Urteil des LSG Hessen vom 11.06.1997

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Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 11.06.1997 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 22 Kg 178/96
Hessisches Landessozialgericht L 6 Kg 1031/96
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 1. Juli 1996 aufgehoben.
Unter Aufhebung des Bescheides vom 2. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1995
wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin auch in der Zeit vom Mai 1994 bis Dezember 1994 für ihre Tochter K.
Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin für ihre Tochter K. im Jahre 1994 Kindergeld zusteht. Streitig ist
weiterhin, ob die Klägerin das in der Zeit von Januar 1994 bis April 1994 bereits ausgezahlte Kindergeld an die
Beklagte zurückerstatten muß.
Die Tochter K. der Klägerin ist 1968 geboren. Im Wintersemester 1993/94 sowie im Sommersemester 1994 und im
Wintersemester 1994/95 war sie an der Fachhochschule Wiesbaden als Studentin im Studiengang Betriebswirtschaft
eingeschrieben. Für ihre Tochter bezog die Klägerin bis einschließlich April 1994 Kindergeld.
Am 2. Mai 1994 erließ die Beklagte einen "Rückforderungsbescheid”. In dem formularmäßig gefertigten Bescheid
wurde der Klägerin mitgeteilt, sie habe von Januar bis einschließlich April 1994 für ihre Tochter K. Kindergeld unter
dem gesetzlichen Vorbehalt der Rückforderung erhalten. Nachdem sie die Erklärung über die Einkünfte dieses Kindes
nicht bzw. nur unvollständig abgegeben habe, sei davon auszugehen, daß ihr ab Januar 1994 kein Kindergeld mehr
zustehe. Für die Monate Januar bis April 1994 sei eine Überzahlung von 4 × 70,– DM = 280,– DM eingetreten.
Die Klägerin legte dagegen Widerspruch ein und überreichte eine Erklärung ihrer Tochter über die von dieser im Jahre
1994 erzielten Einkünfte. Dieser Erklärung beigefügt war eine Einnahme-/Überschußrechnung der Tochter der
Klägerin, die unter der Firmierung "Beratung für Marketing ” neben ihrem Studium im Jahre 1994 eine selbständige
Tätigkeit ausgeübt hatte. Die vorgelegte Übersicht ging von Betriebseinnahmen in Höhe von 17.789,31 DM,
Betriebsausgaben von 12.284,58 DM und einem Betriebsgewinn von 5.504,73 DM aus.
Über die Höhe des Einkommens der Tochter der Klägerin im Jahre 1994 erging am 18. April 1995 ein Steuerbescheid
des Finanzamtes Wiesbaden. Aufgrund der vorgelegten Unterlagen erkannte das Finanzamt Wiesbaden
Betriebsausgaben lediglich in Höhe von 11.888,58 DM an und ermittelte auf dieser Grundlage Einkünfte aus
Gewerbebetrieb in Höhe von 5.900,– DM, die zugleich den Gesamtbetrag der Einkünfte von K. F. ergaben. Abzüglich
eines Betrages von 2.380,– DM für Versicherungsbeiträge und Ausbildungs-/Weiterbildungskosten in Höhe von 900,–
DM wurde ein zu versteuerndes Einkommen von 2.620,– DM ermittelt, das zu keiner Einkommensbesteuerung führte.
Den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 2. Mai 1994 wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid
vom 27. Februar 1995 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Klägerin habe für ihre Tochter K. nach § 2 Abs.
