen werden.
Mit Beschluss vom 24. Februar 2005 hat das Sozialgericht Wiesbaden den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung abgelehnt. Der Antragsteller habe zwar einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es fehle jedoch an
einem Anordnungsanspruch, weil nicht zugelassene Arzneimittel nicht zu Lasten der Krankenkasse abgegeben
werden dürften. Ein solcher Ausschluss sei auch verfassungsgemäß. Die gesetzliche Krankenversicherung müsse
nicht für Arzneimittel aufkommen, denen die erforderliche "deutsche oder EU-weite Zulassung" fehle.
Gegen den am 2. März 2004 zugestellten Beschluss richtet sich die am 8. März 2005 eingelegte Beschwerde. Der
Antragsteller verweist darauf, dass er an einer Krankheit leide, die nicht lediglich seine Lebensqualität nachhaltig
beeinträchtige, sondern nach dem Stand der Medizin unheilbar und tödlich verlaufe. Er macht geltend, dass bei einer
HIV-assoziierten Lipodystrophie derzeit einzig die Behandlung mit "Serostim" möglich sei. Wegen einer bei ihm
bestehenden Multi-Resistenzentwicklung und wegen Verträglichkeitsproblemen im medizinischen Sinne gelte er als
"austherapiert". Ohne antiretrovirale Therapie sei sein Leben "signifikant" gefährdet.
Der Antragsteller und Beschwerdeführer beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 24. Februar 2004 aufzuheben und die Antrags- und
Beschwerdegegnerin unter Aufhebung des Bescheids vom 23. November 2004 zu verpflichten, die Kosten für einen
Therapieversuch mit "Serostim" für die Dauer von drei Monaten zu übernehmen.
Die Antrags- und Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss. Das Sozialgericht habe zu Recht festgestellt, dass eine Klage in der
Hauptsache keine Aussicht auf Erfolg habe, weil das Arzneimittel in Deutschland nicht zugelassen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der in Kopie
vorliegenden Verwaltungsverfahrensakte, die Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.
II.
Die gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 24. Februar 2005 eingelegte Beschwerde, der das
Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Entscheidung vom 29. März 2005), ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht
eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Beschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts konnte im Ergebnis nicht
gehalten werden. Die Antragsgegnerin war antragsgemäß zu verpflichten, dem Antragsteller die begehrte Therapie für
die Dauer von drei Monaten zu bewilligen (Kostenübernahme).
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechts (Anordnungsanspruch) des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden
könnte (Anordnungsgrund; Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint (Satz 2). Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung (Satz 2) war im Beschwerdeverfahren
zu bejahen, weil sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden sind (§
920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Bereits das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Beschluss einen
Anordnungsgrund bejaht. Dem schließt sich der Senat an. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts bejaht der
erkennende Senat aber einen Anordnungsanspruch.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung
– (SGB V) ist eine Krankenkasse zur Versorgung des bei ihr versicherten Mitglieds mit den für eine
Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der Anspruch eines versicherten Mitglieds unterliegt
jedoch den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst hiernach nur
solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Der Gesichtspunkt der Gewährleistung optimaler
Arzneimittelsicherheit gebietet es aber, dass Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, also die Einhaltung der
Mindestsicherheits- und Qualitätsstandards in einem dafür vorgesehenen Verfahren nachgewiesen worden sind (vgl.
dazu bereits die Entscheidung des Senats im Urteil vom 28. Februar 2002 – L 14 KR 455/00 -; BSG, Urteil vom 18.
