Urteil des LG Bochum vom 24.03.2004

LG Bochum (behandelnder arzt, ärztliche behandlung, kaiserschnitt, schmerzensgeld, entbindung, behandlungsfehler, gutachten, dokumentation, schwangerschaft, höhe)

Landgericht Bochum, 6 O 374/02
Datum:
24.03.2004
Gericht:
Landgericht Bochum
Spruchkörper:
6. Zivilkammer des Landgerichts
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 O 374/02
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.000,- EUR nebst Zinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem
03.09.2001 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils
zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
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Die heute 37 Jahre alte Klägerin legt dem Beklagten fehlerhafte ärztliche Behandlung
im Zusammenhang mit dem intrauterinen Fruchttod während ihrer Schwangerschaft zur
Last. Der Beklagte ist Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des L-
Krankenhauses in S.
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Am 07.02.2001 wurde die Klägerin in der rechnerisch 34. Schwangerschaftswoche
aufgrund Einweisung durch ihre Frauenärztin M mit der Diagnose Adipositas und
Hypertonus erstmals in der o.g. Klinik stationär aufgenommen. Bei der Aufnahme wog
die Klägerin 147 kg bei einer Körpergröße von 180 cm. Die durchgeführten CTG-
Kontrollen und Doppleruntersuchung blieben ohne pathologischen Befund. Der orale
Glukose-Toleranztest ergab jedoch pathologische Werte. Der Gestationsdiabetes wurde
daraufhin diätetisch eingestellt. Die Klägerin erhielt eine Diät von 16 BE und eine
Diätberatung. Am 16.02.2001 wurde die Klägerin unter Verordnung eines
Blutzuckermessgerätes und entsprechenden Verhaltensmaßgaben entlassen. Am
15.03.2001 erfolgte die erneute stationäre Aufnahme in der 39. Schwangerschaftswoche
bei einem erwarteten Entbindungstermin am 26.03.2001. Da die Untersuchungen auf
eine zeitgerechte Entwicklung des Kindes in Schädellage bei normaler
Fruchtwassermenge hinwiesen und keine Anhalte für eine schlechte Einstellung des
Gestationsdiabetes oder für eine Plazentainsuffizienz vorlagen, wurde die Klägerin am
16.03.2001 wieder entlassen. Am 24.03.2001 erfolgte 2 Tage vor dem erwarteten
Entbindungstermin die erneute stationäre Aufnahme bis zum 25.03.2001. In der
Folgezeit stellte sich die Klägerin regelmäßig ambulant u.a. zur jeweiligen CTG-
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Kontrolle in der Klinik vor.
Am 02.04.2001 wurde die Klägerin - wie geplant - stationär zur Entbindung
aufgenommen. Es wurden u.a. Ultraschalluntersuchungen, Wehenbelastungstests,
mehrere CTG-Kontrollen und Kontrollen der Blutzuckerwerte durchgeführt. Als sich die
Klägerin am Morgen des 03.04.2001 um 7.10 Uhr im Kreissaal zur Kontrolle meldete,
konnten keine fetalen Herztöne mehr festgestellt werden. Der intrauterine Fruchttod
wurde diagnostiziert. Das tote Kind wurde schließlich per Kaiserschnitt entbunden.
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Die Klägerin wirft dem Beklagten ein fehlerhaftes Geburtsmanagement vor. Es sei
behandlungsfehlerhaft, dass die Schwangerschaft trotz der bekannten Risikofaktoren
bei der Klägerin nicht frühzeitiger, spätestens am errechneten Entbindungstermin,
beendet worden sei. Es hätte eine frühzeitige Kaiserschnittentbindung vorgenommen
werden müssen. Hierzu behauptet die Klägerin, sie habe den Beklagten mehrfach -
insbesondere am 29.03.01 und 02.04.2001 - darum gebeten, die Schwangerschaft per
Kaiserschnitt zu beenden. Wenn ein Kaiserschnitt kontraindiziert gewesen wäre, hätte
der Beklagte jedenfalls die Einleitung der Geburt per Gel-Priming veranlassen müssen.