2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der ab dem 1. Januar 1994 geltenden Fassung kein Kindergeld mehr
zugestanden, da Katja aufgrund einer Ausbildung oder einer nichtselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit
monatliche Bruttoeinkünfte von mehr als 750,– DM erzielt habe. Bei Einkünften aus selbständiger Tätigkeit seien die
Bruttoeinkünfte maßgebend. Diese würden als Einkünfte ohne Abzug von Betriebsausgaben definiert. Ausweislich der
vorgelegten Aufstellung habe K. 1994 Betriebseinnahmen von 17.789,31 DM erzielt. Umgelegt auf den Kalendermonat
stelle dies ein Einkommen dar, das über der Grenze von 750,– DM liege. Das für die Zeit von Januar 1994 bis April
1994 überzahlte Kindergeld sei deshalb von der Klägerin zu erstatten. Diese Entscheidung beruhe auf § 2 Abs. 2
i.V.m. § 44 g Abs. 3 BKGG.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 1. Juli 1996 abgewiesen. Das
Sozialgericht hat auf die Begründung im Widerspruchsbescheid der Beklagten Bezug genommen und ergänzend
folgendes ausgeführt:
Aufgrund von § 44 g BKGG werde Personen, die für Dezember 1993 Kindergeld für ein über 16 Jahre altes Kind
bezogen haben, von Januar 1994 an, wegen der Überprüfung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 2 bis 4
BKGG, Kindergeld für dieses Kind insoweit unter dem Vorbehalt der Rückforderung gezahlt. Nach § 2 Abs. 2 BKGG
i.d.F. vom 21. Dezember 1993 könnten bei der Kindergeldgewährung Kinder u.a. dann nicht berücksichtigt werden,
wenn diesen aus dem Ausbildungsverhältnis oder einer Erwerbstätigkeit Bruttobezüge von wenigstens 750,– DM
monatlich zustünden. Dabei setze § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG keine dauerhafte Erwerbstätigkeit voraus. Auch ein
Aushilfsjob, den ein Student regelmäßig oder auch nur während der Ferien ausübe, sei eine Erwerbstätigkeit in diesem
Sinne, ebenso wie eine sonstige selbständige Tätigkeit. Da die Tochter der Klägerin im Jahre 1994 unstreitig
Betriebseinnahmen von 17.789,31 DM erzielt habe, ergäben sich monatlich durchschnittliche Bruttoeinnahmen, die
weit über der vom Gesetz festgelegten Einnahmegrenze lägen. Die Beklagte habe daher zu Recht die unter Vorbehalt
gewährten Leistungen zurückgefordert. Sollte die Klägerin aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage
sein, den geforderten Betrag zurückzuzahlen, werde anheimgestellt, bei der Beklagten einen Stundungsantrag zu
stellen.
Gegen das der Klägerin am 4. Juli 1996 zugestellte Urteil richtet sich die am 25. Juli 1996 eingegangene
Nichtzulassungsbeschwerde, die nach Zulassung der Berufung durch Beschluss des Senats vom 21. März 1997 als
Berufung fortgeführt worden ist. Die Klägerin ist der Auffassung, ihr stehe für 1994 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu,
da die Einkünfte ihrer Tochter im Jahre 1994 die maßgebliche Einkommensgrenze nicht überschritten hätten.
Die Klägerin, die zur mündlichen Verhandlung weder erschienen war, noch sich vertreten ließ beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 1. Juli 1996 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des
Bescheides vom 2. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1995 zu verurteilen, ihr für
ihre Tochter K. Kindergeld auch in der Zeit von Mai 1994 bis Dezember 1994 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Meinung, als "Bruttobezüge” i.S. vom § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG seien diejenigen Bezüge
anzusehen, die auch die Grundlage für die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge und für den Steuerabzug
bildeten. Die Einfügung des § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG und der entsprechenden für den Kinderzuschuß geltenden
Vorschriften habe auf der Erwägung beruht, daß in Ausbildung stehende Kinder, die mit der ihnen zustehenden
Ausbildungsvergütung oder mit Einkünften aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit ihren Unterhaltsbedarf selbst decken
könnten, beim Familienlastenausgleich nicht mehr als Kinder berücksichtigt werden sollten. Deshalb könne der für den
Wegfall des Kinderzuschusses und des Kindergeldes maßgebliche Grenzwert von 750,– DM nur für Selbständige und
abhängig Beschäftigte nach einheitlichen Kriterien bestimmt werden. Dies führe dazu, daß bei Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit als "Bruttobezüge” die gesamten Betriebseinnahmen herangezogen werden müßten,
Betriebsausgaben könnten dabei nicht als einkommensmindernd berücksichtigt werden. Da sich im Jahre 1994 die
Betriebseinnahmen der Tochter der Klägerin auf 17.789,31 DM belaufen hätten, sei für 1994 ein Anspruch auf
Kindergeld für die Tochter der Klägerin ausgeschlossen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vertrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weitern
Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogenen Umsatzsteuerakten und Einkommensteuerakten des Finanzamtes
Wiesbaden (StNr. XXXXX) sowie die ebenfalls beigezogene Kindergeldakte der Beklagten (KgNr. XYXYXY) Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte und nach Zulassung durch den Senat statthafte Berufung (§§ 150, 144 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist begründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig. § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG in der Fassung des 1.
Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember
1993 (BGBl. I S. 2353) steht einem Kindergeldanspruch der Klägerin im Jahre 1994 nicht entgegen. Zwar ist in dieser
Bestimmung vorgesehen, daß Kinder über 16 Jahre nicht mehr berücksichtigt werden können, wenn diesen aus dem
Ausbildungsverhältnis oder einer Erwerbstätigkeit Bruttobezüge in Höhe von wenigstens 750,– DM monatlich
zustehen, soweit nicht die – hier nicht einschlägigen – Ausnahmebestimmungen des 2. Halbsatzes von § 2 Abs. 2
Satz 2 BKGG vorliegen. Die von der Tochter der Klägerin im Jahre 1994 erzielten "Bruttobezüge” haben indes diesen
Betrag von 750,– DM nicht erreicht.
