Urteil des LSG Bayern vom 12.10.2004

LSG Bayern: reaktive depression, kontakt mit der umwelt, unfallfolgen, erwerbsfähigkeit, minderung, meinung, psychiater, arbeitsunfähigkeit, wurzel, beweiswürdigung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 12.10.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 4 U 97/01
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 131/03
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 10.01.2003 und des Bescheides
vom 06.09.2002 und Abänderung des Bescheides vom 11.09.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
06.03.2001 verurteilt, dem Kläger ab 11.08.1999 Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H. sowie ab 01.12.2003 ab
60 v.H. zu gewähren. II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. III. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte
seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger wegen der Folgen seines Unfalls vom 12.05.1997 Verletztenrente
nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. statt um 40 v.H. ab 11.08.1999 bzw. um 30 v.H. ab
01.10.2002 zusteht.
Der 1951 geborene Kläger erlitt am 12.05.1997 als Beifahrer auf der Fahrt zu einer Baustelle einen schweren
Verkehrsunfall. Bei einem Linksabbiegevorgang wurde das Firmenfahrzeug von einem entgegenkommenden Pkw auf
der Beifahrerseite erfasst. Nach dem Durchgangsarztbericht des Dr. L. , Kreiskrankenhaus N. , zog sich der Kläger
dabei eine Platzwunde am rechten Unterschenkel, einen Deckplatteneinbruch des 5. Lendenwirbelkörpers (LWK), eine
Brustwirbelsäulen-Kontusion, eine Gehirnerschütterung sowie oberflächliche Hautabschürfungen am Kopf zu. Der als
instabil bezeichnete LWK-5-Bruch wurde im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in R. operativ versorgt. Wegen
Rückenschmerzen und eines Taubheitsgefühls an der Vorderseite des linken Oberschenkels wurde der Kläger von
dem Neurologen Dr. K. am 29.09.1997 untersucht. Dabei zeigte sich kein Anhalt für ein Wurzelkompressionssyndrom.
Zu den Rückenschmerzen traten in der Folgezeit Mißempfindungen und eine Stuhlinkontinenz hinzu. Bei
Begutachtungen in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. im November 1997 und durch Dr. G. im Mai 1998
ließen sich keine rückenmarksbedingten Ausfälle nachweisen. Berufsfördernde Maßnahmen, die die Beklagte
gewährte, weil der Kläger seinen körperlich belastenden Beruf als Baumontagehelfer nicht mehr ausüben konnte,
brach der Kläger am 25.11.1998 wegen erneuter unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit ab.
In einem Arztbrief vom 01.09.1999 berichtete der Neurologe und Psychiater Dr. P. , er habe den Kläger am
19.08.1999 wegen einer schweren Depression und eines chronischen Schmerzsyndroms behandelt. Der Urologe Dr.
N. teilte mit, der Kläger habe ihn im Dezember 1998 und Oktober 1999 wegen Erektionsstörungen konsultiert.
Auf urologischem Fachgebiet wurde der Kläger am 21.03.2000 durch Prof. Dr. W. begutachtet. Der Sachverständige
hielt eine erektile Dysfunktion für die Folge des unfallbedingten Bauchtraumas und hierfür einschließlich der damit
verbundenen starken psychischen Belastung eine MdE um 20 v.H. für angemessen. Prof. Dr. W. , Chefarzt der
Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses St. J. in R. , stellte am 16.06.2000 auf seinem Fachgebiet einen unter
Höhenminderung verheilten LWK-5-Bruch fest und maß dieser Unfallfolge eine MdE um 20 v.H. bei. Im neurologisch-
psychiatrischen Zusatzgutachten vom 01.08.2000 beschrieb Dr. K. eine depressive Verstimmung als Reaktion auf
den Unfall, der die Lebensumstände des Klägers nachhaltig verändert habe. Die MdE betrage hierfür 20 v.H.
