Urteil des LSG Hessen vom 18.02.1981

LSG Hes: arbeitsunfähigkeit, freie beweiswürdigung, marokko, dolmetscher, krankengeld, vertreter, behandlung, rüge, spanien, diagnose

Hessisches Landessozialgericht
Urteil vom 18.02.1981 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 2 Kr 14/79
Hessisches Landessozialgericht L 8 Kr 761/80
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 23. Mai 1980 wird als unzulässig
verworfen.
II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Krankengeld für die Zeit vom 17. November 1978 bis zum 1. Januar
1979.
Der im Jahre 1929 geborene Kläger ist marokkanischer Staatsbürger und bei der Deutschen Bundesbahn,
Betriebswerk W., als Arbeiter beschäftigt. Dem Durchgangsarztbericht des Dr. B. (Paulinenstift W.) vom 18.
September 1978 zufolge erlitt er bei einem Arbeitsunfall am gleichen Tage eine Prellung des linken
Ellenbogengelenks. Arbeitsunfähigkeit wurde von Dr. B. nicht angenommen, und zwar auch nicht bei der Nachschau
am 27. September 1978. Während des am 3. November 1978 angetretenen Heimaturlaubs in Spanien attestierte Dr.
R. (Melilla) am 17. November 1978 Arbeitsunfähigkeit. Nach der von der Beklagten veranlaßten Übersetzung aus dem
Spanischen lautete die Diagnose: "Teilweise Verrenkung linker Ellenbogen, traumatische Quetschung des genannten
Ellenbogens und rechten Vorderarms.” Ferner heißt es, daß der Kläger eine entsprechende Behandlung erhalte und
zur Zeit arbeitsunfähig sei. Weitere ärztliche Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit erteilte Dr. R. unter dem 30.
November und 16. Dezember 1978, wobei es in der vom 30. November 1978 heißt, daß die Behandlung fortgesetzt
werde ("Schiene”). Nach der Rückkehr aus Spanien stellte sich der Kläger am 3. Januar 1979 Dr. B. zur Nachschau
vor, der außer einer endgradigen Bewegungseinschränkung im linken Ellenbogengelenk und einer beginnenden
Osteochondrose in der Halswirbelsäule keine krankhaften Befunde erhob; Arbeitsunfähigkeit wurde nicht attestiert. Die
Beklagte ließ den Kläger am 17. Januar 1979 vertrauensärztlich durch Frau Dr. M. (W.) untersuchen. Zur
Vorgeschichte gab er an, seit dem 17. November 1978 in Marokko wegen Schmerzen und Bewegungsbehinderung im
linken Ellenbogengelenk arbeitsunfähig gewesen und mit Massagen behandelt worden zu sein. Die Vertrauensärztin
Dr. M. gab die Beurteilung dahin ab, daß der Kläger arbeitsfähig sei und rückschauend die Arbeitsunfähigkeit in
Marokko nicht beurteilt werden könne. Hierauf lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 25. Januar 1979 die
Gewährung von Krankengeld für die Zeit vom 17. November 1978 bis zum 1. Januar 1979 ab. Gegen diesen Bescheid
legte der Kläger am 26. Februar 1979 Widerspruch ein. In dem Widerspruchsverfahren gab er u.a. an, daß sich nach
seinem Eintreffen in Marokko im linken Ellenbogen Schmerzen eingestellt hätten und er sich von Dr. R. habe
behandeln lassen. Die Beklagte wies mit Bescheid vom 29. März 1979 den Widerspruch zurück, da die
Arbeitsunfähigkeit in Marokko nicht zweifelsfrei begründet sei. Der Widerspruchsbescheid ist unterschrieben von dem
Abteilungspräsident K. als Vertreter des Arbeitgebers und dem Vorstandsmitglied G. als Vertreter der Versicherten.
Gegen den am 30. März 1979 mit Einschreiben abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger bei dem
Sozialgericht Wiesbaden – SG – am 24. April 1979 Klage erhoben und geltend gemacht, daß die Arbeitsunfähigkeit
aufgrund der Bescheinigungen des Dr. R. nachgewiesen sei; es sei bescheinigt, daß der Arm mittels Schiene ruhig
gestellt worden sei. Im übrigen werde nur über Rechtsfragen gestritten; weitere Unterlagen könnten nicht vorgelegt
werden.
