Urteil des LSG Bayern vom 05.05.2003

LSG Bayern: anbau, pflege, rollstuhl, fahren, zuschuss, erleichterung, wirtschaftlichkeitsgebot, erschwernis, form, haushalt

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.05.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 2 P 97/00
Bayerisches Landessozialgericht L 7 P 39/01
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21. Juni 2001 aufgehoben und
die Klage abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung eines Zuschusses aus der Pflegeversicherung für den Anbau eines
Wintergartens streitig.
Der 1953 geborene und am 01.05.2002 verstorbene Versicherte, dessen Rechtsnachfolgerin die Klägerin ist, litt an
spinaler Muskelatrophie und war auf den Rollstuhl angewiesen. Die Beklagte bewilligte ihm Leistungen nach
Pflegestufe III.
Mit Schreiben vom 06.11.1998 wurde die Bewilligung eines Zuschusses für den Anbau eines Wintergartens mit der
Begründung beantragt, dieser sei notwendig geworden, da das Schlafzimmer vom 1. Obergeschoss in das
Erdgeschoss, und zwar in das bisherige Esszimmer, habe verlegt und deshalb ein zusätzlicher Raum, in dem das
Essen eingenommen werde, geschaffen werden müssen.
Nach Durchführung eines Hausbesuches am 05.02.1999 durch Pflegefachkräfte des Medizinischen Dienstes der
Krankenkassen in Bayern (MDK) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 01.04.1999 eine Zuschussgewährung mit der
Begründung ab, der Wintergarten sei nicht pflegerelevant.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 09.08.2000 als unbegründet zurück.
Während der Um-Anbauphase des Wintergartens seien die Mahlzeiten größtenteils in der Küche und im Wohnzimmer
eingenommen worden, weshalb fraglich erscheine, ob die Nutzung des Wintergartens für die im Rahmen der
Pflegeversicherung zu berücksichtigenden Verrichtungen des täglichen Lebens notwendig sei. Da der zusätzlich
geschaffene Raum "lediglich" zur Einnahme der Mahlzeiten aufgesucht werde, könne in Anbetracht dieses kurzen
Zeitraumes im Verhältnis zur täglichen Pflegezeit nicht von einer erheblichen Erleichterung/Entlastung gesprochen
werden.
Zur Begründung der zum Sozialgericht Regensburg (SG) erhobenen Klage ist vorgebracht worden, der Esstisch könne
aus Platzmangel nicht im Wohnzimmer, in dem die täglich gebrauchten Bewegungstrainer, der mobile Personenlifter
usw. aufgestellt seien, plaziert werden. Die Benutzung von Wohnzimmer und Küche während der Umbauphase sei
eine absolute Notlösung gewesen. Die Küche könne mit dem Rollstuhl "kaum" befahren werden.
Das SG hat in der mündlichen Verhandlung am 21.06.2001 die Ehefrau und spätere Rechtsnachfolgerin als Zeugin
vernommen und mit Urteil vom 21.06.2001 die Beklagte verurteilt, einen Zuschuss zur Verbesserung des individuellen
Wohnumfeldes zu gewähren. Zwar werde die häusliche Pflege durch den Anbau nicht erst ermöglicht, was sich daraus
ergebe, dass die Pflege vorher bereits ausschließlich im Erdgeschoss durchgeführt werden worden sei, jedoch ergebe
sich aus den Angaben der Zeugin und der Einsichtnahme in die Bauplanungsmappe, dass durch die streitige
Maßnahme die Pflege zumindest erheblich erleichtert worden sei, da ohne den Anbau z.B. der Einsatz des
vorhandenen Personenlifters nicht möglich gewesen wäre.
