Urteil des LSG Bayern vom 28.10.2003

LSG Bayern: rente, arbeitsmarkt, erwerbsunfähigkeit, persönlichkeit, psychiater, unzumutbarkeit, behinderung, erwerbsfähigkeit, berufsunfähigkeit, einwirkung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 28.10.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 3 RJ 160/99
Bayerisches Landessozialgericht L 5 RJ 588/01
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 20. September 2001 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitgegenstand ist die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1949 in Rumänien geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war in ihrer Heimat als Lichtpauserin und nach
ihrem Zuzug 1990 im Bundesgebiet als Hilfsarbeiterin bzw. zuletzt von 1992 bis 1995 als Montiererin
versicherungspflichtig beschäftigt. Sie erhielt anschließend bis Juni 1995 Krankengeld, danach Leistungen wegen
beruflicher bzw. medizinischer Rehabilitation und bezieht seit Januar 1998 Arbeitslosenhilfe. Die am 16.06.1997 beim
Berufsförderungsinstitut P. GmbH & Co. KG begonnene berufliche Integrationsmaßnahme wurde von der Beklagten
am 22.01.1998 vorzeitig beendet, da die Klägerin keine Aussicht auf Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis
besaß. Im Abschlussbericht des Berufsförderungsinstituts vom 23.01.1998 heißt es, aus der unglücklichen
Kombination von geringer Belastbarkeit und relativ geringem Einsatzspektrum ergäben sich nur minimale
Eingliederungschancen.
Am 06.02.1998 beantragte die Klägerin die Aufhebung des rentenablehnenden Bescheids vom 25.07.1997 gemäß §
44 SGB X. Erwerbsunfähigkeitsrente stehe ab Rentenantragstellung im Mai 1997 zu. Die Beklagte hatte sich bei der
Rentenablehnung auf die Gutachten der Dres. G. und M. vom 16. bzw. 17.07.1997 berufen, die zusammenfassend
leichte ebenerdige Tätigkeiten im Wechselrhythmus ohne ungünstige Witterungseinflüsse, inhalatorische Reizstoffe,
Schicht, Zeitdruck und ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit für vollschichtig zumutbar
gehalten hatten. Als Gesundheitsstörungen hatten sie diagnostiziert: Neigung zu Nacken-, Rücken-, Kreuzschmerzen,
unklare Schmerzen beider Füße, gemischtförmiges Bronchialasthma, Zustand nach Teilentfernung des linken
Lungenunterlappens wegen eines gutartigen Tumors und labiler Bluthochdruck mit Neigung zu
Herzrhythmusstörungen.
Am 06.04.1998 stellte die Klägerin zudem einen neuerlichen Rentenantrag. Das daraufhin von M.B. am 11.09.1998
erstellte ärztliche Gutachten ergab keine Leidensverschlimmerung, so dass die Beklagte den Rentenantrag am
24.09.1998 ablehnte.
Auch der Überprüfungsantrag vom 06.02.1998 wurde abgelehnt, weil weder Berufsunfähigkeit noch Erwerbsunfähigkeit
vorlägen.
Der Widerspruch wurde nach Auswertung von Befundberichten der behandelnden Ärzte am 25.02.1999
zurückgewiesen.