In der mündlichen Verhandlung am 23. Mai 1980, in der der Kläger nicht anwesend, aber vertreten war, erklärte der
Vorsitzende der 2. Kammer des SG, daß er über eigene spanische Sprachkenntnisse verfüge. Die ärztliche
Bescheinigung vom 17. November 1978 übersetzte er auszugweise wie folgt:
"Teilweise Verrenkung des linken Ellenbogens und traumatische Prellung im rechten Ellenbogen und Unterarm.”
– Luxacion parcial del codo izdo y contusion traumatica en el codo y antebrazo derecho –
" angemessene Ruhestellung durch eine unbewegliche Schiene.”
"– adecuado reposo bajo ferula de inmovilizacion –”
Sodann wies das SG die Klage mit Urteil vom 23. Mai 1980 ab, da die Arbeitsunfähigkeit des Klägers in Marokko
nicht nachgewiesen sei. Seine Angaben und die des Dr. R. seien widersprüchlich. Ausreichende Befunde, die auf eine
Arbeitsunfähigkeit schließen ließen, lagen nicht vor. Wegen der Einzelheiten wird auf das sozialgerichtliche Urteil
verwiesen.
Gegen dieses ihm am 6. Juni 1980 zugestellte Urteil hat der Kläger schriftlich bei dem Hessischen
Landessozialgericht am 24. Juni 1980 Berufung eingelegt.
Er bringt zur Begründung der Berufung vor: Die nicht statthafte Berufung sei nach § 150 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz –
SGG – zulässig, da das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leide, der auch gerügt werde. Das SG habe
auf die fehlende Glaubwürdigkeit des ärztlichen Attestes des Dr. R. vom 17. November 1978 abgestellt, das von dem
Kammervorsitzenden anders übersetzt worden sei als von der Beklagten. Daher habe eine korrekte Übersetzung
durch einen vereidigten Dolmetscher herbeigeführt werden müssen. Es sei aber nicht statthaft, daß ein mitwirkender
Richter als Dolmetscher fungiere. Bei Zweifeln an der Richtigkeit der Angaben des Dr. R. hätte es diesen im Rahmen
des § 106 SGG hören müssen. Im übrigen bestünden Bedenken gegen die ordnungsmäßige Besetzung der
Widerspruchsstelle der Beklagten, da bei der Entscheidung als Versichertenvertreter das Vorstandsmitglied G.
mitgewirkt habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 23. Mai 1980 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 25. Januar 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 1979 aufzuheben und diese zu
verurteilen, ihm für die Zeit vom 17. November 1978 bis zum 1. Januar 1979 Krankengeld in gesetzlichem Umfange
zu gewähren, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 23. Mai 1980 aufzuheben und die Sache zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des SG nicht für
vorliegend; auch sei die Widerspruchsstelle ordnungsgemäß besetzt gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungs- und Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2
SGG).
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG), jedoch nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht
statthaft. Streitgegenstand ist die Gewährung von Krankengeld für die Zeit vom 17. November 1978 bis zum 1. Januar
1979, so daß wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen beansprucht werden.
Die Berufung ist auch nicht ungeachtet des Berufungsausschließungsgrundes nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG gemäß §
150 SGG zulässig. Das SG hat sie weder in der Urteilsformel noch in den Entscheidungsgründen zugelassen (§ 150
Nr. 1 SGG).