Die Klägerin behauptet ferner, die CTG-Befunde seien derart auffällig gewesen, dass
auch deshalb im Zusammenhang mit den übrigen Risikofaktoren eine frühzeitigere
Entbindung angezeigt gewesen sei.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, welches
10.225,84 EUR nicht unterschreiten sollte, nebst gesetzlicher Zinsen gem. § 288 Abs.1
BGB seit dem 03.09.2001 zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er stellt Behandlungsfehler in Abrede und behauptet, aufgrund der zahlreichen
Untersuchungen sei zu keinem Zeitpunkt eine vorzeitige Entbindung indiziert gewesen.
Insbesondere seien die CTG-Aufzeichnungen sämtlich unauffällig gewesen und hätten
keinen Hinweis auf eine fetale Gefährdung gegeben. Es habe eine leichte Form des
Diabetes bei Adipositas vorgelegen ohne Auffälligkeiten an der Plazenta und ohne
Hinweise auf eine unzureichende Einstellung des Diabetes. Der Beklagte behauptet,
das gesamte ärztliche Management sei im Einvernehmen mit der Klägerin und ihrem
Ehemann erfolgt. Lediglich beim ersten Kontakt sei die Klägerin aufgrund des
diagnostizierten Schwangerschaftszuckers mit der Frage an ihn herangetreten, ob
nunmehr eine Entbindung per Kaiserschnitt notwendig sei, was der Beklagte verneint
habe. Danach sei über eine Kaiserschnittentbindung nicht mehr gesprochen worden.
Anderenfalls wäre ein entsprechender Wunsch in der Dokumentation vermerkt worden.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen Bezug genommen.
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Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen
Sachverständigengutachtens und durch mündliche Anhörung des Sachverständigen.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das fachgynäkologische
Gutachten des Sachverständigen T vom 07.04.2003 (BI. 90 ff d.A.), die ergänzende
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schriftliche Stellungnahme vom 04.11.2003 (BI. 138 ff d.A.) und wegen der mündlichen
Erläuterung des Gutachtens auf das Sitzungsprotokoll vom 24.03.2003 (BI. 146 ff d.A.)
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist begründet.
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Die Klägerin hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung von
Schmerzensgeld, welches die Kammer in Höhe von 15.000,- EUR für angemessen
erachtet, aus §§ 847, 823 BGB.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass
das Geburtsmanagement des Beklagten fehlerhaft war. Aufgrund der Risikofaktoren bei
der Klägerin im Zusammenhang mit in der Gesamtschau auffälligen CTGBefunden war
es nicht mehr vertretbar, noch länger abzuwarten, ob sich doch noch spontane
Wehentätigkeit einstellt. Vielmehr hätte die Schwangerschaft frühzeitiger beendet
werden müssen, jedenfalls noch vor dem Eintritt des intrauterinen Fruchttodes am 02.
oder 03.04.2001. Das Verhalten des Beklagten als verantwortlicher behandelnder Arzt
ist damit als behandlungsfehlerhaft anzusehen.
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Die Kammer stützt sich dabei auf die überzeugenden Beurteilungen durch den
Sachverständigen T. Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass es nicht
mehr vertretbar gewesen sei, bei der Klägerin noch länger zuzuwarten. Aus der
ärztlichen Dokumentation ergäben sich keine Gründe für ein längeres Zuwarten. Weder
für das Kind noch für die Mutter sei ein weiterer Benefit zu erwarten gewesen. Bei der
Summe der Faktoren - diätetisch eingestellter Gestationsdiabetes,
Terminsüberschreitung, auffällige CTG-Befunde - sei ein weiteres Zuwarten nicht
nachvollziehbar. Als Risikofaktor seien auch auffällige CTG-Veränderungen anzusehen,
die darauf hingewiesen hätten, dass bei dem Kind im Grenzbereich von Wehentätigkeit
auch Sauerstoffuntersättigungen auftreten könnten.
