Urteil des LSG Bayern vom 22.05.2007

LSG Bayern: tinnitus, behinderung, schwerhörigkeit, versorgung, beweisanordnung, gesellschaft, bandscheibenvorfall, kontrolle, anerkennung, otosklerose

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 22.05.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 11 SB 58/01
Bayerisches Landessozialgericht L 15 SB 39/05
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 09.07.2003 sowie der Bescheid
des Beklagten vom 07.11.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2001 und der
Ausführungsbescheid vom 22.08.2003 insoweit abgeändert, als der Beklagte verurteilt wird, für den Zeitraum
14.08.2000 bis 25.03.2002 einen GdB von 50 bei der Klägerin festzustellen. II. Der Beklagte hat die notwendigen
außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Auf den Erstantrag vom 11.08.2000 hat der Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid des Amtes für
Versorgung und Familienförderung A. vom 07.11.2000 den GdB mit 30 bewertet. Als Behinderungen sind festgestellt
worden:
1. Schwerhörigkeit bds., Ohrgeräusche (Tinnitus) (Einzel- GdB 20); 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei
degenerativen Verän derungen und muskulären Verspannungen, Bandscheibenschäden (Einzel-GdB 20); 3.
Darmwandausstülpungen (Divertikulose) (Einzel-GdB 10).
Der Widerspruch vom 30.11.2000 gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom
07.11.2000 ist mit Widerspruchsbescheid des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom
18.01.2001 zurückgewiesen worden. Der GdB von 30 berücksichtige die bestehenden Beschwerdekomplexe
angemessen.
In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Augsburg einen aktuellen Befundbericht von Dr.U.
beigezogen und mit Beweisanordnung vom 22.05.2001 Dr.K. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat mit orthopädischem Gutachten vom 20.08.2001
ausgeführt, dass die Klägerin als Industriekauffrau und Lohnbuchhalterin vollschichtig ihre Tätigkeit verrichten könne.
Geistige Funktionsausfälle bestünden nicht; es bestehe lediglich eine Beeinträchtigung des Hörvermögens rechts
stärker als links bei vorbeschriebener Otosklerose verbunden mit konstanten Ohrgeräuschen. Mit ergänzender
Stellungnahme vom 28.09.2001 hat Dr.K. ausgeführt, dass die Funktionsstörungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-
GdB von 20 zu berücksichtigen seien. Gleiches gelte für die bekannte Otosklerose mit rechtsseitiger Schwerhörigkeit
und Tinnitus. Die Sigmadivertikulose bedinge einen Einzel-GdB von 10. Der Gesamt-GdB betrage 30.
Im Hinblick auf das laufende weitere Rentenstreitverfahren gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte
(nunmehr: Deutsche Rentenversicherung Bund) hat das Sozialgericht Augsburg auf Grund der übereinstimmenden
Anträge der Beteiligten mit Beschluss vom 03.12.2001 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Der Bevollmächtigte
der Klägerin hat mit Schriftsatz vom 09.01.2002 beantragt, das Verfahren wieder aufzunehmen. Das
Rentenstreitverfahren S 13 RA 44/01 habe nicht zu einer Erwerbsunfähigkeitsrente geführt. Die dortigen Gutachten
seien beizuziehen. Nachdem eine Bewertung der Schwerhörigkeit samt Tinnitus nicht vorgenommen worden sei,
werde eine weitere Sachverhaltsaufklärung bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt vorgeschlagen. Im Folgenden hat das
Sozialgericht Augsburg mit Beweisanordnung vom 07.02.2002 Prof. Dr.B./Dr.L. gemäß 106 Abs.3 Nr.5 SGG zu
weiteren ärztlichen Sachverständigen bestellt. Diese sind mit HNO-ärztlichem Gutachten vom 17.09.2002 zu dem
Ergebnis gekommen, dass ab August 2000 der Gesamt-GdB 50 und ab dem Untersuchungszeitpunkt 26.03.2002 70
betrage. Gestützt auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 05.12.2002 und 12.12.2002 hat der Beklagte am
08.01.2003 ein Vergleichsangebot dahingehend unterbreitet, den GdB ab 14.08.2000 mit 40 festzustellen. Zu
berücksichtigen seien folgende Funktionsstörungen:
1. Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (Einzel-GdB 40); 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen
Veränderungen und muskulären Verspannungen, Bandschei benschäden (Einzel-GdB 20); 3. Darmwandausstülpungen
(Divertikulose) (Einzel-GdB 10).