Magenbeschwerden sah der Internist Dr. S. im Zusammenhang mit dem Unfall; insoweit sei eine MdE um 10 v.H.
allenfalls für ein halbes Jahr nach dem Unfall angebracht. Die Gesamt-MdE bewertete Prof. Dr. W. am 21.08.2000 mit
50 v.H. ab dem 11.08.1999, dem Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit. Dabei seien Überschneidungen auf
chirurgischem und urologischem Gebiet berücksichtigt. Inzwischen sei von einem Dauerzustand auszugehen. Dieser
Einschätzung widersprach der Beratungsarzt Dr. E. am 04.09.2000. Er hielt eine Gesamt-MdE um höchstens 40 v.H.
für gerechtfertigt, weil eine Summation der Einzel-MdE-Bewertungen nicht zulässig sei und sich die psychiatrische
und die urologische Einschätzung überlappe. Mit Bescheid vom 11.09.2000 gewährte die Beklagte ab 11.08.1999
Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 40 v.H. Sie stützte sich dabei auf die vorgenannten
Gutachten und Stellungnahmen. Als Unfallfolgen erkannte sie - soweit dies für den zu entscheidenden Rechtsstreit
von Belang ist - eine geringgradige Bewegungseinschränkung der LWS mit Muskelhartspann und subjektiven
Beschwerden nach operativ mit Höhenminderung und Verformung sowie leichter Einengung des Duralsackes
verblocktem LWK-5-Bruch, eine erektile Dysfunktion und die damit in Verbindung stehenden psychischen
Beeinträchtigungen sowie eine reaktive depressive Verstimmung bei chronischem Schmerzsyndrom an.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 06.03. 2001) hat der Kläger beim Sozialgericht
Regensburg (SG) Klage erhoben und beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11.09.2000 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.03.2001 zu verurteilen, ihm ab 11.08.1999 Verletztenrente nach
einer MdE um 70 v.H. zu gewähren.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte mit Bescheid vom 06.09.2002 die Verletztenrente mit Wirkung zum
01.10.2002 auf 30 v.H. herabgesetzt, weil sich die Verhältnisse wesentlich gebessert hätten. So bestehe keine
wesentliche Funktionsbeeinträchtigung seitens der Wirbelsäule mehr; die reaktiv depressive Verstimmung, die zuvor
ein erhebliches Ausmaß gehabt habe, sei nur noch mäßiggradig. Sie hat sich insoweit auf die Feststellungen der vom
SG, zur Frage wie hoch die unfallbedingte MdE ab dem 11.08.1999 sei, gehörten Sachverständigen Dr. L. (Neurologe
und Psychiater) vom 12.03.2002, Dr. H. (Urologe) vom 30.10.2001 und Dr. H. (Orthopäde) vom 01.02.2002 gestützt.
Mit Urteil vom 10.01.2003 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, ein
Anspruch auf Rente nach einer MdE um mehr als 40 v.H. ab 11.08.1999 bzw. 30 v.H. ab 01.10.2002 sei nicht zu
begründen, denn die vom Unfall zurückgebliebenen Gesundheitsstörungen seien weitgehend zur Ausheilung
gekommen. Dem Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dres. O. und M. zu hören, habe das
Gericht nicht folgen müssen, da der Antrag nicht rechtzeitig gestellt worden sei.
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, ihm stehe Rente nach einer MdE um
mindestens 70 v.H. zu; zu Unrecht habe das SG seinen Anträgen nach § 109 SGG nicht entsprochen; er wiederhole
diese und beantrage, ein Gutachten des Orthopäden Dr. O. und des Psychiaters Dr. B. einzuholen.
Der Senat hat den Anträgen des Klägers stattgegeben. In seinem Gutachten vom 29.07.2003 hat Dr. O. ausgeführt,
beim Kläger sei eine Chronifizierung, wie sie bei bis zu 60 % der Patienten nach WS-Schädigungen zu beobachten
sei, eingetreten. Auf orthopädischem Gebiet seien die Unfallfolgen als entgleistes myofasciales Schmerzsyndrom
nach Spondylodese wegen eines Berstungsbruchs des LWK 5 zu bezeichnen. Im Übrigen stimme er den
Einschätzungen des Urologen Prof. Dr. W. und des Psychiaters Dr. K. zu. Da der Kläger seit seinem Unfall vom
12.05.1997 nie mehr in der Lage gewesen sei, irgendeiner Erwerbstätigkeit nachzugehen, sei die MdE über den
11.08.1999 hinaus mit 100 % zu bewerten.
