Urteil des LSG Bayern vom 21.02.2001
LSG Bayern: psychische störung, erwerbsunfähigkeit, psychiatrie, rente, form, adipositas, subjektiv, hypertonie, chefarzt, leistungsfähigkeit
Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.02.2001 (rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 3 RJ 427/98
Bayerisches Landessozialgericht L 16 RJ 589/99
I. Das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 21. Oktober 1999 wird aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid
der Beklagten vom 23. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 1998 abgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitgegenstand ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 01.08.1997 bis 31.07.2000.
Die am ...1959 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt ab 1990 als Raumpflegerin
versicherungspflichtig beschäftigt. Aus einem Heilverfahren in einer psychosomatischen Fachklinik ist sie im
September 1996 mit untervollschichtigem Leistungsvermögen entlassen worden. Wegen Verlusts beider Eierstöcke,
depressivem Syndroms, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und Harninkontinenz beträgt der GdB nach dem
Schwerbehindertengesetz 30 v.H ... Die Beklagte gewährte ihr vom 14.09. 1994 bis 31.03.1997
Erwerbsunfähigkeitsrente. Der Weitergewährungsantrag wurde am 14.03.1997 aufgrund eines Gutachtens von Dr.K ...,
einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, abgelehnt, weil dieser in seinem Gutachten vom 06.03.1997 eine
Besserung und vollschichtiges Leistungsvermögen festgestellt hatte.
Am 27.08.1997 beantragte die Klägerin erneut Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Nach ambulanter
Untersuchung hielt die Fachärztin für Psychiatrie Dr.W ... in ihrem Gutachten vom 26.09.1997 leichte Tätigkeiten ohne
besonderen Zeitdruck, ohne Schichtdienst, ohne besondere Anforderungen an die seelische Belastbarkeit und
Verantwortung für vollschichtig zumutbar.
Im Widerspruchsverfahren gegen den rentenablehnenden Bescheid vom 23.10.1997 machte die Klägerin eine
Verschlimmerung der Unterleibsbeschwerden, Kopfschmerzen, Blasenbeschwerden, sozialmedizinischen
Stellungnahme wies die Beklagte den Widerspruch am 12.05.1998 zurück.
Mit ihrer Klage vom 04.06.1998 verfolgte die Klägerin ihren Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit weiter. Das
Sozialgericht veranlasste eine ambulante Untersuchung durch den Neurologen und Psychiater Dr.G ..., die eine
Besserung der Stimmungsstörung gegenüber 1996 ergab. Im Gutachten vom 31.07. 1998 heißt es weiter, die Klägerin
sei durch Adipositas, Hypertonie und verfestigte depressive Störung behindert, so dass 2 bis 4 Stunden täglich leichte
Tätigkeiten ohne Zeitdruck und Kälte zumutbar seien. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.11.1998
begründete er die quantitative Leistungsminderung mit dem Verweis auf den HV-Entlassungsbericht von 1996 und die
Gesamtheit der Erkrankungen.
Nach einem stationären Aufenthalt der Klägerin vom 07. bis 18.09.1998 diagnostizierte Dr.B ..., Chefarzt der
Psychiatrie Bezirkskrankenhaus Günzburg, eine leichte depressive Reaktion und Fieber unklarer Genese mit
abdominellen Schmerzen sowie Hypertonie. Seines Erachtens ist der Schwerpunkt der Gesundheitsstörungen auf
internistischem, nicht psychiatrischem Fachgebiet. Daraufhin wurde Dr.S ..., Chefarzt im Kreiskrankenhaus Ö ..., mit
einer internistischen Begutachtung beauftragt. Der Sachverständige sah eine Beeinträchtigung in der erheblichen
Fettsucht, Harninkontinenz, Hypertonie, Fettleber und unklaren Fieberschüben und bejahte eine zeitliche
Einschränkung des Leistungsvermögens auf sechs Stunden seit 23.10.1998, wenn die depressive Symptomatik mit
Somatisierungstendenz und Fettsucht nicht gebessert werden könne.