In Berücksichtigung der Einwände des Bevollmächtigten der Klägerin mit Schriftsatz vom 17.01.2003 hat der Beklagte
am 19.03.2003 ein neues Vergleichangebot dahingehend abgegeben, für die in der versorgungsärztlichen
Stellungnahme vom 12.12.2002 genannten Gesundheitsstörungen ab 14.08.2000 einen GdB von 40 und ab
26.03.2002 (Untersuchungstag) einen GdB von 60 festzustellen sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das
Merkzeichen "RF" zuzuerkennen. Entsprechend dem versorgungsärztlichen Votum von Dr.N. betrage der GdB für die
Schwerhörigkeit bds. einschließlich der Ohrgeräusche auf Grund der nunmehr vorliegenden Befunde 60.
Der Bevollmächtigte der Klägerin hat das vorstehend bezeichnete Vergleichsangebot entsprechen seinem Schriftsatz
vom 02.04.2003 nur hinsichtlich des Merkzeichens "RF" angenommen und im Übrigen nochmals hervorgehoben, dass
Prof.Dr.B./Dr.L. ab August 2000 den GdB mit 50 und ab dem Tag der Untersuchung mit 70 bewertet hätten.
Das Sozialgericht Augsburg hat mit weiterer Beweisanordnung vom 07.04.2003 Dr.K. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 SGG
zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat mit HNO-fachärztlichem Gutachten nach Aktenlage vom
02.06.2003 ausgeführt, dass der GdB auf seinem Fachgebiet im Jahr 2000 30 entsprochen habe. Somit habe der
Gesamt-GdB seinerzeit weniger als 50 betragen. Der GdB auf HNO-ärztlichem Fachgebiet von 60 gelte erst ab
Untersuchung bei Prof.Dr.B./Dr.L. vom 26.03.2002. Ab dem genannten Untersuchungszeitraum sei ein Gesamt-GdB
von 70 gegeben. Das Sozialgericht Augsburg ist diesem Votum mit Urteil vom 09.07.2003 - S 11 SB 58/01 - gefolgt
und hat den Bescheid des Beklagten vom 07.11.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2001
dahingehend abgeändert, als der Beklagte verpflichtet worden ist, bei der Klägerin ab August 2000 einen GdB von 40
und ab März 2002 einen GdB von 70 (sowie das Merkzeichen "RF") festzustellen.
Die hiergegen gerichtete Berufung vom 01.08.2003 ging am 05.08.2003 im Sozialgericht Augsburg ein und wurde von
dort aus an das Bayer. Landessozialgericht weitergeleitet. Von Seiten des Senats wurden die Schwerbehinderten-
Akten des Beklagten, die erstinstanzlichen Unterlagen sowie die Rentenstreitakten des Sozialgerichts Augsburg
beigezogen. Entsprechendes gilt für die Unterlagen der BfA Berlin (nunmehr: Deutsche Rentenversicherung Bund).
Nach Auswertung der vorstehend bezeichneten Unterlagen hielt der Beklagte mit Schriftsatz vom 06.06.2005 daran
fest, dass sich ein höherer GdB als 40 für den Zeitraum ab August 2000 bis einschließlich Februar 2002 nicht
rechtfertigen lasse. Dr.N. habe mit HNO-versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 19.05.2005 betätigt, dass sich der
Umfang der Schwerhörigkeit im August 2002 weiterhin lediglich aus dem Tonaudiogramm vom 25.08.2000 mit einem
damaligen Einzel-GdB von 20 ermitteln lasse. Dr.K. habe mit nervenärztlicher Stellungnahme nach Aktenlage vom
01.06.2005 ausgeführt, selbst wenn man entgegen dem (Renten-)Gutachten von Dr.H. auf Grund der jetzigen
Anamnese eine psychovegetative Symptomatik für das fragliche Jahr 2000 annehmen würde, ergäbe sich dadurch
kein höherer Einzel-GdB als 10 bis 20 und keine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 50.