In seinem - ebenfalls auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG eingeholten - psychiatrischen Gutachten vom
28.04.2004 hat Dr. B. neben den von der Beklagten anerkannten Unfallfolgen eine allmählich abklingende
posttraumatische Belastungsstörung und ein chronisch-depressives Syndrom mittelschwerer bis schwerer
Ausprägung, das über eine so genannte reaktive depressive Verstimmung hinausgeht, in ursächlichem
Zusammenhang mit dem Unfall gesehen. Insoweit sei es im Laufe der letzten drei Jahre zu einer Verschlimmerung
gekommen, so dass jetzt aus psy- chiatrischer Sicht unter Einschluss der Schmerzsymptomatik ab Oktober 2003
eine Teil-MdE um 70 v.H. gerechtfertigt sei und davor ab August 2000 eine Teil-MdE um 50 v.H. Die Gesamt-MdE sei
unter Berücksichtigung einer gewissen Überlappung der verschiedenen Unfallfolgen ab den vorgenannten Zeitpunkten
mit 100 v.H. bzw. mit 80 v.H. zu bewerten. Auf keinen Fall sei es, wie von der Beklagten angenommen, zu einer
Besserung gekommen.
In ihrer Stellungnahme vom 17.09.2003 hat die Beklagte ausgeführt, sie interpretiere das Gutachten des Dr. O. so,
dass ein Schmerzsyndrom Unfallfolge sei. Ein chronisches Schmerzsyndrom sei aber bereits anerkannt und als
"reaktive depressive Verstimmung bei chronischem Schmerzsyndrom" bezeichnet worden. Nach den Gutachten der
Dres. K. und L. sei die MdE hierfür nur mit 20 v.H. bzw. mit 10 v.H. zu bewerten. Wenn Dr. O. als Orthopäde das
Schmerzsyndrom mit einer MdE um 100 v.H. einstufe, so sei dies in keinster Weise nachzuvollziehen. Auch der
Beurteilung des Dr. B. könne sie nicht folgen. Eine reaktive Depression sei anerkannt; die von Dr. B. erhobenen
Befunde rechtfertigten in keiner Weise eine MdE um 80 bzw. um 100 v.H.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 10.01.2003 und
des Bescheides vom 06.09.2002 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 11.09.2000 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 06.03.2001 zu verurteilen, ihm ab 11.08.1999 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom
12.05.1997 Verletztenrente nach einer MdE um 100 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.01.2003
zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs.2 SGG auf den Inhalt der Akten der Beklagten
(Az.97/1/11008/60) sowie der Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und zum Teil begründet.
Sie ist insoweit begründet, als der Kläger wegen der im Bescheid vom 11.09.2000 als Folgen seines Arbeitsunfalls
vom 12.05.1997 anerkannten Gesundheitsstörungen ab dem 11.08.1999 Anspruch auf Verletztenrente nach einer
MdE um 50 v.H. und ab 01.12.2003 nach einer MdE um 60 v.H. hat. Insoweit waren der - schon Gegenstand des
Klageverfahrens (§ 96 SGG) gewordene - Bescheid vom 06.09.2002 aufzuheben und das Urteil des SG vom
10.01.2003 sowie der Bescheid vom 11.09.2000 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 06.03.2001
abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 11.08.1999 Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H.
und ab 01.12.2003 nach einer MdE um 60 v.H. zu gewähren; im Übrigen - soweit der Kläger Rente nach einer MdE um
100 v.H. begehrt - war die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hat gemäß § 56 Abs.1 Satz 1, Abs.2 und 3 des Siebten Sozialgesetzbuchs (SGB VII) ab dem 11.08.1999
Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte, deren
Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um
wenigsten 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der
Beeinträchtigung des körperlich und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeit auf
dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit wird eine Teilrente geleistet, die
sich nach dem Vomhundertsatz der Vollrente bemisst, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht.
Die von der Beklagten im Bescheid vom 11.09.2000 anerkannten Gesundheitsstörungen, nämlich die Folgen des
operativ behandelten LWK-5-Bruchs, der damit verbundene Schmerzzustand mit nachfolgender reaktiver Depression
sowie die psychischen Störungen infolge der erektilen Dysfunktion mindern die Erwerbsfähigkeit des Klägers ab dem
11.08.1999 um 50 v.H. Dies entnimmt der Senat den im Verwaltungsverfahren - von ihm im Urkundenbeweis zu
verwertenden - Gutachten der Profes. Dres. W. und W. und des Dr. K. sowie den gerichtlichen Gutachten in erster und
zweiter Instanz der Dres. L. , H. und B ... Prof. Dr. W. schätzte die auf unfallchirurgischem Gebiet zu beurteilende
MdE dauerhaft auf 20 v.H. ein. Dabei berücksichtigte er, dass beim Kläger ein Muskelhartspann im unteren BWS- und
gesamten LWS-Bereich bestand und Funktionen wie das Hinsetzen und Wiederaufstehen verlangsamt bzw. nur unter
Schmerzen möglich waren. Er hielt dem Kläger nur noch leichte Wechseltätigkeit im Sitzen und Stehen für zumutbar.
