Urteil des LSG Hessen vom 02.08.2007
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Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 02.08.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 19 AS 208/07 ER
Hessisches Landessozialgericht L 9 AS 215/07 ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2007
geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Kosten der
Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 157,55 EUR für die Zeit vom 13. April 2007 bis zum 31. August 2007
zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Gründe:
Die am 30. Juni 2007 beim Sozialgericht eingegangene Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (2.
Juli 2007), mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. Juni 2007 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe von monatlich 157,55 EUR ab Eingang des Eilantrages beim
Sozialgericht zu gewähren,
ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts
(Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§ 86b Abs. 2
Satz 3 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II in der ab 1. Januar 2007 geltenden Fassung (Gesetz zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 – BGBl. I, 1706) erhalten abweichend von § 7 Abs. 5 SGB II
u.a. Auszubildende, die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) erhalten und deren
Bedarf sich nach § 13 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 BAföG bemisst, einen Zuschuss zu ihren ungedeckten
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Satz 1 gilt nicht, wenn die
Übernahme der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 2a SGB II ausgeschlossen ist.
Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II sind im Falle der Antragstellerin erfüllt.
Ergibt sich – wie hier – eine vorrangige Anspruchsberechtigung nicht aus § 7 Abs. 6 SGB II, sind Auszubildende an
sich nach § 7 Abs. 5 SGB II von dem Bezug laufender Leistungen ausgeschlossen. Mit der Regelung des § 22 Abs. 7
SGB II hat der Gesetzgeber auf das Problem reagiert, dass in die Leistungen für Auszubildende teilweise
Unterkunftskosten lediglich in nicht bedarfsdeckender Höhe eingerechnet sind und dies insbesondere bei einer nach §
22 Abs. 7 SGB II vorausgesetzten Aufteilung der Unterkunftskosten nach Kopfzahlen zu einer Bedarfsunterdeckung
führt (Berlit in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 22 Rdnr. 126 m.w.N.). Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 16/1410,
S. 24) zielt die Regelung des § 22 Abs. 7 SGB II insbesondere auf BAföG beziehende Studierende, die im Haushalt
der Eltern leben und Kosten für die Unterkunft und Heizung beisteuern müssen, weil die Eltern den auf das
studierende Kind entfallenden Wohnkostenanteil nicht tragen können, insbesondere wenn sie selbst hilfebedürftig sind
und daher einen Teil der Wohnkosten nicht erstattet bekommen.
Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 2. Februar 2007, bei der Antragsgegnerin
eingegangen am 6. Februar 2007, Leistungen nach § 22 Abs. 7 SGB II beantragt. Sie absolviert ein Studium, wohnt
bei ihren Eltern und bezieht Leistungen nach § 13 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 BAföG. Sie ist damit nach § 22 Abs. 7
SGB II anspruchsberechtigt. Der Wortlaut des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II lässt allerdings nicht erkennen, wie die
Hilfeleistungen zu berechnen sind, insbesondere ob und ggf. in welcher Höhe Einkommen anzurechnen ist. Nach der
Systematik des Gesetzes hängt der Anspruch nach § 22 Abs. 7 SGB II allein von der Höhe der ungedeckten
Unterkunftskosten ab, ohne dass es einer Bedarfs- bzw. Einkommensberechnung nach dem SGB II bedarf (vgl. SG
Schwerin, Beschluss vom 29. März 2007 – S 10 ER 49/07 AS –). Dafür spricht schon die Regelung des § 19 Satz 2
SGB II, wonach der Zuschuss nach § 22 Abs. 7 nicht als Arbeitslosengeld II gilt. Behandelt die Fiktionsregelung den
Anspruch nach § 22 Abs. 7 SGB II nicht als solchen auf Arbeitslosengeld II, scheidet auch die Anwendung der
allgemeinen das Arbeitslosengeld II betreffenden Vorschriften zu Umfang und Höhe des Bedarfs und zur Anrechnung
von Einkommen aus. Unerheblich ist dabei, dass die Regelung des § 19 Satz 2 SGB II in erster Linie das Entstehen
der Sozialversicherungspflicht des nach § 22 Abs. 7 SGB II Anspruchsberechtigten verhindern soll. Auch lässt der
Wortlaut des § 22 Abs. 7 SGB II einen Verweis auf Vorschriften zur Einkommensanrechnung nach dem SGB II nicht
erkennen. Der Auffassung, zur Ermittlung des ungedeckten Unterkunftskostenbedarfs sei das vorhandene, nach den
Maßstäben des SGB II zu bereinigende Gesamteinkommen dem fiktiven Gesamtbedarf nach SGB II (Regelsatz plus
angemessene Unterkunftskosten) gegenüberzustellen, kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil sich bereits
dem Wortlaut des § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II nach der Bedarf der Auszubildenden nach dem SGB III bzw. dem
BAföG bemisst, und nicht – wie die Antragsgegnerin und das SG Berlin (Beschluss vom 23. März 2007 – S 37 AS
2804/07 ER –) meinen – nach den Vorschriften des SGB II. Auch der Auffassung, bei der Berechnung des
Zuschusses zu den Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II sei der ungedeckte Unterkunftsbedarfs zum
Betrag der Ausbildungsförderung zu addieren; diesem zu berücksichtigenden Gesamtbedarf sei das vorhandene, nach
den Maßstäben des SGB II bereinigte Gesamteinkommen gegenüberzustellen (so SG Berlin, Beschluss vom 4. Mai
2007 – S 102 AS 9326/07 ER –), kann nicht gefolgt werden. Denn diese Berechnungsmethode würde BAföG-
Empfänger, die mit Hilfedürftigen in Bedarfsgemeinschaft leben, gegenüber den übrigen BAföG-Empfängern ohne
erkennbaren sachlichen Grund benachteiligen. Denn auf der Grundlage des zum 1. April 2001 geänderten § 21 BAföG
wird Kindergeld im Unterschied zur Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II bei der Berechnung der
Ausbildungsförderung nicht als Einkommen angerechnet. Der Gesetzgeber hat demnach für BAföG-Empfänger einen
um das Kindergeld erhöhten Bedarf zur Bestreitung des Lebensunterhalts einschließlich der für die Ausbildung
erforderlichen Kosten (vgl. § 1 BAföG) angenommen. Auch wird Kindergeld für volljährige Kinder des Hilfebedürftigen,
die nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehören, unter bestimmten Voraussetzungen nicht als Einkommen berücksichtigt
(soweit es nachweislich an das nicht im Haushalt des Hilfebedürftigen lebende volljährige Kind weitergeleitet wird, vgl.