Demgegenüber wandte Dr.Sch ... von Beklagtenseite ein, mangels Atemnot bei geringen körperlichen Belastungen
und wegen der Beherrschbarkeit des Bluthochdrucks sei die Beurteilung Dr.G ... nicht überzeugend. Fieberschübe
seien nie objektiviert worden und die qualitativen und quantitativen Leistungseinschränkungen Dr.S ... seien nicht
nachvollziehbar. Im Auftrag des Gerichts erstellte Dr.G ... am 20.05.1999 ein weiteres Gutachten nach Aktenlage.
Darin schreibt er, die psychische Störung sei in erster Linie für die Einschränkung der zeitlichen Leistungsfähigkeit
verantwortlich. Dr.W ... hielt das Gutachten Dr.G ... wegen insuffizienter Eigenanamnese, Behandlungsanamnese und
Arbeitsanamnese für mangelhaft. Da der psychopathologische Befund dürftig sei, könne die zeitliche
Leistungseinschränkung nicht nachvollzogen werden; es liege keine schwere seelische Störung vor, kein
Leidensdruck und es werde keine Therapie durchgeführt. Das Sozialgericht Augsburg verurteilte die Beklagte am
21.10.1999 zur Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente vom 01.08.1997 bis 31.07.2000 wegen Erwerbsunfähigkeit
seit Abschluss des Reha- Verfahrens am 13.09.1994 und stützte sich dabei auf die Gutachten der Dres. Seiler und
Grondinger.
Gegen das am 29.10.1999 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 26.11.1999 unter Bezugnahme auf die
umfangreiche sozialmedizinische Stellungnahme im Klageverfahren Berufung ein. Im Auftrag des Senats erstellte die
Nervenärztin Dr.P ... am 24.10.2000 nach ambulanter Untersuchung ein Gutachten. Darin bejaht die Sachverständige
eine seit Rentenantragstellung bestehende Dysthymie und ausgeprägte psychosomatische Symptombildung in Form
von Essstörungen und Somatisierungsstörung bei überwiegend depressiv selbstunsicherer Primärpersönlichkeit. Mit
Dr.W ... stimmte sie in der Kritik des Gutachtens an Dr.G ... überein. Als Leistungseinschränkungen nannte sie das
Verbot körperlich schwerer und überwiegend mittelschwerer Arbeiten, von häufigem Bücken und schwerem Heben und
Tragen. Es könnten keine besonderen Anforderungen an Ausdauer, nervliche Belastbarkeit, Stresstoleranz und
Leistungsmotivation gestellt werden. Ausgeschlossen seien Arbeiten unter Zeitdruck, Akkord- oder
Fließbandbedingungen, Tätigkeiten auf Treppen, Leitern und Gerüsten und solche unter ausgeprägter Kälte, Hitze,
starken Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe. Aus nervenärztlicher Sicht seien Tätigkeiten als Kontrolleurin,
aber auch als Kassiererin in einem kleinen Hallenbad vollschichtig zumutbar. Ambulante Behandlungsmaßnahmen
seien nicht ausgeschöpft, außerdem sollten Wiedereingliederungshilfen gewährt werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 21.10.1999 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Berufung.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Schwerbehindertenakten, der Akten des
Sozialgerichts Augsburg sowie die Berufungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts
Augsburg vom 21.10.1999 kann keinen Bestand haben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 01.08.1997 bis 31.07.2000.
Zutreffend hat die Beklagte im Bescheid vom 23.10.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.05.1998
eine Rentengewährung abgelehnt.
Erwerbsunfähig ist ein Versicherter, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist,
eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen,
das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt; erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig
ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 44 Abs.2 Satz 1 und Satz 2 Ziff.2
i.d.F. vom 8. Mai 1996 bis 31. März 1999). Das Leistungsvermögen der Klägerin war im streitigen Zeitraum vom
01.08.1997 bis 31.07.2000 gemindert. Es war jedoch nicht soweit eingeschränkt, dass ihr keine vollschichtige
Arbeitsleistung mehr zumutbar gewesen wäre.