Die vom Sachverständigen hierfür angesetzte MdE von 20 v.H. steht im Einklang mit den in der Rentenliteratur
üblichen Sätzen. Nach Schönberger-Mehrtens-Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S.536) ist ein
instabiler WK-Bruch mit Bandscheibenbeteiligung oder statisch wirksamem Achsenknick mit einer MdE um 20 v.H. zu
bewerten. Da beim Kläger die Wirbelsäulenfraktur unter Höhenminderung und Verformung sowie Vortreibung der
Hinterkante des 5. LWK bei leichter Einengung des Duralsackes und der rechten Wurzel ausheilte, kann eine
geringere MdE als um 20 v.H. insoweit nicht in Betracht kommen.
Dass beim Kläger darüber hinaus eine reaktiv depressive Verstimmung bei chronischem Schmerzsyndrom ursächlich
auf den Unfall zurückzuführen ist, erkannte die Beklagte bereits im streitgegenständlichen Bescheid vom 11.09.2000
an. Streitig ist lediglich das Ausmaß und Fortbestehen dieses chronischen Schmerzsyndroms. Dr. K. bewertete diese
Gesundheitsstörung mit einer MdE um 20 v.H. Dieser Einschätzung tritt der Senat bei. Der Sachverständige
berücksichtigte dabei, dass sich der Kläger einer kontinuierlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen
Behandlung unterziehen musste und sich seine Lebensumstände wegen der ständigen Schmerzen nachhaltig
änderten. Für den Senat ist es gut nachvollziehbar, dass sich die Lebenssituation des Klägers gerade infolge des
Schmerzsyndroms veränderte. Hier muss berücksichtigt werden, dass es dem Kläger trotz seiner von frühester
Kindheit an ungünstigen Lebens- und Entwicklungsumstände gelungen war, sich eine gute berufliche Position zu
verschaffen. Dies war ihm nicht zuletzt deshalb gelungen, weil er die ihm abverlangte körperlich schwere Arbeit sehr
gut bewältigte. Wegen seiner nach dem Unfall körperlich eingeschränkten Einsatzfähigkeit musste er den Verlust
seines Arbeitsplatzes, das Fehlschlagen der beruflichen Fördermaßnahme und zuletzt auch das Scheitern eines
Arbeitsversuchs hinnehmen. Diese frustrierenden Erlebnisse führten, wie Dr. K. dies ausdrückte, zu einer negativen
Änderung seiner Lebensumstände, die in eine ausgeprägte Depression einmündete. Der Grad der MdE wird bei
psychogenen Störungen maßgeblich davon bestimmt, welche Überwindung bzw. welchen Energieaufwand der
Betroffene aufbringen muss, um trotz psychischer Beeinträchtigung weiter erwerbstätig zu sein. Daraus ergibt sich
dann ein größerer Beurteilungsspielraum als bei funktionellen Unfallfolgen (Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O.,
S.246). Das Verhalten des Klägers nach dem Unfall zeigt sehr deutlich, dass er daran interessiert war, wieder in das
Berufsleben zurückzufinden. Dass ihm dies nicht mehr gelang, ist wesentlich auf die zunächst reaktive Depression
zurückzuführen, die sich nach den frustrierenden Rückschlägen zu einem chronisch-depressiven Syndrom
mittelschwerer bis schwerer Ausprägung entwickelte und von Dr. B. als deutlich über eine so genannte reaktive
depressive Verstimmung hinausgehend qualifiziert wurde.
Der Senat hält hierfür ab dem 11.08.1999 eine Teil-MdE um 20 v.H. für angemessen und ab dem 01.12.2003 eine
MdE um 30 bis 40 v.H. Die Entscheidung der Frage in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert
ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs.1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem
Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 6, 267, 268). Die Bemessung des Grades der
unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen
Leistungsvermögens des Verletzten durch Unfallfolgen und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch
verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Dabei sind ärztliche
Meinungsäußerungen hinsichtlich der Bewertung der MdE eine wichtige Grundlage für die richterliche Schätzung des
Grades der MdE, vor allem, soweit sich diese darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen
Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG SozR 2200 § 581 Nrn.23 und 27). Darüber
hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen
und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten. Zwar sind
sie im Einzelfall nicht bindend, aber sie sind geeignet, die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der
MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis zu bilden (BSG a.a.O. und BSG vom 23.04.1987, 2 RU 42/86).