Die Beklagte macht mit ihrer Berufung geltend, die Erforderlichkeit einer Maßnahme richte sich nicht stets und
vollständig nach den individuellen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten des einzelnen Pflegebedürftigen,
maßgebend sei vielmehr ein üblicher und durchschnittlicher Wohnungsstandard, wie sich aus dem
Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 4 Abs.3, 29 Abs.1 SGB XI) ergebe. Danach sei der Anbau eines Wintergartens nicht
unverzichtbar, um einen ausreichenden Lebensstandard zu gewährleisten. Nach Durchführung eines weiteren
Hausbesuches am 10.02.2003 durch Pflegefachkräfte des MDK mit eingehender Besichtigung der Räumlichkeiten und
Anhörung der Klägerin und deren Tochter sei man nunmehr zu der Auffassung gelangt, dass zwar das Wohnzimmer
nicht genug Platz geboten habe, um dort zusätzlich die vorhandene Essecke aufzustellen, dass jedoch die
Wohnküche ausreichend geräumig sei, so dass dort eine Essenseinnahme auch unter Berücksichtigung des
benutzten Rollstuhls möglich gewesen wäre. Die vorgelegte Skizze der Küche zeige, dass sich dort eine Essecke mit
ausreichendem Platzangebot für vier Personen, bestehend aus Eckbank, zwei Stühlen und großem Esstisch (ca. 114
auf 114 cm), befinde. Der Durchlass vom Flur in die Küche sei 71. cm breit, während der benutzte Rollstuhl 68 cm
breit gewesen sei, weshalb die Möglichkeit bestanden habe, den Versicherten mit dem Rollstuhl zum Essen an den
Esstisch der Wohnküche zu fahren.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21.06. 2001 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Ihr Mann habe mit dem Rollstuhl nicht alleine in die Küche einfahren können, sondern habe immer Hilfe benötigt. Wie
sich aus der von ihr vorgelegten Zeichnung ergebe, könnten die Küchengeräte, z.B. Geschirrspüler, Herd nicht
vollständig geöffnet werden, da der Rollstuhl ihres Mannes sehr viel Platz in Anspruch genommen habe. Ihre Küche
habe eine sehr kleine Arbeitsfläche, weshalb auch der dort befindliche Tisch als Arbeitsplatte zur Zubereitung der
Speisen verwendet worden sei. Durch den Anbau des Wintergartens sei die Pflege erheblich erleichtert worden.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und deren
Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG -), ein
Ausschließungsgrund nach § 144 Abs.1 SGG liegt nicht vor.
Das Rechtsmittel erweist sich auch in der Sache als begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den gewährten
Zuschuss für den Anbau des Wintergartens.
Gemäß § 40 Abs.4 Satz 1 SGB XI können die Pflegekassen subsidiär finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur
Verbesserung des individuellen Umfeldes des Pflegebedürftigen gewähren, beispielsweise für technische Hilfen im
Haushalt, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst
selbständige Lebensführung des Plegebedürftigen wiederhergestellt wird. Zu Recht hat das SG ausgeführt, dass hier
allenfalls das Tatbestandsmerkmal der Erleichterung der Pflege in Betracht kommt, da durch den Anbau des
Wintergartens die häusliche Pflege weder erst ermöglicht noch durch ihn eine selbständige Lebensführung
wiederhergestellt worden ist. Jedoch kann in Anbetracht sämtlicher Umstände nicht angenommen werden, dass durch
den Anbau des Wintergartens und den dadurch zusätzlich geschaffenen Wohnraum die Pflege erheblich erleichtert
worden ist. Denn auch ohne diesen Anbau, der mit der Schaffung eines zusätzlichen Esszimmers begründet wurde,
waren die Wohnverhältnisse ausreichend und die Pflege nicht unzumutbar erschwert. Anspruchsbegründend ist
nämlich nicht bereits die Tatsache, dass sich die Pflegeperson durch die Maßnahme, deren Bezuschussung
beantragt wird, subjektiv entlastet fühlt (BSG SozR 3-300 § 40 Nr.4); es kann unterstellt werden, dass die Klägerin
und ihr Ehemann den Wegfall des bisher benutzten Esszimmers, das in das Schlafzimmer umgewandelt wurde, als
Verlust an Wohnqualität empfunden haben. Jedoch richtet sich die Erforderlichkeit einer Maßnahme nicht stets und
vollständig nach den individuellen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten des einzelnen Pflegebedürftigen, vielmehr
kann nur ein üblicher und durchschnittlicher Standard maßgebend sein (BSG a.a.O.). Dementsprechend wäre es
zumutbar gewesen, die Küche, in der ein Essbereich eingebaut und die deshalb auch für die Essenseinnahme
vorgesehen war, hierfür zu benutzen, da dies dem weithin üblichen Wohnstandard der Bevölkerung entspricht.
Unstreitig war es möglich, den Pflegebedürftigen mit dem Rollstuhl an den Esstisch zu fahren. Dass unter Umständen
es während der Essenseinnahme nicht oder nur schwer möglich war, bestimmte Türen des Küchenmobiliars zu
öffnen, kann nicht als unzumutbare Erschwernis angesehen werden, da es genügt hätte, den Pflegebedürftigen erst
nach vollständiger Zubereitung der Mahlzeiten in die Küche zu fahren. Das Merkmal der erheblichen Erleichterung der
Pflege erfordert eine Abwägung zwischen dem Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß §§ 4 Abs.3, 29 Abs.1 SGB XI und den
Interessen der Versicherten und ihrer Angehörigen an einem Wohnungsstandard, der dem allgemein üblichen
entspricht. Hiervon ausgehend war ein Anspruch auf den begehrten Zuschuss zu verneinen.
Somit war das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21.06. 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.