Urteil des LSG Bayern vom 20.02.2004
LSG Bayern: innere medizin, kontrolle, krankengymnastik, aufwand, ernährung, körperpflege, pflegebedürftigkeit, nahrungsaufnahme, anfang, rücknahme
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 20.02.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 10 P 117/00
Bayerisches Landessozialgericht L 7 P 66/01
Bundessozialgericht B 3 P 12/04 B
I. Unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 09. Oktober 2001 wird der Bescheid der Beklagten
vom 14. Februar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 2000 vollständig aufgehoben.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. III. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01.03.2001 streitig.
Die 1991 geborene Klägerin leidet an Mukoviszidose. Auf ihren Antrag hin vom 10.02.1995 wurde sie am 07.04.1995
von der Ärztin für Innere Medizin Z. des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Bayern (MDK) untersucht.
Diese stellte in ihrem Gutachten vom 24.04.1995 sowohl im Bereich der Körperpflege, der Ernährung als auch der
Mobilität jeweils einen altersentsprechenden Hilfebedarf fest. Bezüglich der hauswirtschaftlichen Versorgung stellte
sie einen Mehraufwand von 60 Minuten täglich fest. Weiterhin vertrat sie die Auffassung, dass die Atemgymnastik
und Vibrationsmassage zeitlich täglich mit ca. 60 bis 90 Minuten in Ansatz zu bringen sei. Bezüglich der zweimal
täglich erforderlichen Inhalation sei lediglich eine Aufforderung und gewisse Kontrolle, jedoch keine aktive Pflege
durch die Mutter der Klägerin erforderlich. Das Reinigen des Inhaliergerätes und der Atemmaske bewertete sie mit
einem Zeitaufwand von ca. 20 bis 30 Minuten täglich. Die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien gegeben.
Dementsprechend bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 23.05.1995 Pflegegeld nach Pflegestufe I.
Den dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Pflegestufe II begehrt wurde, wies die Beklagte nach Einholung
eines weiteren Gutachtens des MDK vom 20.11.1995 mit Widerspruchsbescheid vom 29.02.1996 als unbegründet
zurück.
Am 26.10.1999 leitete die Beklagte ein Nachprüfungsverfahren ein und holte dazu ein weiteres Gutachten des MDK
ein. Im Gutachten vom 20.01.2000 wurde festgestellt, dass anstelle der damaligen Vibrationsmassagen nunmehr eine
sekretolytische Krankengymnastik unter Anleitung der Mutter der Klägerin durchgeführt werde. Im Bereich der
Ernährung sei im Vergleich zu einem gesunden Kind ein erhöhter Hilfebedarf anzuerkennen. Bei allen übrigen
Verrichtungen des täglichen Lebens bestehe kein erhöhter Hilfebedarf. Der ermittelte Pflegeumfang von täglich 9
Minuten (nach Abzug des Zeitbedarfs für ein gesundes Kind) und der berücksichtigungsfähige Zeitaufwand für die
sekretolytische Gymnastik (einmal täglich 20 Minuten, am Wochenende zweimal täglich) ergebe einen
pflegerelevanten Mehraufwand von 35 Minuten täglich und dieser würde somit nicht die Zuordnung zu einer
Pflegestufe rechtfertigen. Nach erfolgter Anhörung stellte die Beklagte mit Bescheid vom 14.02.2000 die
Pflegeleistung zum 29.02.2000 ein.
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies sie nach Einholung eines weiteren MDK-Gutachtens vom 03.05.2000 mit
Widerspruchsbescheid vom 15.11.2000 als unbegründet zurück.
Zur Begründung ihrer dagegen zum Sozialgericht (SG) Augsburg erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen
ausgeführt, unabhängig von den unzureichenden Gutachten, die teilweise lückenhaft seien, lägen die rechtlichen
Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht vor.
Mit Urteil vom 09.10.2001 hat das SG die Beklagte verurteilt, Leistungen nach Pflegestufe I für Zeit von März 2000
bis Februar 2001 zu bewilligen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Über den zuerkannten Zeitpunkt hinaus läge
schon wegen des fortschreitenden Lebenssalters der Klägerin eine Sachverhaltsänderung vor, was aus § 15 Abs.2
Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu folgern sei.
Mit ihrer Berufung begehrt die Klägerin Leistungen über den 28.02.2001 hinaus. Das Urteil des SG sei in sachlicher
und rechtlicher Hinsicht fehlerhaft, da es zum einen die von ihr vorgetragenen Tatsachen teilweise ignoriere und zum
anderen die neue Rechtsprechung entweder falsch auslege oder nicht anwende. Nicht zutreffend seien die
Ausführungen, "dass eine Sachverhaltsänderung im Sinne von § 48 SGB X bereits in einem fortschreitenden
Lebensalter der kindlichen Klägerin zu sehen sei". Dass dies bereits aus § 15 Abs.2 SGB XI zu folgern sei, sei keine
zutreffende Darstellung, da diese Vorschrift nur hervorhebe, dass es hier um den anerkennenswerten
Pflegemehraufwand gegenüber einem gesunden Kind gehe und im Übrigen nach dieser Interpretation theoretisch
täglich ein begünstigender Verwaltungsakt wieder aufgehoben werden könnte, weil die Begünstigten ja täglich älter
würden. Damit hätte § 48 SGB X seine Schutzfunktion völlig verloren. Die Ausführungen des Gerichts zu § 48 SGB X
seien nicht nachvollziehbar. Insgesamt sei der Pflegeaufwand über die Jahre gleichgeblieben, nur die Art der
Durchführung ändere sich je nach Fall und Altersstufe.
