Urteil des LG Essen vom 26.03.2003
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Landgericht Essen, 1 S 207/02
Datum:
26.03.2003
Gericht:
Landgericht Essen
Spruchkörper:
1. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 S 207/02
Vorinstanz:
Amtsgericht Essen, 13 C 334/02
Normen:
§§ 280, 823 BGB, § 116 (1) SGB X
Sachgebiet:
Bürgerliches Recht
Rechtskraft:
ja
Tenor:
hat die 1. Zivilkammer des Landgerichts Essen
auf die mündliche Verhandlung vom 26. März 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht T und die Richterinnen
am Landgericht Dr. E. und X.
für R e c h t erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 18.11.2002 verkündete Urteil
des Amtsgerichts Essen (13 C 334/02) wird auf ihre Kosten
zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
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I.
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Die klagende Krankenversicherung begehrt von dem Beklagten Altenpflegeheim-
Kostenerstattung für Leistungen in Höhe von insgesamt 4.644,46 EURO, die sie für ihr
Mitglied T. geboren am 20.05.1909, im Zusammenhang mit einem Sturz im Speisesaal
der Beklagten vom 12.4.2001 erbrachte. Frau T. litt an seniler Demenz, sowie arteriellen
und vaskulären Durchblutungsstörungen. Sie war in Pflegestufe II eingestuft. Am
12.4.2001 saß sie im Speisesaal angegurtet auf einem Rollstuhl, löste irgendwann den
Gurt, stand auf und kam neben dem Rollstuhl zu Fall. Zu diesem Zeitpunkt war die
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Pflegekraft, die normalerweise die Aufsicht im Speisesaal führt, in ein Nachbarzimmer
zu einem Notfall abberufen worden.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen: Weder unter dem Gesichtspunkt der
positiven Vertragsverletzung noch nach Deliktsrecht bestünde hier ein gemäß § 116 I
SGB X auf die Klägerin übergegangener Schadensersatzanspruch der Frau T. Mit der
Berufung macht die Klägerin geltend, dass das amtsgerichtliche Urteil in sich
widersprüchlich und nicht überzeugend sei.
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Hinsichtlich des Tatbestandes im Übrigen wird auf das Urteil des Amtsgerichts
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Bezug genommen.
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II.
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Zu Recht hat das Amtsgericht
in dem sorgfältig begründeten, mit der Berufung angegriffenen Urteil eine Haftung der
Beklagten im vorliegenden Fall aus den genannten, allein in Betracht zu ziehenden
Anspruchsgrundlagen versagt. Das Urteil ist nicht in sich widersprüchlich. Soweit das
Amtsgericht zunächst allgemein feststellte, dass sich nicht zwingend allein aus der
Pflegestufe der seitens des Heimes zu gewährleistende Betreuungsumfang festlegen
läßt, bezog sich diese Festlegung noch nicht konkret auf den vorliegenden Fall.
Vielmehr wollte das Amtsgericht damit klarstellen, dass es allein aufgrund der bei Frau
T. vorliegenden Pflegestufe II nicht das Ausmaß der ihr geschuldeten Betreuung
festlegen wollte. Vielmehr hat es sich im folgenden konkret und differenziert mit den
Umständen, warum Frau T. sich in die Obhut der Beklagten begeben hat, einerseits ihre
Altersdemenz, andererseits die bei ihr bestehende Sturzgefahr im Stehen
auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Vorkehrungen, die seitens der Beklagten
für diese zwei Risiken getroffen wurden, ausreichend waren.
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So waren die Durchblutungsstörungen nur dann gefährlich für die Betroffene, wenn sie
stand und ging; dem habe die Beklagte dadurch Rechnung getragen, dass Frau T. für
diesen Fall ein Rollator zur Verfügung stand und dass sie auf ihren Wegen begleitet
wurde. Beim Gehen ist sie ja auch nicht zu Fall gekommen, sondern bei einem nicht
vorgesehenen Stehen. Wegen der Sturzgefahr war sie im Speisesaal nicht ständig zu
beaufsichtigen und auch nicht so auf ihrem Stuhl festzuschnallen, dass ihr ein Öffnen
des Gurtes unmöglich gewesen
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Auch die Demenz von Frau T. für sich genommen rechtfertigte vor dem Schadensfall
eine solch einschneidende Maßnahme nicht. Der einfache, von dem "'Angeschnallten
zu öffnende Gurt wurde laut Auskunft der Beklagtenvertreterin im Kammertermin vom 26.
3. 2003 nur deshalb verwendet, weil sie unruhig saß und dies im Speisesaal störte.
Anlass für eine Fixierung, das Anschnallen mit einem Gurt, den der Betroffene selbst
nicht öffnen kann, welches einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedurft
hätte, gab es bis zu dem Vorfall nicht. Denn es ist nicht bekannt, dass sie je vorher die
Tendenz gezeigt hätte, eigenständig den Gurt zu öffnen und aufzustehen.
Entsprechendes wurde von der Klägerin nicht schlüssig vorgetragen.
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Für eine Umkehr der Beweislast gibt der vorliegende Fall nichts her. Denn anders als in
den Fällen, in denen eine solche Umkehr angenommen wurde, handelt es sich hier
gerade nicht um ein von der Beklagten beherrschbares Geschehen. Der Unfall
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ereignete sich weder bei einer konkreten Pflegeleistung noch in einem voll von der
Beklagten beherrschbaren Gefahrenbereich.
Soweit sich die Klägerin mit der Berufung noch einmal ausdrücklich auf die
Entscheidung des OLG Frankfurt vom 12.4.2002 -10 U 247/01-bezieht, übersieht sie,
dass die dortige Betroffene nicht nur in Pflegestufe III eingeordnet war, sondern auch
eine entsprechend intensive Betreuung erforderte. Sie war schwerst pflegebedürftig, das
heißt, ihr Hilfebedarf war so groß, dass jederzeit eine Pflegeperson unmittelbar
erreichbar sein musste, weil konkreter Hilfebedarf jederzeit Tag und Nacht anfallen
konnte (S. 3 des Urteils). Dieser extreme Pflegebedarf bestand bei Frau T. gerade nicht.
Es war vertretbar, sie angeschnallt auf dem Rollstuhl beim Essen sitzen zu lassen.
Damit befand sie sich aber auch in einem nicht vollständig beherrschbaren Bereich.
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Eine schuldhafte für den Schaden kausale Pflichtverletzung der Beklagten kann
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nicht darin gesehen werden, dass die für den Speisesaal vorgesehene Aufsicht für
einen Notfall in einem Nachbarzimmer abberufen war. Selbst wenn sie im Speisesaal
gewesen wäre, hätte sie nicht mit 100%iger Sicherheit ausschließen können, dass sich
der Vorfall ereignet hätte. Es ist nicht zwingend, dass diese Pflegeperson rechtzeitig
gesehen hätte, dass Frau T. sich abschnallte - dieser Vorgang kann ganz schnell
gegangen sein -, ebenso wenig ist sicher, ob sie hätte rechtzeitig eingreifen können.
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Darüber hinaus ist die vertragliche Nebenpflicht, dafür zu sorgen, dass kein
Heimbewohner zu Schaden kommt, begrenzt auf die in Pflegeheimen üblichen
Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand
realisierbar sind (OLG Hamm FamRZ 1993, 1490 (1492), LG Essen VersR 2000,893).
Unter diesem Gesichtspunkt ist der Beklagten nichts vorzuwerfen.
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Nach allem ist die Berufung mit der Kostenfolge des § 97 ZPO zurückzuweisen, die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 713, 708 Nr. 10
ZPO analog.
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