Urteil des LSG Bayern vom 22.11.2010
LSG Bayern: tinnitus, berufskrankheit, auflage, wahrscheinlichkeit, beendigung, schwerhörigkeit, merkblatt, einwirkung, kausalität, unfallversicherung
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 22.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 8 U 109/08
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 391/08
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008 wird
zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung des bei ihm vorliegenden Tinnitus bei Hochtonschwerhörigkeit beidseits als
Berufskrankheit (BK) nach der Nummer 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Der 1943 geborene Kläger hat in den Jahren 1958 bis 1972 als Dreher gearbeitet. Von April 1972 bis Dezember 2002
ist er als Feuerungsmaurer tätig gewesen. Seit dieser Zeit ist der Kläger nicht mehr berufstätig.
Mit Antrag vom 03.05.2007 haben die Bevollmächtigten des Klägers die HNO-ärztlichen Atteste des Dr. M. vom
19.06.2006 und 22.09.2006 vorgelegt. Diagnostiziert worden ist ein Tinnitus bei Hochtonschwerhörigkeit beidseits
bzw. ein akut verstärkt rechtsseitig aufgetretener Tinnitus. Bei der Spiegeluntersuchung hat sich kein wesentlicher
pathologischer Befund ergeben. Das Audiogramm hat eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit rechts mehr als links
gezeigt, vorwiegend im Hochtonbereich.
Zur Aufklärung des Sachverhalts hat die Beklagte die Unterlagen des Dr. M. beigezogen und ein
Vorerkrankungsverzeichnis der AOK Baden-Württemberg eingeholt. Der Präventionsdienst der Beklagten ist zu dem
Ergebnis gekommen, dass der Kläger als Feuerungsmaurer in den Jahren 1972 bis 2002 etwa 30,5 Lärmjahren mit
einem Berufslärmpegel von 93 dB ausgesetzt gewesen ist.
Der gemäß § 200 Abs.2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) ausgewählte
Gutachter Dr. W. hat mit Gutachten vom 09.11.2007 ausgeführt, dass der Kläger Hörschutz nur unregelmäßig
getragen habe. Das früheste Audiogramm in den Akten stamme von 2002 und damit vom Ende der beruflichen
Tätigkeit des Klägers. Zeichen einer Lärmschwerhörigkeit würden sich dem Audiogramm nicht entnehmen lassen. Die
Audiogramme von 2006 entsprächen in etwa dem jetzigen gutachterlich erstellten Audiogramm. Es finde sich jetzt
rechts ein Schrägabfall der Tonschwellen über 1 kHz bis auf 50 dB bei 4 kHz. Es bestehe kein Wiederanstieg der
Tonschwellen zu den höheren Frequenzen hin. Links finde sich eine für eine Lärmschwerhörigkeit untypische kleine
Senke im Tieftonbereich bei 0,5 kHz bis 30 dB. Die Schwellen lägen dann etwa bei 20 dB, um im
Hochfrequenzbereich über 3 kHz steil abzufallen. Auch hier bestünden keine Zeichen einer lärmtypischen C-5-Senke.
Auch mache die Unsymetrie der Tonschwellenkurven eine Lärmschwerhörigkeit unwahrscheinlich. Das Recruitment
im Hochtonbereich scheine nach dem SISI und dem Langenbeck-Test positiv. Für einen Haarzellschaden im
Hochfrequenzbereich sprächen auch die fehlenden Signalantworten über 2 kHz bei der Messung der otoakustischen
Emissionen. Die von dem Kläger vermutete leichte Verschlechterung des Hörvermögens in den letzten Jahren, in
denen dieser nicht mehr berufstätig gewesen sei, spräche ebenfalls gegen das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit.
Der mehr nach rechts lokalisierte beidseitige Tinnitus sei frühestens 2003, also nach Beendigung der beruflichen
Tätigkeit, aufgetreten und könne damit nicht mit Berufslärm in Zusammenhang gebracht werden. Vermutlich bestehe
eine degenerative Hochtoninnen-ohrschwerhörigkeit mit Tinnitus rechts ausgeprägter als links. Die Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) für diesen nicht berufsbedingten Hörverlust mit Tinnitus betrage 10 v.H.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 21.12.2007 das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr.2301 der BKV
abgelehnt. Auch wenn der Kläger von 1972 bis Ende 2002 Lärm in gehörgefährdendem Ausmaß ausgesetzt gewesen
sei, hätten die vorliegenden Befunde und der Verlauf der Erkrankung ergeben, dass am ehesten von einer
degenerativen, also von einer lärmunabhängigen Hörschädigung auszugehen sei.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 12.03.2008 zurückgewiesen worden.