Das Gericht erhob Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Frau Dr.S. vom 22.07.2002. Diese
kam zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass in der Grundpflege ein Gesamthilfebedarf von 38 Minuten
festzustellen sei, der nach Abzug des Hilfebedarfs für ein gesundes, gleichaltriges Kind von 5 Minuten einen
krankheitsbedingten Mehrbedarf von 33 Minuten ergebe. Aufgrund von Einwendungen der Klägerin gegen das
Gutachtensergebnis holte das Gericht eine ergänzende Stellungnahme von Frau Dr.S. ein. In dieser Stellungnahme
vom 07.03.2003 sah die Sachverständige eine Änderung ihres Gutachtens als nicht veranlasst an.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 09.10.2001 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 14.02.2000
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2000 vollständig aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Es werde verkannt, dass bereits im Jahr 1995 die Zuerkennung des Pflegegeldes der Pflegestufe I nicht allein wegen
atemtherapeutischer Maßnahmen erfolgt sei. Im Gutachten vom 20.11.1995 sei vielmehr ausdrücklich aufgeführt
worden, dass bei der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Körperpflege ein über den
altersentsprechenden Aufwand hinausgehender Mehraufwand beim Waschen durch Salzabsonderung und
Transpiration bestanden habe. Ebenso sei im damaligen Gutachten ein vermehrter Aufwand bei der Darm- und
Blasenentleerung bei Diarrhoe festgestellt worden. Im Hinblick auf die Nahrungsaufnahme sei eine entsprechende
Kontrolle bei Nahrungsverweigerung mit der bestehenden Pflegebedürftigkeit anerkannt worden. Ein vermehrter
Aufwand durch viermal tägliches Umziehen sei im Rahmen der Mobilität zu berücksichtigen gewesen. Daneben habe
zum damaligen Zeitpunkt ein nicht unerheblicher Mehraufwand im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung
bestanden. Dem MDK-Gutachten aus dem Jahr 1995 sei ferner zu entnehmen, dass Atemgymnastik sowie eine 60-
bis 90-minütige Vibrationsmassage stattfinde. Bei der Inhalation sei die Mithilfe der Mutter (20 bis 30 Minuten täglich)
für erforderlich vermerkt worden. Diesbezüglich sei zu beachten, dass bei voller Berücksichtigung sowohl der
Vibrationsmassage wie auch der Inhalation neben den sonst zum damaligen Zeitpunkt erforderlichen Leistungen
Pflegestufe II - nicht I - zu gewähren gewesen wäre. Der MDK habe im genanten Gutachten jedoch ausdrücklich
klargestellt, dass mit Ausnahme des Abklopfens (Vibrationsmassage) zur Sekretlösung bzw. dessen Abhusten
therapie- bzw. pflegeunterstützende Maßnahmen nicht nach dem im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes
gültigen Begutachtungsrichtlinien berücksichtigungsfähig seien. Insofern möge vielleicht eine fehlerhafte
Berücksichtigung der Vibrationsmassage stattgefunden haben, die jedoch im Jahr 1996 eingestellt worden sei. Die
Inhalation sei bei der Bemessung der Pflegestufe nicht zur Entscheidung mit herangezogen worden, so dass insofern
der Ursprungsbescheid nicht falsch und die Bewilligung insoweit auch nicht rechtswidrig gewesen sei. Im MDK-
Gutachten vom 20.01.2000 sei schließlich die altersentsprechende Verselbständigung der Klägerin eindeutig
festgestellt worden. Anstelle der Vibrationsmassagen werde seit 1996 eine sekretolytische Krankengymnastik unter
Anleitung der Mutter durchgeführt. Im gerichtlichen Gutachten vom 06.01.2002 sei diesbezüglich festgestellt worden,
dass zum 01.03.2000 bei der Klägerin ein Gesamthilfebedarf in der Grundpflege von 51 Minuten erforderlich gewesen
sei, von dem jedoch ein Abzug von 15 Minuten für ein gleichaltriges Kind vorzunehmen sei, so dass sich ein allein
krankheitsbedingter Mehrbedarf von 36 Minuten errechnet habe. Spätestens ab 01.03.2000 seien dementsprechend
die Voraussetzungen für Leistungen der Pflegestufe I nicht mehr gegeben.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der
Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein
Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.