Es liegen aber auch nicht die von dem Kläger gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des SG vor (§ 150 Nr. 2
SGG). Die Überprüfung des Akteninhalts läßt keinen Verstoß gegen das Prozeßgesetz erkennen. Zwingende
Verfahrensvorschriften sind nicht verletzt. Es liegen auch keine sonstigen wesentlichen Verfahrensmängel vor. Ihr
Vorliegen ist nicht nach dem objektiven Sachverhalt, sondern nach dem sachlich-rechtlichen Standpunkt des SG zu
beurteilen, so wie er sich aus dem Urteil ergibt. Hierbei ist ohne rechtliche Bedeutung, ob dieser materiell-rechtliche
Standpunkt rechtsirrig ist oder nicht (vgl. BSG, Urteil vom 10. Februar 1972 – 8 RV 563/71 – in SozR Nr. 133 zu § 54
SGG = Breithaupt 1972, 521; Peters-Sautter-Wolf, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3 zu § 150 SGG mit
weiteren Nachweisen). Nach dem angefochtenen Urteil ging die – im übrigen zutreffende – sachlich-rechtliche
Auffassung des SG dahin, daß die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausländischer Ärzte frei zu würdigende
Beweismittel seien. Beim Bestehen von Zweifeln an ihrer Richtigkeit dürfe rückschauend eine Überprüfung durch
einen Kassen- oder Vertrauensarzt erfolgen. Ergebe sich, daß zweifelsfrei die Arbeitsunfähigkeit feststehe, so stehe
nach Maßgabe des Gesetzes das Krankengeld zu. Ferner hat das SG angenommen, daß diese Zweifel fortbestünden,
da einerseits die ärztlichen Bescheinigungen des Dr. R. nicht "glaubwürdig” seien und andererseits Widersprüche zu
den Angaben des Klägers ersichtlich seien. Die Diagnose einer Prellung im rechten Ellenbogen und Unterarm sei
unzutreffend, da der Kläger sich in Deutschland keine entsprechende Verletzungen zugezogen gehabt habe. Es sei
auch nicht ersichtlich, welcher Arm angeblich geschient worden sei. Der Kläger habe nach der Rückkehr aus Marokko
lediglich von Schmerzen im linken Ellenbogen und der linken Schulter sowie von verordneten Massagen gesprochen.
Die bereits deswegen bestehenden Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ab dem 17. November 1978 seien durch das
vertrauensärztliche Gutachten nicht nur nicht ausgeräumt worden; vielmehr habe Frau Dr. M. rückschauend keine
Arbeitsunfähigkeit bestätigen können.
Diese aufgrund der materiell-rechtlichen Auffassung des SG von ihm getroffenen Feststellungen sind
verfahrensfehlerfrei erfolgt. Weder ist gegen das Prozeßgesetz noch das Recht der freien Beweiswürdigung (§§ 103,
106, 128 SGG) verstoßen. Zu Unrecht macht der Kläger geltend, der Kammervorsitzende habe die ärztliche
Bescheinigung des Dr. R. vom 17. November 1978 nicht selbst übersetzen dürfen, da ein mitwirkender Richter nicht
als Dolmetscher fungieren dürfe. Es kann offen bleiben, ob diese Rechtsauffassung zutreffend ist (so wohl Peters-
Sautter-Wolff in Anm. zu § 190 GVG bei § 61 SGG S. 186/40-8- unter Hinweis auf OLG Karlsruhe in Justiz 1962, 93;
a. A. aber Peters-Sautter-Wolff a.a.O. in Anm. zu § 184 GVG bei § 61 SGG S. 186/40-4-; KG in HRR 1935 Nr. 991;
Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 1960, Anm. A II zu § 185 GVG und Anm. A u. B zu §
190 GVG). Ausweislich der Sitzungsniederschrift war der Kläger nicht persönlich anwesend, so daß das SG nicht zu
entscheiden hatte, ob es einen Dolmetscher beiziehen mußte.
Der Kammervorsitzende hat lediglich ein Attest des Dr. R. aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt. Das aber war
zulässig, ohne daß er zuvor als Dolmetscher zu vereidigen gewesen wäre (§ 61 SGG i.V.m. § 190 GVG; RGZ 162,
282, 287; Wieczorek a.a.O.; Peters-Sautter-Wolff a.a.O. in Anm. zu § 184 GVG).
Wenn der Kläger eine unrichtige Übersetzung im Berufungsverfahren rügt, so kann er damit keinen Erfolg haben.