Die Auffassung der Beklagten, wonach als Bruttobezüge i.S.v. § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG bei selbständig Tätigen die
erzielten Betriebseinnahmen ohne Abzug der Betriebsausgaben Berücksichtigung finden sollen, ist nicht
nachvollziehbar.
Die in § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG getroffene Regelung wurde aus der Überlegung heraus geschaffen, daß bei Kindern
mit eigenem Einkommen die Unterhaltsbelastung der Eltern geringer wird und demzufolge für diese Kinder bei
Überschreiten der Grenze von 750,– DM monatlich die Zahlung von Kindergeld nicht mehr erforderlich sei
(Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 1. SKWPG BT-Drucks. 12/5502 S. 44). Der eigene Unterhalt eines Kindes
kann jedoch nur durch diejenigen Beträge sichergestellt werden, die tatsächlich auch zum Lebensunterhalt verbraucht
werden können.
Steuerrechtlich ist dies bei Selbständigen derjenige Betrag, der als Gewinn (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1
Einkommensteuergesetz – EStG) ausgewiesen wird, und der entweder durch Vermögensvergleich (§ 4 Abs. 1 EStG),
oder durch Gegenüberstellung der Betriebseinnahmen und der Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 3 EStG) ermittelt wird. Ob
diese steuerrechtliche Betrachtung, die auch für die Ermittlung des Arbeitseinkommens nach § 15 Sozialgesetzbuch
IV (SGB IV) maßgeblich ist, in jedem Falle auch bei der Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG heranzuziehen ist,
kann dabei vorliegend dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls gibt es bei der Tochter der Klägerin schon deshalb keinen
Anlaß von dieser steuerrechtlichen Gewinnermittlungsmethode abzuweichen, weil diese Gewinnermittlung auf der
durchgeführten Überschußrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG beruht, die keinen Raum für eine Vermögensbewertung
läßt und damit unmittelbar Auskunft über die Höhe desjenigen Betrages gibt, der zum Lebensunterhalt verbraucht
werden kann.
Bei der Tochter der Klägerin beträgt dieser Gewinn nach Maßgabe des Steuerbescheides des Finanzamtes
Wiesbaden vom 18. April 1995 5.900,– DM, was zu einem monatlich zur Verfügung stehenden Betrag von 491,67 DM
führt, der den in § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG enthaltenen Grenzbetrag nicht überschreitet.
Letztendlich dahingestellt bleiben kann vorliegend im übrigen auch, ob es der in § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG gewählte
Begriff der "Bruttobezüge” erfordert, bei Selbständigen zu dem ermittelten Gewinn noch – fiktiv –
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe des jeweiligen Arbeitnehmeranteils hinzuzurechnen sind, um so eine
Gleichstellung zwischen abhängig Beschäftigten und Selbständigen bei der Feststellung der Grenze von 750,– DM
monatlich zu gewährleisten. Denn selbst dann, wenn man den vorliegend ermittelten Gewinn von 5.900,– DM um den
fiktiven Arbeitnehmeranteil an den Sozialversicherungsbeiträgen, der 1994 mit 19,35 % des Bruttoarbeitsentgelts
anzusetzen ist (vgl. Laux, Vorsorgeaufwendungen 1994, BB Beilage 4 zu Heft 11/1994 S. 3), erhöht, ergäbe sich ein
Gesamt Jahresbetrag von 7.315,56 DM und damit ein monatlicher "Bruttobezug” von 609,36 DM, der immer noch
deutlich unterhalb der in § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG angesetzten Grenze liegt.
Der Klägerin stand damit für 1994 ein Anspruch auf Kindergeld für ihre sich in diesem Jahr in einer Schul- bzw.
Berufsausbildung (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG) befindenden Tochter Katja in gesetzlicher Höhe zu. Der
"Rückforderungsbescheid” der Beklagten vom 2. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.
Februar 1995 war demzufolge aufzuheben.
Nicht mehr entscheidungserheblich war dabei, ob die angefochtenen Bescheide im übrigen schon deshalb keinen
Bestand haben konnten, weil es bisher an einer Aufhebungsentscheidung i.e.S. fehlt und die ergangenen Bescheide
allein auf § 44 g BKGG i.d.F. des 1. SKWPG gestützt worden ist (vgl. insoweit Urteil des Senats vom 16.4.1997 – L-
6/Kg-896/96). Im Hinblick auf diese Unsicherheit war vom Senat jedoch, zumindest zur Klarstellung, neben der
erfolgten Aufhebung der angefochtenen Bescheide, die Verurteilung der Beklagten zur Weitergewährung des
Kindergeldes für das gesamte Jahr 1994 auszusprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG nicht
vorliegen.