Urteil des LSG Bayern vom 16.10.2007

LSG Bayern: unfallfolgen, erwerbsfähigkeit, wechsel, fraktur, kernspintomographie, minderung, glaubwürdigkeit, krankheitswert, berufsunfähigkeit, hauptsache

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.10.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 3 RJ 441/03
Bayerisches Landessozialgericht L 6 R 654/04
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 17. Mai 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist Erwerbsminderungsrente.
Die Klägerin ist 1951 geboren. Sie hat von 1969 bis 1971 den Beruf der Drogistin erlernt, später aber nicht mehr
ausgeübt. Sie war seit 1987 als Näherin, Verkäuferin, Montiererin, Sprechstundenhilfe und zuletzt als Kassekraft in
einem Fastfood-Betrieb beschäftigt, wobei sie dort alle anfallenden Tätigkeiten verrichtet hat.
Am 28.11.2001 erlitt die Klägerin am Arbeitsplatz eine Fußverletzung, als ihr ein Arbeitskollege offenbar unvermittelt
einen Tritt gegen das linke Knie versetzte. Seit diesem Zeitpunkt war die Klägerin nicht mehr erwerbstätig.
Ihr Rentenantrag datiert vom 19.02.2003. Auf Grund eines chirurgischen Gutachtens Dr.S. vom 21./27.03.2003 lehnte
die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 03.04.2003 aus medizinischen Gründen ab. Die Klägerin könne noch mehr
als sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein. Ihre Erwerbsfähigkeit werde im Wesentlichen
beeinträchtigt durch - Schmerzsyndrom des linken Fußes nach Bruch eines Fußwurzelknochens (10/01), - Senk-
/Knick-/Plattfuß beidseits und - Leichte Krampfaderbildung beider Beine.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2003 zurück: Die
Klägerin könne noch mehr als sechs Stunden täglich leichte Arbeiten verrichten und auch zu Fuß Wegstrecken von
600 m zurücklegen.
Hiergegen erhob die Klägerin am 28.07.2003 Klage zum Sozialgericht (SG) Regensburg.
Das SG holte ein chirurgisches Gutachten Dr.S. ein. Dieser stellte bei der Klägerin insbesondere eine
Funktionsbehinderung des linken Fußes nach Verletzung an der Fußwurzel und abgelaufener Sudeck-Erkrankung fest,
weiterhin Fehlhaltungen und Verbiegungen der Wirbelsäule bei Verschleißerscheinungen und teilweise schmerzhaften
Funktionsbehinderungen sowie Muskelreizerscheinungen. Dies ergebe sich aus der Szintigraphie vom Juni 2003; der
Morbus Sudeck sei damals abgeklungen gewesen. Die Klägerin könne noch leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen
mit qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich verrichten.
Mit Urteil vom 17.05.2004 wies das SG die Klage ab und stützte sich dabei auf die Feststellungen des gerichtlichen
Sachverständigen. Die Klägerin sei auch nicht berufsunfähig, da ihre letzte Tätigkeit als ungelernte bzw. allenfalls
kurzfristige angelernte Tätigkeit anzusehen sei und keinen Berufsschutz vermittle.
Mit ihrer Berufung vom 22.11.2004 wandte sich die Klägerin gegen das Gutachten Dr.S. und das darauf gestützte
Urteil.
Der Senat holte ein Gutachten des Orthopäden Dr.F. und der Nervenärztin Dr.S. ein. Dr.F. diagnostizierte in seinem
Gutachten vom 05./06.07.2005 bei der Klägerin im Wesentlichen degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, ein
Impingement-Syndrom der linken Schulter sowie degenerative Veränderungen am linken Fuß, insbesondere im
Bereich zwischen Mittelfuß und Keilbein. Dr.F. berichtet von einem teilweise erschwerten Untersuchungsgang
"Zehengang wird weder rechts noch links, der Einbeinstand rechts sehr kurz und links nicht ausgeführt. Die Hocke
wird fast nicht erreicht ... Die Klägerin äußert, dass sie eine Funktionsprüfung beispielsweise in Form einer
Verdrehung des Rumpfes nicht wünsche". Dr.F. hält eine abgelaufene Sudeck-Erkrankung auf Grund des
Szintigramms nicht für gesichert. Er geht von einer muskulotendinösen Verletzung des linken Fußes, nicht jedoch von
einer knöchernen Läsion aus. Bei der früheren Untersuchung durch Dr.S. seien noch mehr Funktionsprüfungen
möglich gewesen als heute. Damals wie heute bestehe keine Muskelminderung am linken Bein als etwaiges Zeichen
einer Schonung. Die Klägerin könne noch acht Stunden täglich leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten und dabei
auch viermal täglich Wegstrecken von mehr als 500 m zu Fuß zurücklegen. Die Gesamtbeurteilung bleibe dem
Gutachten Dr.S. vorbehalten.