Diese Rüge hätte bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem SG vorgebracht werden müssen. Ein
Dolmetscher bzw. Übersetzer wird wie ein Sachverständiger tätig (vgl. Wieczorek a.a.O. Anm. B zu § 185 GVG mit
weiteren Nachweisen). In sinngemäßer Anwendung der für die Beweiserhebung durch Sachverständige geltenden
Regelungen (§§ 103, 106, 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 406 ZPO) hatte sich der Kläger bis zum Schluß der
mündlichen Verhandlung dazu vor dem SG zu erklären. Das ist aber ausweislich der Sitzungsniederschrift des SG
und des Tatbestandes des sozialgerichtlichen Urteils nicht der Fall und wird von dem Kläger auch nicht behauptet.
Mit seinem Vorbringen rügt er auch nicht erfolgreich ein Überschreiten der Grenzen des Rechts auf freie
Beweiswürdigung (§ 128 SGG). Unter Zugrundelegung seiner materiell-rechtlichen Auffassung hat das SG die
vorliegenden ärztlichen Atteste des Dr. R. als solche, das Vorbringen des Klägers im Klage- und
Verwaltungsverfahren sowie das vertrauensärztliche Gutachten von Dr. M. gewürdigt und mit nachvollziehbaren sowie
wohlausgewogenen Gründen die bestehenden Zweifel an der Richtigkeit der attestierten Arbeitsunfähigkeit
nachgewiesen. Entgegen der Auffassung des Klägers brauchte das SG auch nicht weiteren Beweis zu erheben,
insbesondere nicht durch Anhörung des Dr. R. etwa als Zeugen. Der Kläger hatte im erstinstanzlichen Verfahren
selbst vorgetragen, daß weitere Beweismittel nicht erbracht werden könnten. Im übrigen ist die materiell-rechtliche
Auffassung des SG entscheidend, wonach bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit kein Krankengeldanspruch besteht.
Gerade diese Zweifel hat das SG, wie ausgeführt, aber verfahrensfehlerfrei festgestellt. Hieran ändert auch nichts,
daß der Kläger von Dr. Sch. ab dem 4. Januar 1979 arbeitsunfähig krankgeschrieben worden ist. Im Streit steht hier
die Zeit der behaupteten Arbeitsunfähigkeit vom 17. November 1978 bis zum 1. Januar 1979, so daß das SG zu
Recht auf die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit durch Dr. Sch. nicht eingegangen ist.
Schließlich kann der Kläger auch keinen Erfolg mit seinem Hinweis darauf haben, daß die Widerspruchsstelle der
Beklagten nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei. Dieses Vorbringen stellt dem Inhalte nach die Rüge der
Nichtbeachtung von zwingenden Verfahrensvorschriften durch das SG dar. Sie greift nicht durch. Das SG brauchte in
dem angefochtenen Urteil dazu nicht ausdrücklich Stellung zu nehmen. Die Widerspruchsstelle der Beklagten ist nicht
fehlerhaft besetzt gewesen. Der Versicherungsträger kann frei entscheiden, wie die Widerspruchsstelle ausgestaltet
wird (vgl. Peters-Sautter-Wolff a.a.O. Anm. 3 d, cc zu § 85 SGG; Krause in SGB 1976, 491 f.; Brackmann, Handbuch
der Sozialversicherung, Stand: 1980, S. 234 d V; BSG, Urteil vom 23. September 1969 – 6 RKa 17/67 – in E 30, 83).
Danach ist es z.B. auch zulässig, daß die Widerspruchsstelle nur aus dem Geschäftsführer des Versicherungsträgers
besteht. Nach der von der Vertreterversammlung der Beklagten beschlossenen Geschäftsordnung für das
Vorverfahren setzt sich die Widerspruchsstelle aus dem Arbeitgebervertreter im Vorstand der Kasse und zwei dem
Vorstand angehörende Vertreter der Versicherten zusammen. Die Widerspruchsstelle ist beschlußfähig, wenn außer
den Arbeitgebervertretern wenigstens ein Vertreter der Versicherten anwesend ist. Das ist hier ausweislich der
Verwaltungsakten der Fall gewesen. Hieraus folgt, daß der Widerspruchsbescheid verfahrensfehlerfrei erlassen
worden ist und somit kein von dem SG zu beachten gewesener Verfahrensfehler vorliegt.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.