In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Augsburg die Unterlagen der Beklagten beigezogen.
Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 10.04.2008 hervorgehoben, eine berufsbedingte
Innenohrschädigung sei wahrscheinlich, weil der Kläger als Feuerungsmaurer 30,5 Lärmjahren einer Lärmbelastung
von 93 dB ausgesetzt gewesen sei. Auch Dr. W. habe eine doppelseitige Hörgeräteversorgung befürwortet.
Nach entsprechender Ankündigung hat das Sozialgericht Augsburg die Klage gegen den Bescheid vom 21.12.2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2008 mit Gerichtsbescheid vom 28.08.2008 abgewiesen.
Entsprechend dem Gutachten des Dr. W. vom 09.11.2007 spräche der Krankheitsverlauf wie auch das
audiometrische Bild des Gehörschadens gegen einen Lärmschaden. Vor allem habe Dr. W. zutreffend festgestellt,
dass sich die leichte Schwerhörigkeit bei dem Kläger über alle Frequenzbereiche erstrecke und keine lärmtypische C-
5-Senke aufweise. Eine spürbare Verschlechterung des Hörvermögens sowie ein Tinnitus hätten sich erst nach
Aufgabe der beruflichen Tätigkeit entwickelt. Auch die von Dr. M. am 22.09.2006 festgestellte unsymetrische
Ausbildung der beidseitigen Schwerhörigkeit bei gleicher Lärmbelastung beider Ohren spräche gegen eine berufliche
Verursachung.
Die Bevollmächtigten des Klägers regten mit Berufung vom 30.09.2008 an, ein unabhängiges
Sachverständigengutachten einzuholen. Hätte der Sachverständige Dr. W. eine Gesamt-MdE gebildet aus
Hörverlusten und Ohrgeräusch, wäre deutlich geworden, dass die MdE mindestens 20 v.H. betrage. Mit Schriftsatz
vom 17.09.2008 ergänzten die Bevollmächtigten des Klägers, dass die Messlatte des Königsteiner Merkblattes in der
vierten Auflage deutlich zu hoch angesetzt sei. Die Berufskrankheit (BK) nach der Nr.2301 sei zu einem
"Stützrententatbestand" verkümmert.
Von Seiten des Senats wurden die Akten der Beklagten und die Akten des Sozialgerichts Augsburg S 8 U 109/08
beigezogen. Der Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28.04.2010 wurde auf Antrag der Bevollmächtigten des
Klägers verlegt.
Die in der mündlichen Verhandlung vom 16.11.2010 nicht erschienenen Bevollmächtigten des Klägers beantragen
entsprechend dem Schriftsatz vom 30.09.2006, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008
sowie den Bescheid vom 21.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2008 aufzuheben und
festzustellen, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr.2301 der Anlage zur BKV vorliegt.
Der Bevollmächtige der Beklagten stellt entsprechend dem Schriftsatz vom 03.11.2008 den Antrag, die Berufung des
Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 540 der
Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die beigezogenen Unterlagen der Beklagten
sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die am 01.10.2008 gegen den am 01.09.2008 zugestellten Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom
28.08.2008 eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG zulässig, jedoch unbegründet. Das
Sozialgericht Augsburg hat die Klage gegen den Bescheid vom 21.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 12.03.2008 zutreffend abgewiesen.
Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundesrates als solche bezeichnet und die ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3
oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet (§ 9 Abs.1 Satz 1 SGB VII). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKV
mit den Listenkrankheiten vor. Hierzu gehört nach Nr.2301 eine Lärmschwerhörigkeit (Merkblatt: Bek. des BMAS vom
01.07.2008, GMBl 2008, 798; BG-Grundsatz: G20 "Lärm"). Eine Lärmschwerhörigkeit liegt vor, wenn sich eine
Innenohrschwerhörigkeit in einem Zeitraum entwickelt hat, in dem eine adäquate Lärmexposition bestand und die
Lärmeinwirkung wahrscheinlich ursächlich ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8.