Dagegen hat die Klägerin am 08.03.1999 unter Bezugnahme auf eine vom praktischen Arzt Dr.P. attestierte
Leidensverschlimmerung Klage erhoben. Im Auftrag des Gerichts hat der Orthopäde Dr.L. am 27.07.1999 nach
ambulanter Untersuchung ein Gutachten erstellt. Er hat eine statisch muskuläre Rückenschwäche bei vermehrtem
Rundrücken und altersentsprechenden degenerativen Veränderungen festgestellt und leichte bis mittelschwere
Arbeiten ohne wesentlichen Zeitdruck im Wechselrhythmus, vorwiegend in geschlossenen Räumen, für vollschichtig
zumutbar erachtet. Auch der weitere Sachverständige, der praktische Arzt Dr.R. , hat nach ambulanter Untersuchung
eine zeitliche Leistungseinschränkung verneint. In seinem Gutachten vom 27.09. 1999 hat er neben Veränderungen
an der Lunge und am Herzkreislaufsystem ein depressives Syndrom als leistungsmindernd benannt und folgende
qualitative Einschränkungen genannt: Keine Arbeiten unter Zeitdruck, mit Einzel- und Gruppenakkord, keine
Fließband- und taktgebundene Arbeit, keine Arbeiten in Zwangshaltung, kein häufiges Bücken, Heben und Tragen von
Lasten, keine Arbeiten in überwiegend gleichförmiger Körperhaltung, in oder über Kopfhöhe, mit besonderer
Anforderung an die nervliche Belastbarkeit, unter Einwirkung von Kälte, starken Temperaturschwankungen, Zugluft
und Nässe.
Auf Antrag der Klägerin ist der Neurologe und Psychiater Dr.E. am 30.10.2000 gehört worden. Er hat nach ambulanter
Untersuchung ein chronifiziertes depressives Syndrom mit Somatisierung bei neurasthenisch-depressiv akzentuierter
Persönlichkeit, eine chronische Cephalgie mit migräne- und spannungskopfschmerztypischen Merkmalen und
chronische cervikobrachialgieforme und lumboischialgieforme Beschwerden ohne Hinweis für eine Nervenwurzelläsion
diagnostiziert. Er hat als zusätzliche Leistungseinschränkungen genannt die Unzumutbarkeit eines längeren
Anmarschwegs, von Arbeiten überwiegend im Stehen, Gehen oder in Zwangshaltung, von häufigem Treppen- und
Leiternsteigen, von Anforderungen an die volle Gebrauchsfähigkeit der Hände, der Gefährdung an laufenden
Maschinen, besonderer Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, der Umstellungs- und
Anpassungsfähigkeit, der Arbeit mit Publikumsverkehr. Bei Berücksichtigung der aufgezeigten Einschränkungen
seien leichte Tätigkeiten halbschichtig zumutbar.
Die Fachärztin für Psychiatrie Dr.W. hat dazu im Auftrag der Beklagten ausführlich Stellung genommen und das
Gutachten als nicht schlüssig, nicht ableitbar, nicht fundiert und nicht validiert bezeichnet.
Daraufhin hat das Gericht von Amts wegen ein weiteres fachärztliches Gutachten eingeholt. Der Neurologe und
Psychiater Dr.S. hat in seinem Gutachten vom 31.01.2001 nach ambulanter Untersuchung als Hauptdiagnose eine
Dysthymia bei asthenischer Persönlichkeit mit psychosomatischen Reaktionsmustern genannt und eine zeitliche
Leistungseinschränkung verneint. Aufgrund der nervenärztlichen Diagnosen könnten keine besonderen Anforderungen
an die nervliche Belastbarkeit gestellt werden, kein Zeitdruck, kein Akkord, keine Wechselschichten und kein
Publikumsverkehr abverlangt werden. Tätigkeiten als Montiererin, Sortiererin, Warenaufmacherin seien zumutbar,
solche als Kassiererin oder Pförtnerin nicht. Gestützt hierauf und auf die Gutachten der Dres. R. und L. hat das
Sozialgericht die Klage am 20.09.2001 abgewiesen. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen sei
nicht gegeben, so dass die konkrete Benennung einer Tätigkeit nicht notwendig sei. Ein vollschichtiges
Leistungsvermögen werde auch durch das tatsächliche Arbeitsergebnis in der Berufsförderung bewiesen.
Gegen das am 11.10.2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 22.10.2001 Berufung eingelegt. Entsprechend dem
Abschlussbericht des Berufsförderungsinstituts von 1998 sei sehr wohl von einer Summierung auszugehen.