Das Bayer. Landessozialgericht machte den Beklagten mit Schreiben vom 14.06.2005 auf das Renten-Gutachten von
Prof.Dr.F. vom 06.02.2004 aufmerksam und ersuchte um erneute Überprüfung, gestützt auf die weiteren
versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr.N. und Dr.K. vom 12.07.2005 bzw. 26.07.2005 hielt der Beklagte mit
Schriftsatz vom 02.11.2005 an seiner Auffassung fest, dass ein höherer GdB als 40 für den Zeitraum ab August 2000
bis einschließlich Februar 2002 auf Grund der vorliegenden Befunde nicht gerechtfertigt sei. In Berücksichtigung der
divergierenden ärztlichen Voten bestellte das Bayer. Landessozialgericht mit Beweisanordnung vom 19.07.2006
Dres.W. und E. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 SGG zu ärztlichen Sachverständigen und wies besonders auf den
rentenrechtlich relevanten Stichtag 16.11.2000 (vgl. § 236 a SGB VI) hin. Dr.E. kam mit neurologischem
Fachgutachten vom 26.09.2006 zu dem Ergebnis, dass ab dem Jahr 2000 die Anerkennung einer psychischen
Störung mit einem Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt sei; gleiches gelte für die über einen längeren Zeitraum
anhaltenden Wirbelsäulensyndrome bei deutlichen degenerativen Veränderungen und nachgewiesenem
Bandscheibenvorfall. Die Einstufung der Behinderung hinsichtlich der Hörminderung müsse fachspezifisch erfolgen.
Dr.W. führte mit HNO-fachärztlichem Gutachten vom 18.08.2006 aus, dass ab August 2000 im HNO-Bereich auf
Grund der Hörstörung und des Tinnitus von einem GdB von 40 ausgegangen werden könne. Ein Gesamt-GdB von 50
erscheine ab August 2000 angemessen. Auf Grund einer Hörverschlechterung zwischen August 2000 und März 2002
habe sich der Einzel-GdB im HNO-Bereich auf 70 erhöht. Der Gesamt-GdB betrage ab März 2002 dementsprechend
80. Dr.N. rügte mit HNO-versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 10.11.2006 vor allem, dass im Rahmen der
Bewertung die Tabelle Röser 1973 und nicht die Tabelle Röser 1980 angewandt worden sei. Im vorliegenden Fall
bestehe zweifellos ein hochtonbetonter Hörschaden, so dass die Tabelle Röser 1980 maßgebend sei. In seiner
Erwiderung vom 05.01.2007 hob Dr.W. hervor, dass zur Beurteilung des Audiogramms vom 25.08.2000 nach wie vor
die Tabelle Röser 1980 für falsch erachtet werde; er befände sich hier auch in Übereinstimmung mit dem Gutachten
von Prof.Dr.B ... Die Einschätzung eines GdB von 30 auf Grund der Hörstörung sei damit korrekt. Die zusätzliche
Berücksichtigung des Tinnitus führe zu einem Einzel-GdB von 40 auf HNO-ärztlichem Fachgebiet zum damaligen
Zeitpunkt.
Dem Beklagten wurde mit Nachricht des Bayer. Landessozialgerichts vom 19.01.2007 Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben. Er äußerte sich hierzu nicht mehr.
Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt in der mündlichen Verhandlung vom 22.05.2007, das Urteil des
Sozialgerichts Augsburg vom 09.07.2003 sowie den Bescheid des Beklagten vom 07.11.2000 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 18.01.2001 sowie den Ausführungsbescheid des Amtes für Versorgung und
Familienförderung A. vom 22.08.2003 insoweit teilweise aufzuheben und abzuändern, als für den Zeitraum 14.08.2000
bis 25.03.2002 der GdB mit 40 festgestellt wurde und stattdessen einen GdB von 50 festzustellen.
Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg
vom 09.07.2003 als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird gemäß § 202 SGG i.V.m. § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie
entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten und die Akten der Deutschen Rentenversicherung
Bund sowie die Gerichtsakten 1. und 2. Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und begründet. Der Grad der Behinderung (GdB) im Sinne von § 2 Abs.2 und
§ 69 Abs.1 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) ist in dem noch
streitgegenständlichen Zeitraum 14.08.2000 bis 25.03.2002 nicht mit 40, sondern mit 50 festzustellen.
Menschen sind gemäß § 2 Abs.1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht,
wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Menschen sind gemäß § 2 Abs.2 SGB IX im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von
wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem
Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG)
zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Das KOV-VfG ist entsprechend
anzuwenden, soweit nicht das SGB X Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft werden als GdB nach 10-er Graden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30 Abs.1 BVG
festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20
vorliegt (§ 69 Abs.1 SGB IX).
Die eingangs zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 bzw. 2004 und 2005" ausgefüllt. Wenngleich
diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht
nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle
Entscheidungshilfe herangezogen. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in Art.3 Abs.1 des Grundgesetzes (GG)
normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (vgl.
Urteil des 9a Senats des BSG vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 in "Die Sozialge-richtsbarkeit" 1991, S.227 ff. zu
"Anhaltspunkte 1983").
Mit Urteilen vom 23.06.1993 - 9a/9 RVs 1/91 und 9a/9 RVs 5/92 (ersteres publiziert in BSGE 72, 285 = MDR 1994
S.78, 79) hat das BSG wiederholt dargelegt, dass den "Anhaltspunkten 1983" keine Normqualität zukommt; es
handelt sich nur um antizipierte Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung
jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung durch die Gerichte muss dieser Zwitterstellung Rechnung tragen. - Die
"Anhaltspunte 1983" haben sich normähnlich entwickelt nach Art der untergesetzlichen Normen, die von
sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Allerdings fehlt es insoweit an der
erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen Verantwortung
hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung. - Hinsichtlich der
richterlichen Kontrolle der "Anhaltspunkte 1983" ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der
"Anhaltspunkte 1983". Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch
Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf
eine Evidenzkontrolle beschränkt. Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit
mit den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereiches und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber
begründet (vgl. Papier, DÜV 1986, S.621 ff. und in Festschrift für Ule, 1987, S.235 ff.). Eine solche Beschränkung in
der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die "Anhaltspunkte 1983" geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen
Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 - BvR 60/95 (vgl. NJW 1995, S.3049,
3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und
nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte
Sachverständigengutachten" bestätigt. Der in Art.3 des Grundgesetzes (GG) normierte allgemeine Gleichheitssatz
gewährleistet innerhalb des § 3 SchwbG nur dann eine entsprechende Rechtsanwendung, wenn bei der Beurteilung
der verschiedenen Behinderungen regelmäßig gleiche Maßstäbe zur Anwendung kommen. - Entsprechendes gilt auch
für die neu gefassten "Anhaltspunkte 1996", die die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse und Fortschritte in der
medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des BSG,
zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen
"Anhaltspunkte 1983" eingearbeitet haben (BSG mit Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/03 R in SGb 2004 S.378) bzw.
nunmehr die "Anhaltspunkte 2004 und 2005".
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass für den hier streitgegenständlichen Zeitraum 14.08.2000 bis 25.03.2002 die
"Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz 1996" maßgeblich sind. Nach Rdz.26.5 der "Anhaltspunke 1996" ist bei der Bewertung des
GdB-Grades bei Hörstörungen die Herabsetzung des Sprachgehörs maßgebend, deren Umfang durch Prüfung ohne
Hörhilfen zu bestimmen ist. Der Beurteilung ist die von der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen- Ohrenheilkunde,
Kopf- und Hals-Chirurgie empfohlene Tabelle D zugrunde zu legen. Nach Durchführung eines Ton- und
Sprachaudiogramms ist der Prozentsatz des Hörverlustes aus entsprechenden Tabellen abzuleiten. Sind mit der
Hörstörung andere Erscheinungen (z.B. Ohrgeräusche, Gleichgewichtsstörungen, Artikulationsstörungen,
außergewöhnliche psychoreaktive Störungen) verbunden, so kann der GdB-Grad entsprechend höher bewertet
werden. Hierbei ist ein Tinnitus ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis
10, mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen.
