Urteil des KG Berlin vom 18.01.2006
KG Berlin: recht auf akteneinsicht, fotokopie, freiheit, leiter, akteneinsichtsrecht, selbstbestimmungsrecht, form, diplom, patient, diagnose
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Gericht:
KG Berlin 5.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 Ws 102/06 Vollz
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 185 StVollzG, Art 1 Abs 1 GG,
Art 2 Abs 1 GG
Strafvollzug: Recht des Strafgefangenen auf Einsicht in ein
kriminologisch-prognostisches Gutachten
Leitsatz
Zum Recht eines Strafgefangenen auf Einsicht in ein kriminologisch-prognostisches
Gutachten einer Dipl.-Psychologin
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluß des Landgerichts
Berlin - Strafvollstreckungskammer – vom 18. Januar 2006 – mit Ausnahme der
Bestimmung des Streitwerts - aufgehoben. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel wird
verpflichtet, dem Strafgefangenen eine Fotokopie des kriminologischen Gutachtens der
Diplom-Psychologin H. vom 27. Mai 1999 auszuhändigen.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen sowie die notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers trägt die Landeskasse Berlin.
Gründe
Der Beschwerdeführer verbüßt seit dem Jahr 1973 eine lebenslange Freiheitsstrafe
wegen Mordes in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Im Jahre 1999 erstellte die Diplom-
Psychologin H. im Auftrag der Senatsverwaltung für Justiz ein kriminalpsychologisches
Gutachten über den Beschwerdeführer, weil dieser schwer erkrankt war und ermittelt
werden sollte, ob etwaige vollzugslockernden Maßnahmen in Aussicht genommen
werden könnten. In den darauf folgenden Vollzugsplanfortschreibungen wird das
Gutachten nicht mehr erwähnt.
Mit Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin vom 21. Februar
2003 wurde der Antrag des Beschwerdeführers, den Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel
zu verpflichten, ihm eine Fotokopie des in Rede stehenden Gutachtens vom 27. Mai
1999 auszuhändigen, als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung der
Strafvollstreckungskammer hat der Beschwerdeführer kein Rechtsmittel eingelegt.
Mit dem angefochtenen Beschluß vom 18. Januar 2006 hat die
Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem er sich
gegen die erneute Ablehnung seines Antrags wendet, ihm eine Fotokopie des
Gutachtens auszuhändigen, abgelehnt.
Die gegen diesen Beschluß der Strafvollstreckungskammer gerichtete
Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts
rügt, hat Erfolg.
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde (§ 118 StVollzG) erfüllt die
besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG, weil es geboten
ist, die Nachprüfung der Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
zu ermöglichen. Der angefochtene Beschluß steht - jeweils in Teilen seiner Begründung –
den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 18. November 2004 – 1 BvR
2315/04 – (NJW 2005, 1103) und des OLG Koblenz vom 8. Mai 2003 – 1 Ws 31/03 –
(ZfStrVo 2003, 301) entgegen. Er widerspricht ferner dem nach seinem Erlaß
bekanntgewordenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Januar 2006 – 2
BvR 443/02 – (NJW 2006, 1116).
2. Gemäß § 185 StVollzG steht dem Strafgefangenen nach Maßgabe des § 19 BDSG ein
Anspruch auf Akteneinsicht zu, wenn er (zu Recht) geltend macht, daß auf Grund
bestimmter Umstände eine bloße Auskunftserteilung für die Wahrnehmung seiner
rechtlichen Interessen nicht ausreichend und er deswegen auf unmittelbare
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rechtlichen Interessen nicht ausreichend und er deswegen auf unmittelbare
Einsichtnahme angewiesen ist (vgl. OLG Frankfurt am Main, NStZ-RR 2005, 64; OLG
Koblenz, ZfStrVo 2003, 301, 302; OLG Hamm NStZ 2002, 615). Die vom
Beschwerdeführer beantragten Kopien aus der Akte sind eine Form dieser Akteneinsicht.
Zwar besteht das Recht auf Akteneinsicht nicht unbeschränkt. Der Betroffene muß
darlegen, daß der nach dem Gesetz vorrangige Auskunftsanspruch zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht ausreicht und die Notwendigkeit einer
Akteneinsicht besteht (vgl. KG, Beschluß vom 7. November 2003 – 4 VAs 26/03
m.w.Nachw.). Dies ist jedoch vorliegend der Fall.
a) Der Beschwerdeführer hat unter anderem vorgetragen, daß er sich "ein umfassendes
Bild über den Inhalt des über ihn erhobenen Gutachtens machen" und es
"gegebenenfalls durch ein Gegengutachten überprüfen lassen will". Er hat ferner
ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich um ein Gefahrenprognosegutachten
handelt. Damit hat er ausreichend sein Interesse an der Akteneinsicht dargelegt. Denn
ein solches Gutachten muß - unabhängig von seinem Alter und den Umständen seiner
Entstehung – bei der Entscheidung berücksichtigt werden, ob der Antragsteller, der sich
seit mehr als 30 Jahren in Haft befindet, gemäß § 57 a StGB jemals wieder der Freiheit
teilhaftig werden kann. Daß das Gutachten tatsächlich eine Gefahrenprognose enthielt,
hat die Strafvollstreckungskammer festgestellt.
