Urteil des LSG Bayern vom 26.03.2008

LSG Bayern: diabetes mellitus, unfallfolgen, psychiatrie, neurologie, rente, depression, form, entgleisung, entschädigung, persönlichkeitsstörung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 26.03.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 5 U 333/05
Bayerisches Landessozialgericht L 2 U 226/07
Bundessozialgericht B 2 U 151/08 B
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 4. Mai 2007 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung weiterer Unfallfolgen.
Der 1942 geborene Kläger erlitt am 29. Dezember 1998 bei einem Verkehrsunfall eine Dornfortsatzfraktur des
sechsten Halswirbels und ein Kopfschwartenhämatom. Ein craniales Computertomogram ergab keinen Hinweis für
eine intracerebrale Blutung oder Fraktur. Vom 29. Dezember 1998 bis 2. Januar 1999 wurde der Kläger im
Zentralklinikum A. behandelt, vom 2. Januar bis 20. Januar 1999 im Städtischen Krankenhaus S ... Der Chefarzt, der
Chirurg Dr. K. , berichtete am 2. März 1999, es sei zu einer Entgleisung des Diabetes und einem beginnenden
Gangrän der rechten Großzehe gekommen. Die Entgleisung des Diabetes sei eine mittelbare Unfallfolge. Die
Schmerzen seien laut neurologischem Konsil vom 9. Februar 1999 neurologisch nicht erklärbar. Es bestehe ein
depressives Syndrom. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. berichtete am 2. Februar 1999, der Kläger klage
über Pelzigkeit im Bereich des linken Ellenbogens und Unterarmes sowie der Hand. Er fühle sich seit dem Unfall
depressiv verstimmt. Dr. L. diagnostizierte ein reaktiv-depressives Syndrom. Der Neurologe Dr. B. erklärte am 6. April
1999, es handle sich um ein beidseitiges Carpaltunnelsyndrom und Sulcus-ulnaris-Syndrom, das sich nach dem Unfall
verschlechtert habe. Die diffuse Polyneuropathie sei im Zusammenhang mit einem seit 1986 bekannten Diabetes
mellitus zu sehen. Eine posttraumatische periphere oder zentrale Läsion sei ausgeschlossen.
Im Gutachten vom 15. Dezember 1999 führte der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. aus, es bestünden keine
psychopathologischen Auffälligkeiten mit Krankheitswert. Dr. L. habe zwar auf eine gewisse Antriebsminderung und
depressive Herabstimmung hingewiesen, der Kläger gebe jedoch an, er sei nie psychiatrisch oder nervenärztlich
behandelt worden. Es bestehe eine diabetische Polyneuropathie, die nicht auf den Unfall zurückzuführen sei.
Der Internist Dr. L. führte im Gutachten vom 14. Dezember 1999 aus, Unfallfolgen auf internistischem Fachgebiet
seien nicht festzustellen. Unfallunabhängig bestünden ein insulipflichtiger Diabetes mellitus, Übergewicht,
Hypercholesterinämie, cholestatische Reaktion der Leber, Gefäßsklerose mit Durchblutungsstörungen am linken Fuß.
Die Chirurgen Prof. Dr. B. und Dr. M. erklärten im Gutachten vom 29. März 2000, die Unfallfolgen seien verheilt. Die
MdE habe bis zum 31. August 1999 30 v.H. betragen, ab 1. September 1999 20 v.H ...
Mit Bescheid vom 10. Mai 2000 gewährte die Beklagte dem Kläger Rente als vorläufige Entschädigung nach einer
MdE um 30 v.H. bis 31. August 1999 und um 20 v.H. bis auf weiteres.
Am 13. November 2000 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 10. Mai 2000 gemäß § 44 des
10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Die MdE habe auch ab 1. September 1999 mindestens 30 v.H.
betragen. Abgesehen von den zu berücksichtigenden Unfallfolgen bestehe auch eine erhebliche berufliche
Betroffenheit.