Der Streit, ob entsprechend den Ausführungen von Dr.W./ Prof.Dr.B./Dr.L. die Tabelle Röser 1973 oder in
Berücksichtigung der Ausführungen von Dr.N. die Tabelle Röser 1980 zugrunde zulegen ist, kann letztendlich
dahingestellt bleiben, weil die HNO-ärztliche Funktionsstörung samt Tinnitus gemäß Rdz.26.5 der "Anhaltspunkte
1996" einheitlich zu bewerten ist. In diesem Zusammenhang darf das auf Veranlassung der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Berlin eingeholte HNO-ärztliche Gutachten von Dr.S. vom 25.06.2002
nicht außer Acht gelassen werden. Dr.S. hat auf S.6 seines Gutachten vom 25.06.2002 darauf hingewiesen, dass die
Klägerin seit 2000 an zunehmenden Depressionen leidet. In dem späteren medizinisch-psychosomatischen
Rentenfachgutachten von Prof.Dr.F. vom 06.02.2004 ist auf S.52 ausgeführt, dass der ausgeprägte Schweregrad der
psychosomatischen Erkrankung soweit beurteilbar seit Juni 2000 besteht. Nachdem sich der HNO-ärztliche und
psychosomatische Beschwerdebereich auf Grund des Tinnitus überschneiden, ist es insoweit angemessen, den
diesbezüglichen Gesamt-Beschwerdekomplex ab 14.08.2000 (Antragseingang) mit einem Einzel-GdB von 40 zu
bewerten.
Im Übrigen haben alle am Verfahren beteiligten Ärzte und Sachverständige bestätigt, dass die bei der Klägerin
bestehende "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und muskulären
Verspannungen, Bandscheibenschäden" mit einem Einzel-GdB von 20 und die Funktionsstörung
"Darmwandausstülpungen (Divertikulose)" mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen sind. Dies entspricht dem
Bewertungsrahmen, den die "Anhaltspunkte 1996" in Rdz.26.18 (Wirbelsäulenschäden) und 26.10 (Magen- und
Darmkrankheiten) vorgeben.
Ausgehend von drei Beschwerdekomplexen mit Einzel-GdB-Werten von 40, 20 und 10 beträgt der Gesamt-GdB in
dem streitgegenständlichen Zeitraum 14.08.2000 bis 25.03.2002 gemäß Rdz.19 Abs.3 und 4 der "Anhaltspunkte
1996" 50. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die
den höchsten Einzel-GdB-Grad bedingt, und dann im Hinblick auf alle weitern Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen,
ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren
Funktionsbeeinträchtigungen dem 1. GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung
insgesamt gerecht zu werden. Von (hier nicht gegebenen) Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte
Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad um 10 bedingen, nicht zu eine Zunahme des Ausmaßes der
Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere
derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit
einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der
Behinderung zu schließen. Vorliegend sind die Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule GdB-erhöhend zu
berücksichtigen.
Auch Dr.E. hat mit neurologischem Fachgutachten vom 26.09.2006 ab dem Jahr 2000 die Anerkennung einer
psychischen Störung mit einem Einzel-GdB von 20 befürwortet. Gleiches gilt für die über einen längeren Zeitraum
anhaltenden Wirbelsäulensyndrome bei deutlichen degenerativen Veränderungen und nachgewiesenem
Bandscheibenvorfall. Sollte ein Einzel-GdB für die auf HNO-ärztlichem Fachgebiet bestehenden Behinderungen mit
mindestens 40 ab 2000 festgestellt werden, würde dies in Anbetracht der zusätzlich bestehenden
Wirbelsäulenbeschwerden und der psychischen Störung aus nervenärztlicher Sicht ebenfalls einen Gesamt-GdB von
50 bedingen. Entgegen Dr.E. ist jedoch in Beachtung von Rdz.26.5 der "Anhaltspunkte 1996" nicht auf eine
Überlagerung der Schmerzsymptomatik im Bereich der Wirbelsäule und der psychischen Störung abzustellen,
sondern auf ein Überschneiden des HNO-ärztlichen und psychischen Beschwerdekomplexes.
Nach alledem ist der Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 09.07.2003
stattzugeben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).