Dr.S. bestätigt in ihrem Gutachten vom 05./29.07.2005 die Beurteilung von Dr.F ... Sie sieht "auf nervenärztlichem
Fachgebiet keine eigenständigen Gesundheitsstörungen". Es handle sich "offensichtlich um ein tendenziell geprägtes
nicht bewusstseinsfernes Fehlverhalten". Dr.S. sieht keine wesentliche Beeinträchtigung des Geh- und
Stehvermögens. Die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere Arbeiten acht Stunden täglich im gelegentlichen
Wechsel zwischen Sitzen und Stehen verrichten.
Die Klägerin schloss sich diesem Gutachten nicht an. Sie legte ein Gutachten aus dem Berufungsverfahren in der
Unfallstreitsache von Prof.Dr.S. vom 07.09.2005 vor. Dieser äußerte den Verdacht auf Impressionsfraktur des
Keilbeins und stellt weiterhin ein Knochenmarködem als Unfallfolgen fest. Obwohl auch er "zweifellos eine gewisse
Verdeutlichungstendenz" sah, da die Klägerin "auch das linke Knie und das linke Hüftgelenk nicht bewegt", bewertete
er die Unfallfolgen mit einer MdE von 20, eine höhere MdE sei nicht gerechtfertigt, "da die Funktionszeichen am
linken Bein nicht auf eine nahezu völlige Belastungsunfähigkeit hinweisen".
In seiner ergänzenden Stellungnahme hierzu vom 28.11.2005 verwies Dr.F. darauf, dass auch laut Prof.Dr.S. das
Geh- und Stehvermögen nicht höhergradig reduziert sei. Eine nennenswerte Muskelminderung sei nicht festgestellt
worden.
Die Klägerin regte einerseits ein neues Gutachten durch Prof. Dr.S. an und wies andererseits auf einen neuen Unfall
vom 18.03.2005 (Radiusfraktur rechts) hin. Laut vorgelegtem Attest der behandelnden Ärztin Dr.H. ist die
"Belastbarkeit des Fußes, der Wirbelsäule und der rechten Hand hochgradig vermindert".
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21.04.2006 führte Dr.F. aus, dass "objektiv gesehen ( ...) die Belastbarkeit
des linken Fußes und der Wirbelsäule mit Sicherheit nicht hochgradig eingeschränkt" sei, und verwies hierzu auf
fehlende Muskelminderungen. Was die nach seinem Gutachten erlittene Radiusfraktur anbelangt, so schloss er sich
Dr.H. an, die keine Hinweise auf irgendwelche Funktionsstörungen gebe.
Der Senat holte daraufhin ein weiteres orthopädisches Gutachten bei Prof.Dr.G. ein. Dieser bestätigte in seinem
Gutachten vom 16.11.2006/29.05.2007 im Wesentlichen die Leistungsbeurteilung der Vorgutachten: leichte Arbeiten
überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Gehen und Stehen, ohne hohen Leistungsdruck (Akkord) mindestens
sechs Stunden täglich. Die Distorsion der distalen Fußwurzelreihe links sei folgenlos ausgeheilt, die distale
Radiusfraktur rechts in Fehlstellung verheilt mit beginnenden posttraumatischen degenerativen Veränderungen.
Weiterhin stellte der Sachverständige geringe bis mäßige degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, der beiden
Schultereckgelenke sowie des Großzehengrundgelenkes links fest.
Im Vordergrund stünden nach wie vor massive Beschwerden der Klägerin im Bereich des linken Fußes und
Sprunggelenkes. Die Linksführung der Gehstütze unter Schonhaltung des linken Fuß- und Sprunggelenks führe zu
einem deutlich unphysiologischen und hinkenden Gangbild. Eine eingehende Beurteilung der linken unteren Extremität
sei auf Grund der Weigerung der Klägerin, sich untersuchen zu lasse, nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen.
Bei der passiven Untersuchung des linken oberen Sprunggelenks (Ablenkung der Klägerin) habe eine kontrakte
Gelenkssituation ausgeschlossen werden können. Die Klägerin führe die Schonung des linken Fuß- und
Sprunggelenks beim Gehen aktiv herbei. Die Schonung sei jedoch nur gering, was sich aus dem Fehlen einer
Muskelminderung ergebe, ebenso wie aus der normalen Beschwielung der Fußsohle. An zweiter Rangstelle nannte
Prof.G. die durchaus glaubhaften Beschwerden am Handgelenk. Nach der Radiusfraktur hätten sich radiologisch
geringe posttraumatisch degenerative Veränderungen gezeigt sowie eine Minderung des Knochenkalkgehalts im Sinne
einer Inaktivitätsosteopenie.