Ausweislich der beigezogenen Schwerbehindertenakten beträgt der Grad der Behinderung 40 seit Januar 1995.
Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben.
Auf Antrag der Klägerin ist der Orthopäde Dr.P. als Sachverständiger gehört worden. Er hat nach ambulanter
Untersuchung am 10.04.2003 ein vollschichtiges Leistungsvermögen bejaht. Unzumutbar seien Zeitdruckarbeit,
Einzel- und Gruppenakkord, fließband- und taktgebundene Arbeiten, Wechsel- und Nachtschicht, Zwangshaltungen,
häufiges Bücken und Stehen sowie die Einwirkung von Kälte, Hitze, Staub etc.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 20.09.2001 sowie
des Bescheides vom 24.09. 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.02. 1999 zu verurteilen, den
Bescheid vom 25.07.1997 zurückzunehmen und ihr aufgrund des Antrags vom 05.05.1997 Rente wegen Berufs- bzw.
Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 20.09.2001
zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Akten des Sozialgerichts Augsburg, der
Schwerbehindertenakten sowie der Berufungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Das Urteil
des Sozialgerichts Augsburg vom 20.09.2001 ist ebenso wenig zu beanstanden wie der Bescheid der Beklagten vom
24.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.02.1999. Auch der Bescheid vom 25.07.1997 ist
rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie ist weder
erwerbsunfähig noch berufsunfähig oder vermindert erwerbsfähig.
Zutreffend hat das Sozialgericht Augsburg die Voraussetzungen der Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente und der
Rücknahme eines Bescheids gemäß § 44 SGB X dargestellt. Ebenso zutreffend hat es dargestellt, dass die Klägerin
als ungelernte Arbeiterin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar ist und die zweifellos vorhandenen
Gesundheitsstörungen die Klägerin nicht hindern, einer vollschichtigen Tätigkeit nachzugehen. Insoweit wird von einer
weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs.2 SGG Abstand genommen.
Das im Berufungsverfahren gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten des Dr.P. bietet keinen Anlass, Zweifel an der
Leistungseinschätzung der vom Sozialgericht gehörten Ärzte Dres. L. , R. und S. zu hegen. Ebenso wie die im
Verwaltungsverfahren gehörten Dres. G. , M. und B. hielt Dr.P. die Klägerin für vollschichtig leistungsfähig. Auch
wenn Dr.P. als zusätzliche Leistungseinschränkung die Unzumutbarkeit von häufigem Stehen nennt, verneint er
ausdrücklich das Vorliegen wesentlicher, die grundsätzliche Einschätzung verändernder Aspekte im Vergleich zum
Gutachten Dr.L ... Für die bereits bei Dr.L. geklagten Schmerzen im Bereich der Beine fand er ebenfalls keine
Erklärung. Von Seiten der Sprunggelenke sind radiologisch keine arthrosetypischen Veränderungen vorhanden und
eine sog. arterielle Verschlusskrankheit konnte nach der durchgeführten Farbdopplersonographie der Beinarterien
beidseits ausgeschlossen werden. Der Facharzt hat keinen Zweifel, dass die Klägerin ortsübliche Wegstrecken in
einer Zeit zwischen 15 und 20 Minuten zurücklegen kann.
Nicht gefolgt werden kann der Beurteilung des Dr.E. , dass auch keine Arbeiten mehr zumutbar sind, die die volle
Gebrauchsfähigkeit der Hände voraussetzen und die besondere Anforderungen an die Umstellungs- und
Anpassungsfähigkeit stellen. Nachdem er selbst auf neurologischem Fachgebiet, abgesehen von einer
abgeschwächten tiefen Sensibilität der Beine, keinen pathologischen Befund erhoben hat und die Dres. P. und L.