Im Gutachten vom 10. Dezember 2001 führte der Chirurg Prof. Dr. H. aus, die MdE sei mit 20 v.H. einzuschätzen.
Eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen sei nicht eingetreten und auch nicht zu erwarten. Eine besondere
berufliche Betroffenheit liege nicht vor. Der Internist Prof. Dr. H. führte im Gutachten vom 28. März 2003 aus, die
Ehefrau des Klägers gebe eine seit dem Unfall zunehmende Wesensveränderung mit depressiven und zum Teil
aggressiven Episoden an. Zudem klage der Kläger über Schmerzen, sei unruhig, könne nicht mehr schlafen und habe
Konzentrationsschwierigkeiten. Prof. Dr. H. diagnostizierte eine diabetische Polyneuropathie. Ein Zusammenhang mit
dem Unfall liege nicht vor. Ein Schädelhirntrauma sei nicht in der Lage, zu einer traumatischen Entstehung einer
Zuckerkrankheit zu führen. Hinsichtlich der geltend gemachten posttraumatischen Persönlichkeitsveränderung sei zu
berücksichtigen, dass die depressive Symptomatik und die Schlafstörungen bereits vor dem Unfall aktenkundig seien.
Die ohne direkten zeitlichen Zusammenhang zum Unfallereignis aufgetretenen mikro- und makroangiopathischen
Komplikationen bis hin zur Unterschenkelamputation am 26. August 2002 stünden in keinem Zusammenhang mit dem
Unfallereignis.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 9. April 2003 eine Erhöhung der Rente ab. Eine wesentliche Verschlimmerung
liege nicht vor.
Mit Bescheid vom 16. Juli 2003 änderte sie den Bescheid vom 10. Mai 2000 bezüglich der Rentenzahlung. Der Kläger
habe Anspruch auf eine Rente auf unbestimmte Zeit, die am 1. Juni 1999 beginne. Im Übrigen verbleibe es bei den im
Bescheid vom 10. Mai 2000 und 9. April 2003 getroffenen Feststellungen bezüglich der anerkannten Unfallfolgen und
der hierzu festgestellten MdE. Dieser Bescheid werde Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens (§ 86
Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Widersprüche des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. März 2005 sowohl bezüglich des
Bescheides vom 9. April 2003 als auch des Bescheides vom 16. Juli 2003 zurück.
Im Klageverfahren nahm der Kläger die abgetrennte Klage bezüglich des Bescheides vom 10. Mai 2000 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3. März 2005 zurück (S 5 U 129/05).
Das Sozialgericht trennte mit Beschluss vom 12. Oktober 2005 den Rechtsstreit bezüglich der geltend gemachten
Verschlimmerung der Unfallfolgen (S 5 U 94/05) und bezüglich der Überprüfung der Vollständigkeit der Unfallfolgen (S
5 U 333/05) und zog Berichte der behandelnden Ärzte bei.
Im Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. für den MDK vom 3. März 1998 wird angegeben, der
Kläger habe berufliche Probleme und könne wegen der Schmerzen in der linken Schulter nicht mehr als
Sachverständiger arbeiten. Er sei sehr logorrhoisch, aber nicht depressiv. Der Nervenarzt Dr. H. führte im Bericht vom
20. Februar 1998 aus, der Kläger gebe eine Änderung der Stimmungslage seit wenigstens drei Monaten an. Es falle
auch jetzt wieder die fast logorrhoisch anmutende Schilderung diffuser Körperbeschwerden auf. Es bestünden
depressive Stimmungs- und Denkinhalte sowie eine psychomotorische Antriebsstörung, Schlafstörungen, Inappetenz
und vegetative Funktionsstörungen. Es liege ein Prägnanztyp eines gehemmt-depressiven Syndroms vor. Dr. H.
empfahl die Verordnung eines Anti-Depressivums.