In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als begründet. Das Urteil des SG Augsburg vom 09.10.2001 ist insoweit
nicht rechtmäßig, als es die Bewilligung von Leistungen nach Pflegestufe I ab 01.03.2001 aufhebt. Demgemäß waren
die zugrundeliegenden Bescheide der Beklagten vom 14.02.2000 und 15.11.2000 vollständig aufzuheben.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des
Bescheides vom 23.05.1995, mit dem Pflegegeld nach Stufe I bewilligt wurde, vorgelegen haben, keine wesentliche
Änderung eingetreten, weshalb dieser Bescheid nicht gemäß § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft
aufgehoben werden kann. Denn es kann nicht mehr festgestellt werden, ob zum Zeitpunkt der Bewilligung von
Pflegegeld nach Pflegestufe I (Bescheid vom 23.05.1995) dessen Voraussetzungen vorgelegen haben. Dies konnte
die Beklagte nicht nachweisen. Denn in dem maßgeblichen Gutachten vom 24.04.1995 ist bezüglich der Körperpflege
festgehalten, dass hier lediglich ein altersentsprechender Hilfebedarf besteht. Ohne nähere Zeitangaben wurde im
Bereich der Ernährung bei der Nahrungsaufnahme lediglich deren Kontrolle festgestellt. Im Bereich der Mobilität wurde
ebenfalls insgesamt ein altersentsprechender Hilfebedarf festgestellt. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung
wurde ein Mehraufwand von 60 Minuten festgehalten. Bezüglich des Wechselns/Waschens der Wäsche/Kleidung
wurde ebenfalls ein altersentsprechender Hilfebedarf attestiert. Was die zweimal täglich erforderliche Inhalation
anbelangt, so ist im Gutachten lediglich ausgeführt, dass dafür keine aktive Pflege durch die Mutter erforderlich war,
sondern lediglich eine "Hilfestellung" im Sinne einer Aufforderung und gewissen Kontrolle. Dies gilt auch für den
Bereich der Medikamentenzuteilung, wo lediglich die Einnahme überwacht werden musste. Auch diesbezüglich ist im
Gutachten festgehalten, dass in diesem Bereich ein weitgehend altersentsprechender Hilfebedarf vorlag. Was die
angenommenen Hilfen bei der Sekretelimination anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht hätten
anerkannt werden dürfen, da sie von Anfang an mit dem Gesetz nicht in Einklang standen. Denn diese Maßnahmen
können grundsätzlich nicht den in § 14 Abs.4 SGB XI aufgezählten Verrichtungen zugeordnet werden. Etwas anderes
gilt ausnahmsweise nur dann, wenn diese Maßnahmen wie das Abklopfen aus medizinisch-pflegerischen Gründen
stets in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer Verrichtung aus dem Katalog des § 14 Abs.4 SGB XI
durchgeführt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 29.04.1999, B 3 P 12/98 R; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr.11). Im
vorliegenden Fall fehlt jedoch ein Anhaltspunkt dafür, dass bei der Klägerin die Maßnahmen zur Reinigung und
Freihaltung der Atemwege nur in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Verrichtung im Sinne des § 14 Abs.4 SGB
XI, etwa dem morgendlichen Aufstehen, zwingend durchgeführt werden mussten. Aus dem Gutachten der Ärztin für
Innere Medizin Z. vom 24.04.1995 ergibt sich, dass ausschließlich im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung
ein erhöhter Hilfebedarf vorlag, so unter anderem ein zeitlicher Mehraufwand für die Nahrungszubereitung von maximal
60 Minuten pro Tag. Aus der Definition der Pflegestufen in § 15 Abs.1 SGB XI ergibt sich aber, dass ein Hilfebedarf
im hauswirtschaftlichen Versorgungsbereich allein Pflegebedürftigkeit nicht begründen kann. Ein Hilfebedarf in diesem
Bereich, der zusätzlich zu Hilfen im Bereich der Grundversorgung besteht, wird dagegen bei allen Pflegestufen
vorausgesetzt. Insgesamt ist nicht nachgewiesen, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen nach
Pflegestufe I gem. § 15 Abs.1 Satz 1 Nr.1 i.V.m. Abs.3 Nr. SGB XI gegeben waren.
Es kann dahinstehen, ob eine Änderung insoweit eingetreten ist, als die Klägerin zwischenzeitlich die
Vibrationsmassage durch "sekretolytische Krankengymnastik" der Mutter ersetzt hat. Denn eine Aufhebung nach § 48
SGB X ist nur im Falle einer nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen zu
berücksichtigen, auf denen die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht beruht (BSG, Urteil vom
11.04.2002, B 3 P 8/01 R). Letzteres ist hier aber nicht nachgewiesen. Ansonsten käme nur die Möglichkeit der
Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X in Betracht, nämlich die Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen
Verwaltungsaktes. Ein solcher kann aber nach § 45 Abs.3 Satz 1 SGB X nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach
seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, da die Voraussetzungen des § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X hier nicht
vorliegen. Zudem kann ein auf § 48 SGB X gestützter Bescheid nicht in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X
umgedeutet werden, da die Rücknahme nach § 45 SGB X die Ausübung von Ermessen voraussetzt und keine
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Fall der Ermessensreduzierung auf null vorliegt (BSG a.a.O).
Somit waren das Urteil des SG Augsburg vom 09.10.2001 abzuändern und der Bescheid der Beklagten vom
14.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2000 aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.