Urteil des LG Karlsruhe vom 11.05.2007
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LG Karlsruhe Urteil vom 11.5.2007, 3 O 419/06
Schadenersatz aus Verkehrsunfall: Mitverschulden an einem Zusammenstoß mit Querverkehr beim vorfahrtsberechtigten Passieren einer
Kolonne
Leitsätze
Wenn der Berechtigte trotz erkennbarer Lücke mit unverminderter Geschwindigkeit, die ihm ein rechtzeitiges Anhalten vor einem aus der Lücke
Ausfahrenden nicht ermöglicht, an einer stehenden Kolonne vorbeifährt, trifft ihn in den sog. "Lückenfällen" bei einem Zusammenstoß mit einem aus
der Lücke hervorkommenden wartepflichtigen Fahrzeug im Allgemeinen auch dann ein Mitverschulden, wenn er einen geräumigen
Sicherheitsabstand zu der überholten Kolonne eingehalten hat.
Tenor
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.279,49 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 15.07.2006 zu bezahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die durch die Anrufung des unzuständigen Amtsgerichts Karlsruhe entstandenen Mehrkosten. Von den übrigen Kosten des
Rechtsstreits tragen der Kläger 25 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 75 %.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils für ihn zu vollstreckenden
Betrags. Der Kläger darf die Vollstreckung die Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aus dem Urteil für die Beklagten
vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils für sie zu
vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand
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Der Kläger macht mit der Klage Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten aus einem Verkehrsunfall am 13.06.3006 auf der M. Straße in …
geltend.
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Er war zum Unfallzeitpunkt Halter und Eigentümer des Krad Honda SC 57, amtliches Kennzeichen … . Der Beklagte Ziff. 1 war zur Unfallzeit
Fahrer und Halter des PKW Opel Manta, amtliches Kennzeichen … , der bei der Beklagten Ziff. 2 haftpflichtversichert war.
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Der Kläger befuhr mit seinem Krad die M. Straße ostwärts und wollte nach links in die E. Straße abbiegen. Die Lichtzeichenanlage auf der M.
Straße im Bereich der Querung der dortigen Straßenbahnlinie zeigte Rotlicht, weshalb sich in beiden Fahrtrichtungen auf der M. Straße eine
stehende Fahrzeugkolonne gebildet hatte. Die Verkehrsteilnehmer in Fahrtrichtung des Klägers hatten im Bereich der Einmündung der S. Straße
in die M. Straße eine breite Lücke zum Ausfahren von aus der S. Straße kommenden Verkehrsteilnehmern gelassen. Der Beklagte Ziff. 1 wollte
mit dem von ihm geführten PKW von der S. Straße kommend in die M. Straße nach links einfahren. Der unmittelbar vor der Einmündung der S.
Straße auf der M. Straße in der Fahrzeugkolonne stehende Zeuge E. gab ihm ein Handzeichen, dass er einfahren könne. Im Zuge des
Einfahrvorgangs kam es zur Kollision mit dem Krad des Klägers, der auf der M. Straße links an der wartenden Kolonne vorbeifuhr. Die nördliche
Fahrbahn der M. Straße war zum Zeitpunkt der Kollision vollständig frei.
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Der Kläger wurde bei dem Unfall verletzt. Sein Fahrzeugschaden beläuft sich auf netto 5.131,19 EUR. Für die Erstellung eines
Sachverständigengutachtens entstanden ihm Kosten in Höhe von 553,90 EUR brutto. Ferner entstanden ihm pauschale Auslagen in Höhe von
20,00 EUR. Der Kläger macht mit der Klage Ersatz seines materiellen Schadens in Höhe von danach insgesamt 5.705,99 EUR geltend. Die
Beklagte Ziff. 2 hat vorgerichtlich die Ansprüche des Klägers mit Schreiben vom 15.07.2006 (K 1, AHK 1) zurückgewiesen.