Die dagegen erhobenen Einwendungen der Justizvollzugsanstalt Tegel, daß das
Gutachten keinerlei Wirkungen auf die Vollzugsplanung entfalte, sind unerheblich. Das
trifft bereits deshalb nicht zu, weil die bloße Nichterwähnung im Vollzugsplan den Schluß
der Gutachterin auf die Gefährlichkeit des Antragstellers und die Feststellung einer
schweren Persönlichkeitsstörung nicht aus der Welt schafft. In der
Vollzugsplanfortschreibung ist es entbehrlich, die bisherigen Regelungen sowie die
Erkenntnisse, auf denen sie beruhen, lediglich abzuschreiben, wenn für eine Änderung
kein Anlaß besteht (vgl. Senat NStZ 2001, 410 bei Matzke). Daraus folgt, daß aus der
bloßen Nichterwähnung des Gutachtens in den Vollzugsplanfortschreibungen ab 2000
nicht der Schluß gezogen werden darf, es habe seine Bedeutung verloren. Ebenso wurde
es nicht mit dem Abklingen der Krebserkrankung des Beschwerdeführers obsolet, weil
die dort attestierte Gefährlichkeit nicht ursächlich mit diesem Krankheitsbild verknüpft
war.
b) Das Akteneinsichtsrecht des Strafgefangenen ist grundsätzlich dem Recht des sich in
Freiheit befindenden Bürgers als Patienten anzugleichen. Der sich in Freiheit befindende
Bürger hat ein Recht auf Aktenauskunft und auch auf Akteneinsicht, abgeleitet aus dem
Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG,
welches ihm zu personaler Würde verhilft. Dies gilt auch im Bereich der ärztlichen
Untersuchungsberichte, denn ein Patient ist im Rahmen der Behandlung nicht als Objekt
zu behandeln (vgl. BVerfG NJW 2005, 1103, 1104). Zwar reicht es üblicherweise aus, daß
der behandelnde Arzt dem Patienten die Diagnose mündlich erläutert, doch gehört es
bei besonderen Fällen, wenn beispielsweise der Patient den Erläuterungen nicht folgen
kann, auch zur vertraglichen Pflicht des Arztes, die Ergebnisse der Untersuchung dem
Patienten schriftlich zugänglich zu machen (vgl. BVerfG a.a.O.)
c) Bei einem Strafgefangenen ergibt sich zudem die Besonderheit, daß er sich seine ihn
behandelnden Ärzte, Psychologen und Gutachter nicht nach eigenem Wunsch
aussuchen kann. Ferner gibt es für ihn keine Möglichkeit, in ein anderes
Behandlungsverhältnis zu wechseln, wenn ihm jedes Vertrauen zum Therapeuten fehlt
und nach seiner Wahrnehmung die Beziehung zerrüttet ist. Bei einer Versagung der
Einsicht in die Krankenunterlagen ist in einem solchen Fall das Selbstbestimmungsrecht
wesentlich intensiver berührt, als wenn sich der Betroffene aus einem
Behandlungsverhältnis löst und allein hierdurch sein Selbstbestimmungsrecht ausübt
(vgl. BVerfG NJW 2006, 1116, 1118 für einen im Maßregelvollzug Untergebrachten). Dem
Akteneinsichtsrecht eines inhaftierten Patienten ist daher als Ausfluß des
informationellen Selbstbestimmungsrechts eine hohe Bedeutung beizumessen, dem die
Vollzugsbehörde kein eigenes Zurückbehaltungsinteresse entgegengesetzt hat und das
folglich Vorrang genießt.
d) Der Beschwerdeführer hat ferner unwidersprochen vorgetragen, daß das Gutachten
vermutlich eine beachtliche Länge habe und zahlreiche Fremdwörter beinhalte. Aus
diesem Grund ist ohne weiteres davon auszugehen, daß der Strafgefangene, wenn er
sich mit diesem Schriftgut intensiv und textnah auseinandersetzen will, auf die Kenntnis
von dessen exaktem Wortlaut angewiesen ist, so daß eine Auskunft allein nicht genügt
(vgl. OLG Koblenz a.a.O.). Die Beantragung einer Fotokopie des Gutachtens ist daher
nicht zu beanstanden. Da die Sache spruchreif ist (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG), hat der
Senat die Verpflichtung der Vollzugsbehörde selbst ausgesprochen.
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fallen der Landeskasse Berlin zur Last (§§ 121 Abs. 4 StVollzG, §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3
StPO).
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