§ 1 Abs. 1 Nr. 8 Alg II-V in der ab 1. Oktober 2005 geltenden Fassung). Zwar lässt sich den Gesetzesmaterialien
entnehmen, dass der Gesetzgeber den Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II davon abhängig machen wollte, dass dem
Auszubildenden selbst überhaupt Kosten für Unterkunft und Heizung entstehen, und dass diese nach
Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen ungedeckt sind. Daraus folgt aber nicht, dass der Gesetzgeber von
einer Anrechnung von Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des SGB II ausgegangen ist. Da sowohl
Leistungen nach dem BAföG als auch nach dem SGB II Bedürftigkeitsleistungen sind, auf die regelmäßig Einkommen
und Vermögen angerechnet werden, und im Übrigen nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber abweichend von den
den Bestimmungen des BAföG zugrunde liegenden Wertungen eine Verschlechterung der Situation von BAföG-
Empfängern, die mit Hilfesuchenden nach dem SGB II bzw. SGB XII in Bedarfsgemeinschaft leben gegenüber
anderen BAföG-Empfängern beabsichtigt hat, ist § 22 Abs. 7 SGB II dahingehend auszulegen, dass die ungedeckten
Unterkunftskosten ohne erneute Prüfung des (Gesamt-) Bedarfs und Anrechnung des Einkommens zu ermitteln sind.
Diese Auslegung entspricht auch der Intention des Gesetzgebers, der ergänzend zu den pauschalierenden
Regelungen der Ausbildungsförderungsvorschriften Leistungen insbesondere für diejenigen erbringen wollte, die mit
Hilfedürftigen in Bedarfsgemeinschaft leben und ihren eigenen Anteil an den Unterkunftskosten nicht bzw. nicht
vollständig erstattet bekommen. Beabsichtigt war daher nur die Aufstockung der Unterkunftsleistungen bis zur
Bedarfsdeckung. Dass Leistungen nur nach vorheriger Ausschöpfung von nach BAföG anrechnungsfreiem
Einkommen erbracht werden sollen, kann der Gesetzesbegründung nicht entnommen werden.
Die Höhe des Zuschusses bemisst sich nach den ungedeckten angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung.
Als ungedeckte Unterkunftskosten sind 1/3 der tatsächlichen Unterkunftskosten der aus drei Personen bestehenden
Bedarfsgemeinschaft in Höhe von insgesamt 201,55 EUR (Mietaufwendungen einschl. Nebenkosten 541,66 EUR: 3 =
180,55 EUR zuzügl. Heizkosten 63,00 EUR: 3 = 21,00 EUR) abzüglich des nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 BAföG gewährten
Betrages für Unterkunft in Höhe von 44,00 EUR, mithin 157,55 EUR monatlich zu berücksichtigen.
Wohngeldansprüche sind nicht abzusetzen. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1c Wohngeldgesetz (WoGG) sind Empfänger von
Zuschüssen nach § 22 Abs. 7 SGB II, bei deren Berechnung Kosten der Unterkunft berücksichtigt worden sind, von
Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz ausgeschlossen.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund für den Zeitraum vom 13. April 2007 bis zum 31. August 2007
glaubhaft gemacht.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d.h. es muss
eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des
erkennenden Senats - vgl. Beschlüsse vom 22. September 2005 – L 9 AS 47/05 ER –, vom 7. Juni 2006 – L 9 AS
85/06 ER – und vom 30. August 2006 – L 9 AS 115/06 ER –; zuletzt Beschluss vom 30. Juli 2007 – L 9 AS 291/06
ER –; Conradis in: LPK-SGB II, Anhang Verfahren Rdnr. 119). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der
Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8.
Aufl. 2005, § 86b Rdnr. 28). Derartige erhebliche Nachteile sind hier zu bejahen, da nicht ersichtlich ist, aus welchen
Mitteln der nicht gedeckte Unterkunftsbedarf bestritten werden kann. Es ist der Antragstellerin daher nicht zuzumuten,
den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Zeit ab 1.
September 2007 kommt dagegen schon deshalb nicht in Betracht, weil nach dem vorgelegten BAföG-Bescheid vom
31. Oktober 2006 der Bewilligungszeitraum mit Ablauf des Monats August 2007 endet und eine besondere
Eilbedürftigkeit einer Regelung für zukünftige Zeiträume nicht erkennbar ist. Der Senat geht aber davon aus, dass bei
unveränderter Sachlage eine Weitergewährung der Leistungen auch über den 31. August 2007 hinaus erfolgen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).