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Der Kläger behauptet,
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er sei mit ca. 30 km/h an der Fahrzeugkolonne vorbeigefahren. Der Beklagte Ziff. 1 habe sich nicht in die M. Straße hineingetastet, sondern den
von ihm geführten PKW in seine - des Klägers - Fahrspur hineingezogen und sich bereits zu 1/3 auf der linken Fahrspur der M. Straße zum
Zeitpunkt der Kollision befunden. Die M. Straße sei im Bereich der Unfallstelle in Fahrtrichtung des Klägers der Breite der Fahrspur nach de facto
zweispurig. Der Beklagte Ziff. 1 habe sich sorgfaltswidrig nicht durch die Lücke hindurchgetastet, um Sicht nach links zu erlangen. Auch er - der
Kläger - habe dementsprechend vorkollisionär keine Sicht auf das vom Beklagten Ziff. 1 geführte Fahrzeug gehabt.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 5.705,99 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten ab dem
15.07.2006 zu bezahlen.
9
Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
11 Die Beklagten behaupten,
12 der Beklagte Ziff. 1 sei äußerst langsam nach links schauend aus der S. Straße herausgefahren. Er habe sich langsam durch die Lücke der
stehenden Fahrzeuge hindurchgetastet und mit seinem Fahrzeug zum Zeitpunkt der Kollision bereits gestanden, als der Kläger mit deutlich für
die Verkehrsverhältnisse zu hoher Geschwindigkeit von über 50 km/h gegen die linke vordere Seite des KFZ des Beklagten Ziff. 1 gestoßen sei.
13 Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zwischen diesen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die
Sitzungsniederschrift vom 21.03.2007 (AS 121-151) Bezug genommen.
14 Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche EinvB.hme der Zeugen E., S., K., A. und B. X. sowie Einholung eines mündlichen Gutachtens
des Sachverständigen Dipl.-Ing. Y.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 21.03.2007 (AS 121-
151) verwiesen. Die Akten des Amtsgerichts Karlsruhe - Az. 450 Js 34526/06 - lagen vor und waren zu Beweiszwecken Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
15 Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
16 Der Kläger hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner gemäß §§ 7 Abs. 1, 17, 18 Abs. 1, Abs. 3 StVG, 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 i. V. m. 8 Abs. 1
StVO, 1 Abs. 1, 3 PflVG, 249, 426 BGB einen Anspruch auf Ersatz von ¾ des geltend gemachten Schadens, mithin in Höhe von 4.279,49 EUR.
17 1. Der Unfall ist allerdings für keine der Parteien durch höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG verursacht, so dass die Ersatzpflicht der
einen oder anderen Seite nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat der Beklagte Ziff. 1 den Unfall
durch eine schuldhafte Vorfahrtpflichtverletzung gemäß § 8 Abs. 1 StVO verursacht, während der Kläger seinerseits zu der Kollision durch einen
Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme gemäß § 1 Abs. 2 StVO beigetragen hat. Die Ersatzpflicht ist demgemäß auch nicht gemäß §§ 17
Abs. 2 StVG, 1, 3 Nr. 1 PflVG ausgeschlossen.
18 2. Danach hängt gemäß §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 1, Abs. 3 StVG, 1, 3 PflVG die Verpflichtung zum Schadensersatz wie auch der Umfang der
Ersatzpflicht von den Umständen, insbesondere davon ab, wie weit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht
worden ist. Im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Halter und Fahrer der beteiligten Fahrzeuge und der
Berücksichtigung der von beiden Kraftfahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 1, Abs. 3 StVG sind neben
unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises
Anwendung finden.
19 Danach ist es gerechtfertigt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger
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seines unfallbedingten Schadens ersetzen.
20 a) Zu Lasten der Beklagten ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte Ziff. 1 den Unfall schuldhaft verursachte, indem er die Vorfahrt des Klägers
gemäß § 8 StVO verletzt hat.