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Der Sachverständige hat einige Unklarheiten, die sich auch für die Kammer aufgrund
der schriftlichen Gutachten zunächst ergeben hatten, anlässlich seiner mündlichen
Erläuterung im Termin am 24.03.04 ausgeräumt. Er hat noch einmal klargestellt, dass er
das Geburtsmanagement des Beklagten mit dem weiteren Zuwarten als fehlerhaft
ansehe. Möglicherweise hat der Sachverständige in seinen schriftlichen
Stellungnahmen bestimmte juristische Begrifflichkeiten, wie etwa "vorwerfbarer
Behandlungsfehler", nicht immer in der Weise verwandt, wie sie nach zutreffender
rechtlicher Bewertung hätten verwandt werden müssen. So hat er bei seiner mündlichen
Anhörung auch eingeräumt, dass Formulierungen in seinem schriftlichen Gutachten
vielleicht etwas ungeschickt oder missverständlich gewesen seien. Die ist jedoch
unschädlich, da die rechtliche Bewertung ohnehin der Kammer vorbehalten bleibt.
Soweit es um die rein medizinische Beurteilung des Sachverhaltes geht, sind die
Ausführungen des Sachverständigen überzeugend, in sich schlüssig und auch für den
medizinischen Laien gut nachvollziehbar. An der Sachkunde und Unparteilichkeit des
Sachverständigen, welcher der Kammer bereits aus mehreren anderen Verfahren als
erfahren und kompetent bekannt ist, bestehen keine Zweifel. Die Kammer macht sich
daher dessen medizinische Beurteilung zu eigen. Folgt man dieser Beurteilung, besteht
aus Sicht der Kammer kein Zweifel, dass dem Beklagten ein Behandlungsfehler wegen
eines fehlerhaften Geburtsmanagements vorzuwerfen ist.
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Der Sachverständige hat sich im Übrigen eingehend mit den Einwendungen beider
Parteien auseinandergesetzt. Er hat insbesondere überzeugend erläutert, dass selbst
bei einer leichten Form des Gestationsdiabetes, welcher optimal eingestellt ist, ein
erhöhtes Risiko verbleibe und gerade derartige Fälle systematisch unterschätzt würden.
Die Kammer hält auch die Ausführungen des Sachverständigen zu den CTG-Befunden
für überzeugend. Danach seien einzelne CTG‘s zwar nicht pathologisch aber suspekt
bzw. auffällig. Auf entsprechende Einwendung des Beklagten hat der Sachverständige
in seinem schriftlichen Ergänzungsgutächten überzeugend erläutert, dass er aus
Gründen der Verständlichkeit auf eine ausführliche, detaillierte schriftliche Interpretation
der CTG-Befunde verzichtet habe, er aber jedes einzelne CTG eingehend ausgewertet
und in den Gesamtkontext eingeordnet habe. Dabei sei er zu dem Ergebnis gelangt,
dass keines der CTG‘s für sich betrachtet Anlass zu einer akuten
Schwangerschaftsbeendigung gegeben hätte, sich jedoch in der Gesamtschau
Auffälligkeiten ergäben und die Summe der Risikofaktoren zu einem frühzeitigeren,
aktiven Geburtsmanagement hätten führen sollen.
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Soweit der Sachverständige einschränkend ausgeführt hat, er halte das
Geburtsmanagement des Beklagten dann noch für vertretbar, wenn die Vorgehensweise
eingehend mit der Klägerin besprochen und sie über die entsprechenden Risiken
aufgeklärt worden wäre, so ändert dies nichts am Vorliegen eines Behandlungsfehlers.