Mit dieser Beurteilung stützt sich das Gericht auf das überzeugende und ausführliche Gutachten der gerichtlich
bestellten Sachverständigen, die die zahlreich vorhandenen Vorbefunde sorgfältig gewürdigt und ihre Beurteilung
schlüssig begründet hat. Aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Sachverständige im Bereich der Bayerischen
Sozialgerichtsbarkeit verfügt sie sowohl über die erforderlichen Kenntnisse als auch über die praktische Erfahrung, um
sämtliche hier in Betracht kommenden gesundheitlichen Störungen medizinisch zutreffend einzuordnen und ihre
Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Klägerin im allgemeinen Erwerbsleben sachgerecht zu beurteilen. Mit ihrer
Beurteilung befindet sie sich in Übereinstimmung mit den von der Beklagten gehörten Sozialmedizinern bzw.
Fachärzten Dr.W ..., Dr.Sch ... und Dr.K ... Insbesondere die Fachärzte Wahlenmayer-Krauss und Katzenmeier haben
die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum ebenfalls persönlich untersucht und ihre Einschätzung der Leistungsfähigkeit
schlüssig begründet. Wenn demgegenüber der ebenfalls als unabhängiger Gerichtsgutachter fungierende Dr.G ...
seine abweichende Ansicht zur zeitlichen Leistungsfähigkeit wiederholt bekräftigt, so ist dessen Ausführungen aus
verschiedenen Gründen ein geringerer Beweiswert zuzumessen. Insbesondere wurden von Dr.G ... wesentliche
anamnestische Kriterien, die zur Beurteilung der Konsequenzen subjektiv erlebter Schmerzen und psychischer
Störungen notwendig sind und einen Überblick über den täglichen Aktionsradius ermöglichen, nicht erhoben. So fehlt
eine suffiziente Eigenanamnese mit der Abhängigkeit geklagter Beschwerden von äußeren und inneren Bedingungen,
eine suffiziente Behandlungsanamnese und die gerade bei psychischen Erkankungen notwendige Ausführlichkeit bei
der sozialen Anamnese. Wenn sich Dr.G ... schließlich wiederholt auf die Feststellung zurückzieht, dass nicht die
psychische Erkrankung für sich genommen, sondern die Gesamtheit der Störungen die Leistungseinschätzung
begründet, wie dies in der Folge auch Dr.S ... getan hat, so ist dies deshalb nicht überzeugend, weil keine sonstigen
schwerwiegenden Erkrankungen bestehen. Dies kommt auch im anerkannten GdB von 30 v.H. zum Ausdruck. Die
psychische Erkrankung wird schließlich auch vom Chefarzt der Psychiatrie im Bezirkskrankenhaus Günzburg nach
10-tägiger stationärer Beobachtung dort als leichtgradig eingestuft. Damit wurde auch die zuvor von der behandelnden
Allgemeinärztin geäußerte Tendenz einer Leidensverschlimmerung widerlegt. Die Klägerin stand unter keinem so
ausgeprägten Leidensdruck, dass sie die zunächst eingeleiteten ambulanten Therapiemaßnahmen konsequent
durchgeführt hätte. Diese Gesichtspunkte zusammen mit dem von Frau Dr.P ... erhobenen Befund lassen die
Leistungsbeurteilung Dr.G ... und Dr.S ... nicht nachvollziehbar erscheinen.
Die psycho-pathologischen Auffälligkeiten waren als mäßig einzustufen. Zu nennen ist hier die Einschränkung der
Merkfähigkeit, wohingegen sonstige mnestische Störungen nicht zu verzeichnen waren. Das Denken war formal
geordnet und inhaltlich ganz auf die subjektiv erlebte Kraftminderung, Insuffizienzgefühle, Versagens- und
Krebsängste eineengt. Während die Stimmung zeitweilig gedrückt und etwas labil war, waren Antrieb, Psychomotorik
und soziales Kontaktverhalten völlig ungestört.