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aa) Die Beklagten haben den Anschein schuldhafter Vorfahrtverletzung gegen sich, der nur durch bewiesene Tatsachen entkräftet werden
kann. Der Beklagte Ziff. 1 ist so weit in die Vorfahrtsstraße hinein gefahren, dass es zum Zusammenstoß mit dem bevorrechtigten Fahrzeug
des Klägers gekommen ist. Die Beklagten erbringen nicht den ihnen obliegenden Beweis, dass der Beklagte Ziff. 1 sich lediglich mit der
erforderlichen Vorsicht zur Sichtgewinnung „vorgetastet“ bzw. den herannahenden für ihn sichtbaren Kläger hinreichend beachtet hat und
dieser mit seinem Krad infolge einer Spätreaktion mit dem bereits länger stehenden PKW des Beklagten Ziff. 1 kollidierte.
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bb) Vielmehr ist der Beklagte Ziff. 1 nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. Y. weit über die Sichtlinie
vorgefahren, mithin nicht nur soweit, wie es zur Sichtgewinnung erforderlich gewesen wäre. Dass dies zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu
welchem der herannahende Kläger für ihn noch nicht sichtbar war, steht nicht zur Überzeugung des Gerichtes fest. Nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme hatte sich auf der M. Straße vor der einmündenden S. Straße ein Verkehrsstau gebildet und die stehenden Fahrzeuge eine
Lücke für den aus der S. Straße kommenden Beklagten Ziff. 1 gelassen. Die Lücke wies eine Größe im Bereich der Breite der einmündenden
S. Straße auf. Der Beklagte Ziff. 1 ist langsam und vorsichtig durch diese Lücke hindurch auf die M. Straße eingefahren, wobei er - zumindest
zunächst - beim Durchfahren der Lücke wiederholt angehalten hat. Dies steht insbesondere aufgrund der glaubhaften Aussagen der
vernommenen Zeugen zur Überzeugung des Gerichtes fest, § 286 ZPO. Der Zeuge E. hat glaubhaft und nachvollziehbar bekundet, der Opel
sei langsam vorgefahren und es habe geknallt. Für seine Begriffe habe sich der Opel vorgetastet, auch wenn er nicht mehr wisse, ob das
Fahrzeug wiederholt bis zum Stillstand abgebremst worden sei. Die Zeugin S. hat überzeugend bekundet, der Opel sei mit
Schrittgeschwindigkeit herausgefahren, sozusagen stoßweise nach vorne. Der Beklagte Ziff. 1 habe zwischendurch immer wieder
angehalten, wie oft und genau wisse sie jedoch nicht mehr. Auch nach der überzeugenden Aussage des Zeugen K. ist der Beklagte Ziff. 1
sehr langsam herausgefahren zu dem Zeitpunkt als der Opel bei dem Zeugen links von dem vor ihm befindlichen Fahrzeugen sichtbar
wurde. Diese Aussagen stimmen mit den glaubhaften Aussagen der Eheleute X. überein, die gleichfalls bekundet haben, der Opel sei sehr
langsam vorgefahren. Die Zeugin X. hatte im Hinblick auf die von ihr wahrgenommene geringe Geschwindigkeit des Opels zu ihrem Mann
noch gesagt: „Hoffentlich schafft er es noch.“
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cc) Allerdings ist die Beweisaufnahme nicht geeignet, die Überzeugung des Gerichts davon zu begründen, dass der Beklagte Ziff. 1 auch
noch unmittelbar während des Ausfahrvorgangs aus der für ihn gelassenen Lücke bis zur Sichtgewinnung in Fahrtrichtung des Klägers sich
schrittweise vorgetastet bzw. nach Sichtgewinnung den herannahenden Kläger ausreichend beachtet hat. Der Wartepflichtige ist
grundsätzlich berechtigt, sich bei Sichtbehinderung durch die freigewordene Lücke mit äußerster Vorsicht soweit vorzutasten, bis er Sicht
gewinnt. Unter einem langsamen Vortasten versteht man jedoch, dass ein Fahrer mit seinem Wagen bereits nur wenige Zentimeter langsam
vorrollt und dann wieder anhält und dieses Fahrmanöver über einen längeren Zeitraum mehrmals wiederholt. Nur bei einer solchen
Fahrweise kann der Fahrer eines herannahenden Wagens das vortastende Fahrzeug frühzeitig erkennen und sich auf dieses einstellen (vgl.
OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.10.1980, Az. 1 U 67/80, zit. n. Juris). Eine derartige Fahrweise des Beklagten Ziff. 1 steht nach dem Ergebnis
der Beweisaufnahme nicht zur Überzeugung des Gerichtes fest. Nach der Aussage des Zeugen E. ist der Opel langsam vorgefahren und es
hat geknallt. Zwar hat sich der Opel nach Auffassung des Zeugen vorgetastet, ob er zwischendurch jedoch immer wieder zum Stillstand
abgebremst wurde, wusste er nicht anzugeben. Auch die Zeugin S., wusste nicht mehr, wie oft und wo genau der Beklagte Ziff. 1
zwischendurch immer wieder angehalten hat. Der Zeuge K. konnte keine Angaben dazu machen, ob der Opel zwischendurch immer wieder
bis zum Stillstand abgebremst wurde. Aus den Aussagen der Eheleute X. ergibt sich ebenfalls nicht, ob der Beklagte Ziff. 1 bei der
entscheidenden Ausfahrt aus der Lücke zur Sichtgewinnung immer wieder gestoppt hat. Es spricht vielmehr im Hinblick auf die eigenen
informatorischen Angaben des Beklagten Ziff. 1 viel dafür, dass er dem von seiner Fahrtrichtung aus gesehen links aus aufkommenden
Kläger keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet hat. Nach seinen eigenen Angaben hat er sich ausschließlich auf rechts konzentriert, da er
hundertprozentig davon ausging, dass von links kein Fahrzeug kommen könne. Dabei handelte es sich ersichtlich um eine grobe
Fehleinschätzung, denn der Kläger konnte mit dem von ihm geführten Kraftrad ohne weiteres mit ausreichendem Seitenabstand an der
wartenden Fahrzeugkolonne vorbeifahren. Dementsprechend hat der Beklagte Ziff. 1 das Motorrad auch erstmals zum Zeitpunkt der
Kollision bemerkt. Danach ist er zwar zunächst sehr langsam durch die für ihn gelassene Lücke hindurch gefahren; dass er sich allerdings
auch noch bei Ausfahrt aus derselben bis zur Sichtgewinnung schrittweise vorgetastet und dabei den für ihn sichtbar herannahenden Kläger
beachtet hat, steht nicht zur Überzeugung des Gerichtes fest. Dies geht zu Lasten der beweispflichtigen Beklagten.
24 b) Die Beklagten erbringen jedoch den ihnen obliegenden Beweis, dass der Kläger den Unfall schuldhaft durch einen Verstoß gegen das Gebot
der Rücksichtnahme gemäß § 1 Abs. 2 StVO mit verursacht hat.