Eine derartige eingehende Besprechung ergibt sich nämlich gerade nicht aus der
ärztlichen Dokumentation. Insoweit hat der Sachverständige ausgeführt, er hätte auf
jeden Fall erwartet und es hätte medizinischem Standard entsprochen, dass mit der
Schwangeren über das weitere Vorgehen - evtl. Kaiserschnitt, Einleitung der Geburt
oder doch weiteres Zuwarten - eingehend gesprochen und dies auch dokumentiert
worden wäre. Dass entgegen der Dokumentation eine derartige eingehende
Besprechung mit der Klägerin über die Risiken eines weiteren Zuwartens stattgefunden
hat, hat der Beklagte schon nicht behauptet. Der Vortrag, es sei mit der Klägerin
besprochen worden, dass abgewartet werden solle, ob sich spontane Wehentätigkeit
einstellt und der Vortrag, die Vorgehensweise sei im Einvernehmen mit der Klägerin
erfolgt, ist diesbezüglich unzureichend und beinhaltet insbesondere nicht die
erforderliche Aufklärung über die damit verbundenen weiteren Risiken. Insoweit konnte
auch dahin stehen, ob die Klägerin den Beklagten immer wieder gebeten hat, doch
einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Auch ohne die Äußerung eines solchen Wunsches
war nach dem oben Ausgeführten das Geburtsmanagement fehlerhaft.
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Die erforderliche Kausalität zwischen dem fehlerhaften Geburtsmanagement und dem
intrauterinen Fruchttod liegt vor. Bei einem frühzeitigerem aktiven Geburtsmanagement
wäre man dem intrauterinen Fruchttod zuvorgekommen. Dies hat der Sachverständige
in seinem schriftlichen Gutachten nachvollziehbar ausgeführt, was aber auch so ohne
weiteres einleuchtet. Dass der Fruchttod als solcher nach den Bewertungen des
Sachverständigen für den Beklagten nicht vorhersehbar war, ist insoweit unerheblich
und ändert nichts an dem Kausalzusammenhang zwischen dem festgestellten
Behandlungsfehler und dem Kindstod.
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Nach allem kann die Klägerin für die Beeinträchtigungen, die sie im Zusammenhang mit
dem intrauterinen Fruchttod erleiden musste, ein angemessenes Schmerzensgeld von
dem Beklagten verlangen.
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Die Kammer hat ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,- EUR für angemessen
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erachtet. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass die Klägerin die vollständige
Schwangerschaftszeit bis über den errechneten Geburtstermin hinaus durchlebt hat und
die Beschwernisse der Schwangerschaftsmonate letztlich umsonst waren. Deutlich
schmerzensgelderhöhend musste sich auswirken, dass die Klägerin gerade in
hoffnungsvoller Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Geburt mit dem schweren,
unabänderlichen Schicksalsschlag des Kindstodes getroffen wurde, was naturgemäß
ein schweres traumatisches Ereignis mit entsprechenden - insbesondere auch
seelischen - Folgen für die Mutter darstellt.
Zieht man etwa die von der Klägerin zitierte Entscheidung des LG Lüneburg aus dem
Jahr 1983 (lfd. Nr.1448 der Schmerzensgeldtabelle Hacks/Ring/Böhm, 22.Auflage) mit
einem Schmerzensgeldbetrag von 5.000,- EUR als Maßstab heran, so zeigt sich, dass
die konkreten Umstände des vorliegenden Falls im Vergleich zu dem dort
entschiedenen Fall ein weitaus höheres Schmerzensgeld rechtfertigen. In dem vom LG
Lüneburg entschiedenen Fall ging es um eine Totgeburt in der 25.
Schwangerschaftswoche anlässlich eines Verkehrsunfalls, also um eine weitaus
kürzere Schwangerschaftszeit und vor allem ohne den als besonders traumatisch zu
beurteilenden Umstand des Fruchttodes im Zuge der unmittelbar bevorstehenden
Entbindung. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass die zum Vergleich
herangezogene Entscheidung bereits mehr als 20 Jahre zurückliegt, müsste schon
allein aufgrund der Geldentwertung eine deutliche Erhöhung des
Schmerzensgeldbetrages vorgenommen werden.
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Nach allem erschien es angemessen, einen Schmerzensgeldbetrag zuzusprechen, der
über den von der Klägerin genannten Mindestbetrag von 10.225,84 EUR hinausgeht.
Nach Auffassung der Kammer sind die Beeinträchtigungen der Klägerin mit einem
Schmerzensgeld von 15 000,- EUR angemessen berücksichtigt.
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Die Zinsforderung ist aus §§ 288, 286 BGB gerechtfertigt.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.
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