Mai 2004 – B 1 KR 21/02 R -; SGb 2004, S. 415; ZfS 2004, S. 209; KrV 2004, S. 189). Das Sozialgericht ist in dem
angefochtenen Beschluss davon ausgegangen, dass es für das hier begehrte Arzneimittel an einem solchen
Erprobungs- und Zulassungsverfahren nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) fehlt. Soweit das Sozialgericht dabei
allerdings den Anordnungsanspruch allein nach dem Ergebnis zur Hauptsache ausrichtet, vermag der Senat dem nicht
zu folgen. Es darf im Rahmen der summarischen Prüfung nämlich nicht unberücksichtigt bleiben, dass es vorliegend
primär um einen zeitlich begrenzten Therapieversuch bei dem Antragsteller mit dem Arzneimittel "Serostim" geht, um
schwerwiegende und irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen abzuwenden. Deshalb stellt der Senat im
Beschwerdeverfahren auf eine Folgenabwägung ab. Diese fällt zu Gunsten des Antragstellers aus. Je schwerer die
Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der (vorläufigen) Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind,
um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten
Rechtsposition zurückgestellt werden. Auch bei Verpflichtungs- beziehungsweise Vornahmesachen ist jedenfalls dann
vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile
entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre
(vgl. BVerfGE 79, 69; 94, 166; zuletzt Beschluss vom 19. März 2004 - 1 BvR 131/04 - , NJW 2004, 3100). Solche
anders nicht abwendbaren Nachteile können bei dem bestehenden Krankheitsbild des Antragstellers ersichtlich nicht
hinweggedacht werden. Für die vorliegende Entscheidung ist auch zu berücksichtigen, dass in der medizinischen
Diskussion zur Zulässigkeit eines Off-Label-Gebrauchs von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung
weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass in bestimmten Versorgungs- und Therapiebereichen auf einen die
Zulassungsgrenzen überschreitenden Einsatz von Medikamenten nicht völlig verzichtet werden kann, wenn dem
Patienten eine dem Stand neuester medizinischer Erkenntnisse entsprechende Behandlung nicht vorenthalten werden
soll (vgl. dazu die Nachweise in BSG, Urteil vom 19. März 2002 – B 1 KR 37/00 R -; SozR 3-2500 § 31 Nr. 8; BSGE
89, 184; NZS 2002, S. 646; NJW 2003, S. 460; SGb 2003, S. 102). Mit Blick hierauf war im Rahmen der
Folgenabwägung bei der angestrebten Behandlung des Antragstellers darauf abzustellen, dass eine alternative
Therapie mit arzneimittelrechtlich zugelassenen Medikamenten nicht ersichtlich ist. Sollte bei dem Antragsteller die
antiretrovirale Therapie zur Vermeidung der auftretenden Nebenwirkungen abgesetzt werden, führte dies unweigerlich
zu einem lebensbedrohlichen Zustand. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass einzig eine Therapie mit
"Serostim" die Weiterführung der bisher erfolgreich gewesenen antiretroviralen Therapie gewährleistet. Dies ergibt sich
für den Senat aus der bereits erstinstanzlich eingeholten medizinischen Stellungnahme des Dr. med. G. vom 13.
Februar 2005. Der den Antragsteller behandelnde Internist hat dargelegt, dass in kürzlich erschienenen Studien mit
rekombinantem humanem Wachstumshormon nun erstmals eine deutliche Verbesserung habe erzielt werden können.
In den Studien sei erkannt worden, dass es zu einer signifikanten Reduktion der "viszeralen, abdominellen
Fettmasse" gekommen sei.
Der von dem Senat bejahte Anordnungsanspruch verstößt nicht gegen Vorschriften des AMG. Die für Deutschland
fehlende Verkehrsfähigkeit des Medikaments "Serostim" schließt den Therapieversuch nicht aus, weil die
unmittelbare Anwendung am Patienten keine Abgabe (eines Medikaments) im Sinne des AMG darstellt. Der einzelne
Arzt ist weder arzneimittelrechtlich noch berufsrechtlich gehindert, bei seinen Patienten auf eigene Verantwortung ein
auf dem Markt verfügbares Arzneimittel für eine Therapie einzusetzen (BSG, Urteil vom 19. März 2002 – B 1 KR
37/00 R -, a.a.O.). Da "Serostim" in den USA zugelassen ist, war der Senat nicht gehindert, hierauf bei der
Folgenabwägung abzustellen. Wegen eines einmaligen, zeitlich begrenzten Therapieversuchs besteht nicht die
Gefahr, dass die hier ausgesprochene Verpflichtung faktisch eine Markteinführung bewirkt und so die Vorschriften des
AMG unterläuft.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden § 177 SGG).