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aa) Wer bei dichtem Verkehr an einer aus mehreren Fahrzeugen bestehenden Kolonne vorbeifährt, welche - sei es auch nur vorübergehend
- zum Stehen kommt, muss sich, auch wenn ihm die Vorfahrt zusteht, auf Querverkehr aus für ihn erkennbaren Verkehrslücken an
Kreuzungen und Einmündungen einstellen. Zu diesem Zweck muss er beim Vorbeifahren seine Geschwindigkeit so einrichten, dass er unter
Berücksichtigung des von ihm zu der stehenden Kolonne eingehaltenen Sicherheitsabstandes sein Fahrzeug rechtzeitig anhalten kann,
wenn aus der Lücke herauskommende Verkehrsteilnehmer in seine Fahrspur geraten. Die Sorgfaltspflicht des Bevorrechtigten beschränkt
sich in einer derartigen Verkehrslage nicht ausschließlich darauf, dem Wartepflichtigen durch ausreichenden Sicherheitsabstand zu den
stehenden Fahrzeugen das „Hineintasten“ über die Kolonne hinaus in die Vorfahrtstraße zu ermöglichen. Dass der Wartepflichtige
grundsätzlich berechtigt ist, bei Sichtbehinderung mit äußerster Vorsicht soweit in die Vorfahrtstraße hineinzufahren, bis er Sicht gewinnt, ist
anerkannt. Bei einer typischen „Lückensituation“ geht es jedoch darüber hinaus darum, dass der Bevorrechtigte sein Fahrverhalten einer
erkennbaren unklaren Verkehrslage, in der erfahrungsgemäß mit dem plötzlichen Auftauchen von Hindernissen zu rechnen ist, anzupassen
hat. Der Kraftfahrer muss bei der „Lückensituation“ im Rahmen von § 1 Abs. 2 StVO auch ein unvorsichtiges Verhalten wartepflichtiger
Verkehrsteilnehmer in Rechnung stellen. Selbst ein geräumiger Sicherheitsabstand des Vorbeifahrenden von der Kolonne wird regelmäßig
für sich allein nicht als ausreichende Sicherheitsmaßnahme angesehen werden können. Wenn der Berechtigte trotz erkennbarer Lücke mit
unverminderter Geschwindigkeit an der stehenden Kolonne vorbeifährt, trifft ihn vielmehr bei einem Zusammenstoß mit einem aus der Lücke
hervorkommenden wartepflichtigen Fahrzeug im Allgemeinen auch dann ein Mitverschulden, wenn er einen geräumigen Sicherheitsabstand
zu der überholten Kolonne eingehalten hat. Dieser Grundsatz stellt eine Ausprägung der sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebenden allgemeinen
Pflichten der Verkehrsteilnehmer in besonderen Situationen dar und berücksichtigt die zur Lösung der sich aus dem modernen
Massenverkehr in Großstädten ergebenden Verkehrsprobleme geschaffene Regelung des § 11 Abs. 1 StVO. Die besondere Sorgfaltspflicht
beim Vorbeifahren an einer ins Stocken geratenen Kolonne im dichten Verkehr ist ein Gebot der Rücksichtnahme auf zwingende
Verkehrsbedürfnisse derjenigen Kraftfahrer, welche die bevorrechtigte Fahrtrichtung kreuzen wollen; ihnen muss Gelegenheit gegeben
werden, mit der gebotenen Vorsicht Lücken in der Kolonne auszunützen. Weil es zudem immer wieder vorkommt, dass sich die durch die
Lücke fahrenden Kraftfahrzeugführer - wie hier - auf Winkzeichen der vor der Straßeneinmündung haltenden Fahrer verlassen und es
deshalb an der gebotenen Sorgfalt gegenüber dem Verkehr auf den übrigen Spuren fehlen lassen, liegt in derartigen Situationen die Gefahr
von Vorfahrtsverletzungen besonders nahe. Dem muss der Vorfahrtsberechtigte in dieser besonderen Situation bis zu einem gewissen
Grade Rechnung tragen, ohne dass damit ein „Freibrief für verkehrswidriges Verhalten“ des Wartepflichtigen geschaffen wird (BGH, VersR
1969, 756; KG Berlin, VersR 1977, 157, 158; KG Berlin, Urteil vom 25.05.1992, Az. 12 U 3481/91, zit. n. juris; LG Neubrandenburg, ZfSch
1999, 234, 235, LG Darmstadt, Schaden-Praxis 1999, 41, 42; LG Koblenz, RuS 1988, 294).
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bb) Diesen Grundsätzen hat der Kläger nicht hinreichend Rechnung getragen.