Auflage, RdZ 7.3.3)
Mit der Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird indes nur die mögliche Ursächlichkeit einer
beruflichen Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden. Im
Einzelfall ist für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der
versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen
der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei
müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich
deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit,
nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht
grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreicht (BSG mit Urteil
vom 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R). Nach dem in der Unfallversicherung geltenden Prinzip der wesentlichen
Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich für eine Berufskrankheit anzusehen, die im Verhältnis zu
anderen Umständen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Die
Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs ist gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die
auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt
werden kann. Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach geltender ärztlich-
wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer
anderen Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen die
gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 8 SGB VII, Anm.10.1 m.w.N.).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind nach dem schlüssigen und überzeugenden Gutachten des Dr.W. vom
09.11.2007 die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK-Nr.2301 nicht gegeben. Dies gilt auch unter
Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger insgesamt 30,5 Jahre als Feuerungsmaurer in gehörgefährdendem
Ausmaß einer Lärmbelastung von 93 dB ausgesetzt gewesen ist.
Wie Dr. W. mit Gutachten vom 09.11.2007 eingeräumt hat, legt allein dieser Umstand eine berufsbedingte
Innenohrschädigung nahe (Dr. W. hat den Begriff "wahrscheinlich" untechnisch verwendet.). Dies ist jedoch wie im
Falle des Klägers nicht zwingend. Denn das früheste Audiogramm in den Akten stammt aus dem Jahr 2002 und damit
vom Ende der beruflichen Tätigkeit des Klägers. Zeichen einer Lärmschwerhörigkeit haben sich dem Audiogramm
nicht entnehmen lassen. Weiterhin liegen nach dem Gutachten des Dr. W. keine Zeichen einer lärmtypischen C-5-
Senke vor. Links findet sich eine für eine Lärmschwerhörigkeit untypische kleine Senke im Tieftonbereich bei 0,5 kHz
bis 30 dB. Auch die Asymetrie der Tonschwellenkurven macht eine Lärmschwerhörigkeit unwahrscheinlich. Die
Schwerhörigkeit hat sich bei dem Kläger im Wesentlichen erst nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben bzw.
nach Beendigung der lärmbelastenden Tätigkeit entwickelt. Der mehr nach rechts lokalisierte beidseitige Tinnitus ist
frühestens 2003, also nach Beendigung der beruflichen Tätigkeit aufgetreten und kann damit nicht mit Berufslärm in
Zusammenhang gebracht werden. - Eine Mitverursachung ist zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen, hier aber nicht
überwiegend wahrscheinlich. Gelingt der erforderliche Nachweis eines Ursachenzusammenhangs nicht, so geht dies
nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Klägers (ständige Rechtsprechung des BSG, zuletzt
mit Beschluss vom 18.08.2010 - B 6 KA 21/10 B).
Der Senat teilt vielmehr das abschließende Votum des Dr. W. mit Gutachten vom 09.11.2007, dass vermutlich von
einer degenerativen Hochtoninnenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus rechts ausgeprägter als links auszugehen ist.
In Anbetracht der eindeutigen Ausführungen des Dr. W. mit Gutachten vom 09.11.2007 ist es entgegen der Anregung
der Klägerbevollmächtigten nicht veranlasst gewesen, den Sachverhalt durch Einholung eines weiteren Gutachten
gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 SGG ergänzend aufzuklären. Von der Möglichkeit, einen Gutachter eigener Wahl nach § 109
SGG zu benennen, haben die Bevollmächtigten des Klägers keinen Gebrauch gemacht.
Wenn die Bevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 17.09.2008 hervorgehoben haben, die Messlatte des
Königsteiner Merkblattes in der vierten Auflage sei deutlich zu hoch angesetzt, die Berufskrankheit Nr.2301 sei zu
einer Art "Stützrententatbestand" verkümmert, stützt dies das Klagebegehren nicht. Denn wie bereits ausgeführt liegt
bei dem Kläger keine Lärmschwerhörigkeit im Sinne der BK-Nr.2301 vor. Im Übrigen hat das BSG mit Urteil vom
12.04.2005 - B 2 U 6/04 R ausgeführt: "Auch dem sogenannten Königsteiner Merkblatt, welches von "führenden
deutschen Audiologen in Zusammenarbeit mit dem Berufsgenossenschaftlichen Forschungsinstitut für
Lärmbekämpfung (später Berufsgenossenschaftliches Institut für Arbeitssicherheit) erarbeitet ist" und "Empfehlungen
für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit" enthält (Fassung 4. Auflage 1995, wiedergegeben in
Mehrtens/Perlebach, BKV, M 2301 S 6 ff), ist nicht zu entnehmen, dass die nach dem Merkblatt erforderliche
Notwendigkeit der dauerhaften Einwirkung von Lärm inzwischen überholt wäre."
Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 28.08.2008
zurückzuweisen. Die Anwesenheit des Klägers oder seiner Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vom
16.11.2010 ist nicht erforderlich gewesen (§ 110 Abs.1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).