Das Sozialgericht ernannte den Chirurgen Prof. Dr. R. zum ärztlichen Sachverständigen. Im Gutachten vom 10. April
2006 führte Prof. Dr. R. aus, die MdE sei ab 1. Januar 1999 mit 20 v.H. einzuschätzen. Die Beweglichkeit des linken
Schultergelenkes und Ellenbogengelenkes habe sich verbessert. Dagegen finde sich nun eine Einschränkung der
Unterarmumwendbewegung. Eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlimmerung liege nicht vor.
Die auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG zur ärztlichen Sachverständigen ernannte Ärztin für Neurologie und
Psychiatrie Dr. C. führte im Gutachten vom 27. November 2006 aus, auf neurologischem Fachgebiet sei eine
unfallbedingte Schädigung in rentenberechtigendem Ausmaß zu verneinen. Die Polyneuropathie bestehe
unfallunabhängig. Sie stellte die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und querulatorischen
Zügen. Außerdem bestehe eine Dysthymie. Die Persönlichkeitsstörung und Dysthymie seien nicht durch den Unfall
entstanden. Auch eine wesentliche Verschlimmerung sei nicht eingetreten. Eine auffällige Persönlichkeit und eine
depressive Symptomatik sei schon vor dem Unfall festgestellt worden. Wie die Unterlagen der AOK zeigten, sei der
Kläger 1995/1996 sowie 1997 und 1998 langfristig arbeitsunfähig gewesen, obwohl die Diagnosen dies nicht
rechtfertigen. Belegt seien somatoforme Beschwerden und eine depressive Symptomatik bereits durch Dr. K. und Dr.
H ... Dr. W. habe im Befundbericht vom 9. September 2005 erwähnt, dass die subjektiv geäußerten Schmerzen nicht
objektiviert werden könnten. Es sei davon auszugehen, dass auch jedes andere Ereignis zu derselben Zeit eine
erneute längere Arbeitsunfähigkeitszeit hätte auslösen können.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2007 nahm der Kläger die Klage bezüglich des
Verschlimmerungsantrages zurück.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2007 (S 5 U 333/05) beantragte der Bevollmächtigte des Klägers,
den Bescheid vom 16. Juli 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides am 3. März 2005 bezüglich des
Überprüfungsantrages aufzuheben und die psychischen Beschwerden des Klägers als weitere Folge des Unfalls vom
29. Dezember 1998 anzuerkennen und bei der Rentenzahlung zu berücksichtigen.
Mit Urteil vom 4. Mai 2007 wies das Sozialgericht die Klage gegen den Bescheid vom 16. Juli 2003 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3. März 2005 ab. Mit dem Bescheid vom 16. Juli 2003 habe die Beklagte unter
anderem erklärt, dass es bei den bereits getroffenen Feststellungen bezüglich der anerkannten Unfallfolgen und der
hierzu festgestellten MdE verbleibe. Die Beklagte habe den Antrag des Klägers zu Recht abgelehnt. Soweit der
Bescheid vom 16. Juli 2003 die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes regele, sei dies Gegenstand des bereits erledigten
Verfahrens (S 5 U 129/05). Die psychischen Beschwerden des Klägers seien keine Folge des Unfalls, dies ergebe
sich aus dem überzeugenden Gutachten von Dr. C ...
sich aus dem überzeugenden Gutachten von Dr. C ...
Mit der Berufung vom 14. Juni 2007 und der Berufungsbegründung vom 31. Oktober 2007 macht der Kläger geltend,
anzuerkennen seien psychische Beschwerden als Unfallfolgen bzw. die Verschlimmerung solcher Beschwerden durch
den Unfall. Er übersandte Schreiben seiner Tochter und seines Sohnes, die bestätigten, dass sich seine
Persönlichkeit nach dem Unfall gravierend verändert habe sowie ein Attest des Allgemeinmediziners Dr. B. vom 6.
Januar 2008.