Die Einschätzung der MdE infolge des chronisch-depressiven Schmerzsyndroms mit 20 v.H. ab 11.08.1999 und 30
bis 40 v.H. ab 01.12.2003 liegt innerhalb der Grenzen, die das Schrifttum für eine stärkere Behinderung mit
wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorgibt. Der Rahmen der MdE bewegt sich
zwischen 20 und 40 v.H. (Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O., S.246). Eine wesentliche Änderung im Sinne einer
noch weiterreichenderen Einschränkung der Gestaltungsfähigkeit sieht der Senat nach dem ge- scheiterten, vom
behandelnden Psychiater Dr. P. veranlassten Arbeitsversuch im Oktober 2003. Damals hatte Dr. P. dem Kläger
empfohlen, seine Belastbarkeit zu testen und ca. zwei bis vier Stunden pro Tag leichtere Tätigkeiten, wie das
Ausfahren von Päckchen und Hantieren mit Gewürzmischungen vorzunehmen. Dieser Arbeitsversuch scheiterte nach
vier Monaten und endete damit, dass der Depressionswert im testpsychologischen Verfahren anstieg. Der Kläger
zeigte einen weiteren sozialen Rückzug, Antriebslosigkeit und zunehmende Schwierigkeiten im privaten Bereich.
Diese Feststellungen entnimmt der Senat dem Gutachten des Dr. B. , der die depressive Entwicklung detailliert
aufzeigt. Allerdings kann sich der Senat dessen MdE-Einschätzung nicht anschließen. Er hält allenfalls eine Teil-MdE
um 40 v.H. für befundangemessen, da die MdE nach der Rentenliteratur (Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O.,
S.247) erst bei schweren Störungen mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (z.B. nach schwerer
Zwangskrankheit) mit 50 bis 100 v.H. bewertet wird. Die von Dr. B. vorgeschlagene Teil-MdE um 50 v.H. seit dem
Jahr 2000 und 70 v.H. ab Oktober 2003 erscheint unangemessen. Den Nachweis, dass sich das chronisch depressive
Schmerzsyndrom verschlimmerte, sieht der Senat in den von Dr. B. aufgrund seiner Untersuchung des Klägers am
04.12.2003 erhobenen Befunden. Zwar ist davon auszugehen, dass sich die psychische Situation allmählich und
fortlaufend verschlechterte, jedoch kann, worauf der Sachverständige selbst hinweist, ein exakter Zeitpunkt davor
nicht genannt werden.
Von dem chronisch depressiven Schmerzsyndrom ist nach Meinung des Senats die als Unfallfolge anerkannte
erektile Dysfunktion nach Mesenterialriss und den damit verbundenen psychischen Störungen zu unterscheiden.
Dadurch wird zwar nicht die Leistungsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben betroffen, jedoch die Persönlichkeit im
Kernbereich (Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O., S.355). Dies kann mit seelischen Störungen einhergehen, die
das Selbstbewusstsein beeinträchtigen, Minderwertigkeitskomplexe und Depressionen hervorrufen und die
Lebensführung, den Kontakt mit der Umwelt und die Leistungen sowie den Erfolg im Berufsleben beeinflussen im
Sinne eines Motivationsdefizits und einer Kommunikationsangst. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung um
einen "typischen Geschehensablauf", der nach der Regel des Lebens ohne weitere Beweiserhebung als erwiesen
angesehen werden kann (Schönberger-Mehrtens-Valentin, a.a.O., S.355 m.w.N.). Nach den Grundsätzen des
Beweises des ersten Anscheins ziehen Störungen der Geschlechtsfunktionen psychische Beeinträchtungen im
vorgenannten Sinne nach sich. Der Beweis des ersten Anscheins wird entkräftet, wenn die Möglichkeit eines
atypischen Geschehensablaufs zur Überzeugung des Gerichts aufgezeigt wird. Seelische Begleiterscheinungen
dürfen nur dann verneint werden, wenn Umstände nachgewiesen werden, die in Frage stellen, dass der Versicherte in
typischer Weise mit psychischen Beeinträchtigungen auf den Verlust oder die Beeinträchtigung der
Geschlechtsfunktionen reagierte. Die bereits von Prof. Dr. W. und später von Dr. B. aufgezeigten psychischen
Beeinträchtungen des Klägers belegen, dass die erektile Dys- funktion bei ihm zu einer typischen psychischen
Leistungsbeeinträchtigung führte. Untermauert wird dies mit den zunehmenden Schwierigkeiten im familiären Umfeld
des Klägers. Der Senat hält infolge dessen die von Prof. Dr. W. bereits angesetzte Teil-MdE um 20 v.H. nach wie vor
für angemessen.