Aus den Vorbefunden und der aktuellen Symptomatik ergab sich die Diagnose einer Dysthymie und ausgeprägten
psychosomatischen Symptombildung in Form von Essstörungen und Somatisierungsstörung bei überwiegend
depressiv selbstunsicherer Primärpersönlichkeit. Eine Dysthymie erfüllt nicht die Kriterien einer leichteren oder gar
schwerergradigen depressiven Episode. Wie es der große soziale Aktionsradius beweist, ist die Belastbarkeit der
Klägerin deswegen nicht erheblich eingeengt. Neben der diskreten depressiven Verstimmung steht die ausgeprägte
psychosomatische Symptombildung auf dem Boden einer neurotischen Primärstruktur im Vordergrund. Seit der
gynäkologischen Operation im Sommer 1993 konnte die Klägerin ihre bis dahin ungelebten Wünsche nach Zuwendung
und Versorgtwerden in ihrer Rolle als Kranke endlich verwirklichen. Die wiederkehrenden Fieberschübe, für die sich bis
heute kein organisches Korrelat finden ließ und deren Nachweis bislang nicht gelungen ist, und die Angst, eine
schwere körperliche Erkrankung zu haben, dienen der Klägerin als Erklärung für ihre Kraftlosigkeit und ihren Rückzug
von äußeren Anforderungen. Die neurotische Primärstruktur zeigt sich außerdem in einer massiven Essstörung, die
zu einer Adipositas permagna führte.
Unstreitig leidet die Klägerin neben der Erkrankung auf nervenärztlichem Fachgebiet an Bluthochdruck und
Harninkontinenz 1. Grades. Verstärkt werden diese Krankheiten durch die erhebliche Adipositas, die für sich
genommen bereits eine deutliche Leistungseinschränkung bewirkt.
Der Klägerin sind nur noch leichte körperliche Tätigkeiten ohne häufiges Bücken und ohne der Notwendigkeit auf
Treppen, Leitern und Gerüsten arbeiten zu müssen, zumutbar. Auch sollten Tätigkeiten unter Einwirkung von
ausgeprägter Kälte, Hitze und starken Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe vermieden werden. Durch die
subjektiv erlebte Minderung der allgemeinen Belastbarkeit sind Ausdauer, nervliche Belastbarkeit, Stresstoleranz und
Leistungsmotivation mäßig eingeschränkt. Der Klägerin sind daher keine Arbeiten unter Zeitdruck wie Akkord- oder
Fließbandarbeit mehr zumutbar. Entscheidend ist, dass Verantwortungsbewusstsein, Auffassungsgabe,
Reaktionsvermögen, Findigkeit, Selbständigkeit des Denkens und Handelns und Umstellungs- und
Anpassungsfähigkeit durch keine Krankheit eingeschränkt sind. Dies ist deshalb entscheidend, weil die Klägerin ihre
zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Raumpflegerin angesichts der Leistungseinschränkungen sicher nicht mehr ausüben
kann. Im Positiven kann die Klägerin aber noch leichte (bis zeitweilig mittelschwere) und ruhige Arbeiten in
temperierten Räumen, zu ebener Erde vollschichtig verrichten. Damit ist sie in der Lage, eine Vielzahl von Tätigkeiten
zu verrichten, wie sie üblicherweise von ungelernten Arbeitern gefordert werden. Angesichts der erhaltenen
Funktionsfähigkeit der Extremitäten und von Seh- und Hörvermögen erscheinen Verrichtungen wie Zureichen,
Abnehmen, Transportieren, Verpacken, Aufsicht und Kontrolle möglich. Die von der Sachverständigen für zumutbar
erachteten Tätigkeiten wie die einer Kontrolleurin oder auch Kassiererin in einem kleinen Hallenbad unterstreichen
diese Beurteilung.
Nachdem zusätzliche Arbeitspausen nicht erforderlich sind, ist eine Beschäftigung der Klägerin zu betriebsüblichen
Bedingungen möglich.
Dem Umstand, dass die Klägerin über sieben Jahre keiner geregelten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, kann mit
Wiedereingliederungshilfen z.B. in Form einer praxisorientierten Reintregationsmaßnahme begegnet werden. Dadurch
könnte die Klägerin langsam wieder an eine Arbeitsbelastung gewöhnt werden. Jedenfalls stellen Schwierigkeiten bei
der Wiedereingliederung keinen Grund für eine Rentengewährung dar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.