ebenso wenig wie Dr.G. auffällige Veränderungen an den Händen objektivieren konnten, erscheint die erstgenannte
Leistungseinschränkung nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte, an der Umstellungs- und
Anpassungsfähigkeit der Klägerin zu zweifeln. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Erlebens- und
Gestaltungsfähigkeit ist nicht erwiesen. Die Schilderung der Tagesabläufe sowie der sozialen Kontakte, die
Gedächtnis- und Kognitionsleistung sprechen dagegen, dass ein schwerwiegender psychopathologischer Befund
vorliegt. In dieselbe Richtung deuten die Stellungnahmen auch des Berufsförderungsinstituts P. , wonach sich der
Arbeitgeber über die gezeigten Leistungen der Klägerin höchst zufrieden geäußert habe, insbesondere über
Zuverlässigkeit und Sorgfalt. Die Klägerin war bei der Stadt A. mit der Katalogisierung der Bibliotheks- und
Sammlungsbestände des Museums beschäftigt. Lediglich aufgrund des kommunalen Einstellungsstops konnte eine
Übernahme der Klägerin nicht erfolgen.
Zu Recht hat es das Sozialgericht auch abgelehnt, von einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen
im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung auszugehen. Insoweit wird erneut von der weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe abgesehen. Im Positiven kann die Klägerin nur noch leichte und ruhige Arbeiten in
geschlossenen, temperierten und sauberen Räumen überwiegend im Gehen und Sitzen vollschichtig verrichten. Zwar
stellt der Ausschluss von Tätigkeiten mit Publikumsverkehr eine nicht unerhebliche Behinderung bei der Vermittlung
eines Arbeitsplatzes dar. Die übrigen Leistungsdefizite schränken das Tätigkeitsfeld leichter körperlicher Arbeit aber
nicht in untypischer Weise ein, so dass keine Summierung atypischer Leistungseinschränkungen besteht.
Entscheidend ist, dass die Funktionsfähigkeit der Arme und Beine ebenso erhalten ist wie die der Sinnesorgane. Von
daher kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich
noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen in der gewerblichen Produktion gibt. Leichte
körperliche Verrichtungen wie z.B. Kleben, Sortieren, Zusammensetzen von Teilen, Kontrollieren, Montieren usw. sind
mit dem Restleistungsvermögen der Klägerin vereinbar. Der Benennung eines konkreten Verweisungsberufs bedarf es
daher nicht.
Auch wenn es im Entlassungsbericht des Berufsförderungsinstituts vom 23.01.1998 heißt, aus der unglücklichen
Kombination von geringer Belastbarkeit und relativ geringem Einsatzspektrum ergäben sich minimale
Eingliederungschancen, so müssen diese in erster Linie auf die Verhältnisse am Arbeitsmarkt zurückgeführt werden.
Sowohl die Übernahme bei der Stadt A. als auch der Einsatz in anderen leichten Produktionstätigkeiten scheiterte am
Bedarf und nicht an den Gesundheitsstörungen der Klägerin. Zwar ist der Bereich der leichten gewerblichen
Tätigkeiten weiter dadurch eingeschränkt, dass keine bronchialbelastenden Einwirkungen vorhanden sein dürfen.
Mangels weiterer untypischer Einschränkungen ist jedoch noch keine Summierung zu bejahen.
Die Klägerin, die sonach keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat, hat erst recht keinen Anspruch auf
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, weil sie die noch strengeren Voraussetzungen des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit
im Sinne des § 44 Abs.2 SGB VI a.F. nicht erfüllt. Da sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig einsatzfähig
ist, ist sie nicht gehindert, ihr Restleistungsvermögen wirtschaftlich zu verwerten und mehr als nur geringfügige
Einkünfte zu erzielen. Wegen ihrer vollschichtigen Einsatzfähigkeit scheidet schließlich auch ein Anspruch auf Rente
wegen Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI in der ab 01.01.2001 maßgebenden Fassung aus.
Voraussetzung hierfür wäre, dass die Klägerin unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts keine
sechs Stunden täglich mehr erwerbstätig sein kann. Wie oben dargelegt, kann sie tatsächlich acht Stunden täglich
arbeiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.