Danach ergibt sich bis zum 01.12.2003 jeweils eine Teil-MdE um 20 v.H. auf unfallchirurgischem, rein
psychiatrischem und urologisch-psychischem Gebiet. Dass eine Addition nicht in Frage kommt, weil sich die
Auswirkungen der verschiedenen Unfallfolgen teilweise überlappen, beachtete bereits Prof. Dr. W ... Der Senat hält
daher die von diesem Sachverständigen vorgeschlagene Gesamt-MdE um 50 v.H., bei der bereits ein Abzug von 10
v.H. von der Summe der Einzel-MdEs vorgenommen wurde, für befundangemessen. Die Bewertung der Gesamt-MdE
durch den Beratungsarzt der Beklagten Dr. E. ist hingegen für den Senat nicht nachvollziehbar. Dieser Arzt begründet
in keiner Weise, aus welchen Gründen seiner Meinung nach ein Abzug von 20 v.H. gerechtfertigt sein soll.
Ab dem 01.12.2003 schätzt der Senat in der ihm zustehenden freien Beweiswürdigung die Minderung der
Erwerbsfähigkeit des Klägers insgesamt mit 60 v.H. ein. Dieses Urteil basiert darauf, dass eine reine Addition der
Einzel-MdEs nicht in Betracht kommt und das chronisch depressive Schmerzsyndrom ab diesem Zeitpunkt ein
Ausmaß erreichte, das wesentlich mehr als 20 v.H. beträgt. Dementsprechend hält der Senat eine Anhebung der MdE
auf insgesamt 60 v.H. für zutreffend.
Daraus folgt, dass für eine Herabsetzung der MdE ab dem 01.10. 2002, wie sie die Beklagte im ebenfalls
angefochtenen Bescheid vom 06.09.2002 vornahm, kein Raum bleibt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang,
dass das Gutachten des Dr. H. , auf das die Beklagte im Wesentlichen ihre Entscheidung stützte, in keinem Fall
geeignet ist, eine wesentliche Besserung im Unfallfolgezustand zu beweisen. Denn Dr. H. führt aus, nur im ersten und
zweiten Unfalljahr würden die Unfallfolgen eine MdE um 20 v.H. und danach lediglich eine solche um 10 v.H. plausibel
machen. Die Schmerzangaben und Bewegungseinschränkungen des Klägers hält er für nicht nachvollziehbar bzw. für
demonstriert. Insoweit kann der Senat, wie bereits ausführlich dargelegt, nicht zustimmen. Im Übrigen ist darauf
hinzuweisen, dass die Meinung des Dr. H. , ihre Richtigkeit unterstellt, allenfalls für eine Berichtigung nach § 45 des
Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X), nicht aber für eine Neufeststellung nach § 48 SGB X herangezogen werden
könnte.
Damit steht für den Senat fest, dass ein Grund zur Herabsetzung der MdE nicht vorlag und die Unfallfolgen die
Erwerbsfähigkeit des Klägers ab dem 11.08.1999 insgesamt um 50 v.H. und ab dem 01.12.2003 insgesamt um 60
v.H. mindern. Insoweit war die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Urteils des SG vom 10.01. 2003 und des
Bescheides vom 11.09.2000 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 06.09.2002 zu verurteilen, dem Kläger
entsprechende Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H. bzw. 60 v.H. zu gewähren. Im Übrigen, soweit der Kläger
beantragt, ihm Verletztenrente nach einer MdE um 100 v.H. zu gewähren, sind die vorliegenden Gutachten nicht
geeignet, wie bereits ausgeführt, einen solchen Anspruch zu rechtfertigen. Die Berufung des Klägers war insoweit, als
der Kläger Rente nach einer MdE um 100 v.H. ab 11.08.1999 beantragte, zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; die Kosten waren entsprechend des teilweisen Obsiegens
aufzuteilen.
Für die Zulassung der Revision bestand kein Grund (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).