Der Kläger stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 4. Mai 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des
Bescheides vom 16. Juli 2003 bzw. vom 9. April 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. März
2005 zu verurteilen, festzustellen, dass psychische Beschwerden und Persönlichkeitsveränderung weitere Folge des
Unfalls vom 29. Dezember 1998 sind und diese nach einer höheren MdE als um 20 v.H. zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Klage- und
Berufungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht Augsburg die Klage abgewiesen. Von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe wird abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung
als unbegründet zurückweist.
Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren zu keiner
anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage führen konnte. Dr. C. hat im Gutachten vom 27. November 2006
überzeugend ausgeführt, dass psychische Störungen nicht durch den Unfall verursacht worden sind, sondern bereits
vor dem Unfall vorhanden waren. So hat Dr. H. im Bericht vom 20. Februar 1998 auf eine larvierte Depression
hingewiesen. Der Kläger gab ihm gegenüber an, seine Stimmungslage habe sich seit mindestens drei Monaten
geändert. Er verwies auf die Belastungen durch die behinderte Tochter. Dr. H. hielt den Verdacht einer psychisch
verursachten Symptomatik für erhärtet und diagnostizierte eine depressive Stimmungslage, psychomotorische
Antriebsstörung, Vitalveränderungen in Form von Schlafstörungen, Inappetenz und vegetativen Funktionsstörungen,
insgesamt Prägnanztyp eines gehemmt-depressiven Syndroms. Er hielt im Februar eine Therapie mit einem
Antidepressivum für erforderlich. In diesem Zusammenhang sind auch die ärztlichen Berichte, die im Rahmen der
Feststellung der Schwerbehinderung eingeholt wurden, von Interesse. Schon früh bestanden zahlreiche Beschwerden.
So bestätigte der Orthopäde Dr. T. am 12. November 1980 Kreuz- und Rückenschmerzen nach einem Autounfall,
einen Zustand nach schwerem Morbus Scheuermann der Brust- und Lendenwirbelsäule mit beginnenden
Sekundärveränderungen. Auch 1987 klagte der Kläger über nächtliche Rücken- und Kreuzschmerzen. Dr. B. hielt im
Bericht vom 1. März 2001 die psychischen und kognitiven Defizite diabetesbedingt, führte sie also nicht auf den
Unfall vom 29. Dezember 1998 zurück. Schon für 1996 gab er eine diabetische Polyneuropathie an.
Insofern ist Dr. C. zuzustimmen, wenn sie im Gutachten überzeugend ausführt, dass der Unfall die psychischen
Beschwerden nicht erklären kann. Der Unfall hat nicht ursächlich zu einer psychischen Fehlverarbeitung von
Krankheitswert geführt, die daher nicht als mittelbare Unfallfolge zu werten ist. Die Lebensgeschichte des Klägers
zeigt belastende Faktoren, wie die Behinderung der Tochter. Der Kläger litt schon in früheren Jahren an vielfältigen
körperlichen Beschwerden und an einer Depression. Diese Disposition gehört zu seiner unfallunabhängigen
Persönlichkeit. Die inzwischen eingetretene Entwicklung steht in keiner Beziehung zur Schwere des auslösenden
Unfallereignisses, das nicht wesentlich zu der psychischen Erkrankung, wie sie jetzt besteht, geführt hat. Der Unfall
ist nach medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis als Auslöser und nicht als Ursache der Symptomatik zu sehen.
Die unfallunabhängige Disposition war beim Kläger so stark ausgeprägt, dass es auch bei einem anderen Ereignis des
täglichen Lebens zu den jetzt bestehenden Gesundheitsstörungen gekommen wäre. Die Anlage des Klägers hatte
sich bereits vor dem Unfall manifestiert und ist durch das Unfallereignis nicht in rechtlich bedeutsamer Weise
beeinflusst worden. Es ergibt sich lediglich ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den
geltend gemachten Gesundheitsstörungen, ohne dass eine kausale Verknüpfung bestünde.
Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.