Die Klägerin vertrat die Auffassung, das Gutachten sei zu korrigieren bzw. zu ergänzen. Wiederum fehle die
Feststellung der von Prof.S. erhobenen Impressionsfraktur, was sich auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der
Klägerin auswirke. Im Gegensatz zur Darstellung von Prof.G. habe die Klägerin nie eine Untersuchung verweigert:
"Sie tat dies nur dann, wenn ihr dies wegen Schmerzen nicht zuzumuten war". Wiederum regte die Klägerin eine
ergänzende Untersuchung durch Prof.S. an.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.09.2007 verwies Prof.G. darauf, dass im Unterschied zu Prof.S. der
Radiologe Dr.K. auf Grund der von ihm im März 2002 durchgeführten Kernspintomographie selbst gefolgert habe,
Anhaltspunkte für eine Fraktur ergäben sich nicht. Weiterhin hätten alle Vorgutachter, auch Prof.Dr.S. , die
Untersuchungen als erschwert bezeichnet, zum Beispiel deshalb, da die Klägerin Untersuchungen "erhebliche
muskuläre Widerstände" entgegensetze.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 17.05.2004 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 03.04.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.06.2003 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung
von Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.03.2003 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten und des SG sowie die
Berufungsakte hingewiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet, weil die Klägerin nicht erwerbsgemindert im Sinne von § 43 SGB VI ist.
Insbesondere ist die Streitsache nach umfassender und wiederholter Begutachtung auf orthopädischem Gebiet wie
auch auf nervenärztlichem Gebiet ausreichend abgeklärt. Sämtliche im Berufungsverfahren gehörten
Sachverständigen bestätigen die Auffassung der Beklagten und des SG auf Grund der dort durchgeführten
Begutachtung.
Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist lediglich auf orthopädischem Gebiet eingeschränkt. Psychische
Gesundheitsstörungen bestehen nicht, wie die Sachverständige Dr.S. überzeugend festgestellt hat. Von Bedeutung
sind jedoch die von ihr gesehenen bewusstseinsnahen Verdeutlichungstendenzen, die keinen Krankheitswert haben,
zugleich aber die Bewertung der orthopädischen Gesundheitsstörungen beeinflussen, wie dies praktisch sämtliche
orthopädischen Sachverständigen festgestellt haben.
Im Vordergrund stehen bei der Klägerin Unfallfolgen, wobei hier wiederum die Fußverletzung aus dem Jahr 2001 das
größte Gewicht hat. Der Senat geht mit den meisten Gutachtern und dem unfallnah untersuchenden Radiologen davon
aus, dass es sich hierbei um eine Weichteilverletzung gehandelt hat mit nachfolgender Heilungskomplikation in
Gestalt eines Morbus Sudeck sowie eines fortbestehenden Knochenmarködems. Demgegenüber geht der
Unfallgutachter von einer Impressionsfraktur des Keilbeins aus. Dies kann letztlich offen bleiben, da es vorliegend in
erster Linie auf das klinische Bild seit der Antragstellung im Jahr 2003 ankommt. Nach den Beurteilungen sämtlicher
Gutachter steht es für den Senat fest, dass die Funktion des linken Beines nicht in rentenberechtigendem Ausmaß
beeinträchtigt wird: die Beurteilung durch Prof.S. weicht hiervon nur in Nuancen ab.
Nach den orthopädischen bzw. chirurgischen Gutachten im Verwaltungsverfahren, im SG-Verfahren aber auch nach
der Auffassung der gerichtlichen Sachverständigen Dr.F. und Prof. Dr.G. sowie Dr.S. ist das Geh- und Stehvermögen
der Klägerin - trotz Krückengebrauchs - nicht wesentlich beeinträchtigt. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass
die linke untere Extremität von der Klägerin nicht erheblich geschont wird. Andernfalls müsste sich am linken Bein der
Klägerin eine deutliche Muskelverschmächtigung zeigen. Die Sachverständigen haben aber im Wesentlichen gleiche
Umfangmaße links und rechts gemessen. Dies gilt im Übrigen auch für den Unfallsachverständigen Prof. S ... Auch
letzterer hat Verdeutlichungstendenzen festgestellt. Er sieht zwar durchaus eine Minderbelastbarkeit des linken
Beines, jedoch nicht in dem von der Klägerin dargestellten Ausmaß. Seine Beurteilung mit einer MdE von 20 lässt
sich problemlos mit einer leichten Vollschichtstätigkeit überwiegend im Sitzen vereinbaren.
Gleiches gilt auch für die Einschränkung des rechten Handgelenks. Als Folge der Fraktur ist eine Fehlstellung
verblieben. Nennenswerte qualitative Einschränkungen werden von Prof.G. diesbezüglich aber nicht formuliert,
geschweige denn im Hinblick auf die zumutbare Arbeitszeit. Auch darin folgt ihm der Senat. Schließlich ergeben sich
auch von der Seite der Wirbelsäule keine gravierenden zusätzlichen Leistungseinschränkungen. Insgesamt ist die
Klägerin nach wie vor mehr als sechs Stunden täglich belastbar für zumindest leichte körperliche Arbeiten
überwiegend im Sitzen oder im Wechsel der Körperhaltungen.
Mit diesem Leistungsvermögen ist sie weder ganz noch teilweise erwerbsgemindert und hat daher keinen
entsprechenden Rentenanspruch. Dies gilt auch unter dem Gesichtspunkt der Berufsunfähigkeit, da die Klägerin nach
ihrem beruflichen Werdegang keinen qualifizierten Berufsschutz erworben hat. Die Berufung musste daher in der
Hauptsache ohne Erfolg bleiben.
Dem entspricht auch die Kostenentscheidung (§§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG liegen nicht vor.