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Zwar erbringen die Beklagten nicht den ihnen obliegenden Nachweis, dass er die Fahrzeugkolonne mit einem nicht hinreichenden
Seitenabstand überholt hat, der es dem Beklagten Ziff. 1 unmöglich gemacht hätte, sich bis zur Sichtgewinnung vorzutasten. Vielmehr ist
nach den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. Y. davon auszugehen, dass der Kläger zu
den rechts wartenden Fahrzeugen einen seitlichen Abstand im Bereich von ca. 1 bis max. 1,5 m eingehalten hat. Dies ist angesichts der
Breite der Fahrspur von 5,7 m, auf welcher die wartenden Fahrzeuge sich befanden und an denen der Kläger links vorbeifuhr, auch ohne
weiteres nachvollziehbar und ausreichend.
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Auch erbringen die Beklagten nicht den Beweis, dass der Kläger die grundsätzlich zulässige Höchstgeschwindigkeit im Bereich der
Unfallörtlichkeit von 50 km/h überschritten hat. Sie haben eine höhere unfallursächliche Annäherungsgeschwindigkeit als die vom
Sachverständigen ermittelte Kollisionsgeschwindigkeit von zumindest 35 km/h nicht nachgewiesen. Dabei sind die Ausführungen des
Sachverständigen zugrunde zulegen, in denen er von einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen der Front
des PKW Opel des Beklagten Ziff. 1 und der Kollision mit dem Motorrad des Klägers ausgegangen ist. Die beweispflichtigen Beklagten
erbringen nicht den Nachweis, dass der Beklagte Ziff. 1 mit dem vom ihm geführten PKW über mehrere Sekunden nach Sichtgewinnung in
dieser Position verharrt hat. Hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben sich aus keiner der Aussagen der vernommenen Zeugen. Vielmehr
hat der Zeuge K. glaubhaft und vollziehbar auf Nachfrage des Beklagtenvertreters ausgesagt, dass für ihn der Vorfall sozusagen in einem
passierte. Auch nach der Aussage des Zeugen X. kam der Kläger mit seinem Motorrad, als der Beklagte Ziff. 1 mit seinem Opel langsam
vorfuhr.
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Der Kläger hat dennoch gegen das Gebot der Rücksichtnahme gemäß § 1 Abs. 2 StVO schuldhaft verstoßen. Für ihn war nach den
überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen die Lücke in der Fahrzeugkolonne angesichts ihrer Breite, die sich nach den glaubhaft
und nachvollziehbaren Aussagen der vernommenen Zeugen über die Breite der S. Straße erstreckte, bereits in der weiteren Annäherung an
die Unfallörtlichkeit erkennbar. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen wäre ihm bei einer
Annäherungsgeschwindigkeit von jedenfalls 22 km/h es möglich gewesen, vor Erreichen der Kollisionsstelle das Motorrad problemlos zum
Stehen zu bringen. Er musste angesichts der für ihn erkennbaren Lücke damit rechnen, dass aus der S. Straße ausfahrende Fahrzeuge auch
unvorsichtig in seine Fahrlinie einfahren würden und seiner Geschwindigkeit diesem Umstand anpassen.
30 c) Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile überwiegen diejenigen des Beklagten Ziff. 1, die sich die Beklagte Ziff. 2
zurechnen lassen muss, deutlich diejenigen des Klägers. Der Beklagte Ziff. 1 hat schuldhaft die Vorfahrt des Klägers verletzt. Ausgehend von der
o.g. Rechtsprechung zu den sog. typischen „Lückenfällen“ hält das Gericht vorliegend eine Haftungsverteilung von ¼ zu ¾ zu Lasten der
Beklagten unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände für gerechtfertigt.
31 3. Der geltend gemachte gemäß § 249 BGB ersatzfähige Schaden des Klägers beläuft sich der Höhe nach unstreitig auf 5.705,99 EUR. Davon
kann der Kläger ¾ ersetzt verlangen, mithin einen Betrag in Höhe von 4.279,49 EUR.
32 4. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286 Abs. 2 Nr. 3, 288 Abs. 1 BGB.
33 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1 S. 1, 281 Abs. 3 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 709,
711 ZPO.
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Beschluss vom 11.05.2007
35 Der Streitwert wird gem. § 63 Abs. 2 GKG n. F. auf 5.705,99 EUR festgesetzt.