Urteil des EuGH vom 10.03.2011

EuGH: eröffnung des verfahrens, garantie, mitgliedstaat, zahlungsunfähigkeit, unternehmen, regierung, ffe, liquidation, fonds, beitragspflicht

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
10. März 2011)
„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinien 80/987/EWG und 2002/74/EG – Zahlungsunfähigkeit des
Arbeitgebers – Schutz der Arbeitnehmer – Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche –
Bestimmung der zuständigen Garantieeinrichtung – Günstigere Garantie nach nationalem Recht –
Möglichkeit, sich darauf zu berufen“
In der Rechtssache C‑477/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Cour de cassation
(Frankreich) mit Entscheidung vom 18. November 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 25.
November 2009, in dem Verfahren
Charles Defossez
gegen
Christian Wiart,
Office national de l’emploi – fonds de fermeture d’entreprises,
Centre de gestion et d’études de l’Association pour la gestion du régime de garantie des
créances des salariés de Lille (CGEA),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der
Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis und J. Malenovský,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Oktober 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Defossez, vertreten durch C. Uzan-Sarano, avocat,
– der CGEA Lille, vertreten durch E. Piwnica und J. Molinié, avocats,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und A. Czubinski als
Bevollmächtigte,
– der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und C. Vang als
Bevollmächtigte,
– Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Doherty, BL,
– der spanischen Regierung, vertreten durch F. Díez Moreno als Bevollmächtigten,
– der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
– der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Engman als Bevollmächtigten,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im
Beistand von D. J. Rhee, Barrister,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Rozet und J. Enegren als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. November 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 8 und 9 der Richtlinie 80/987/EWG
des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den
Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23) in der durch die
Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 (ABl.
L 270, S. 10) geänderten Fassung.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Defossez einerseits und Herrn
Wiart, handelnd als Liquidator des Unternehmens Sotimon SARL (im Folgenden: Sotimon), bei dem Herr
Defossez vor seiner rechtswidrigen Entlassung beschäftigt war, sowie dem Office national de l’emploi –
fonds de fermeture d’entreprises de l’Office national de l’emploi (belgisches nationales Arbeitsamt –
Fonds für Betriebsschließungen, im Folgenden: FFE) und dem Centre de gestion et d’études de
l’Association pour la gestion du régime de garantie des créances des salariés de Lille (CGEA)
(Zentrum für Verwaltung und Studien der Vereinigung für die Verwaltung des Systems der Garantie der
Arbeitnehmerforderungen Lille, im Folgenden: CGEA Lille) andererseits, bei dem es um nicht erfüllte
Lohnforderungen von Herrn Defossez wegen der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers geht.
Rechtlicher Rahmen
3 Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 80/987 gilt diese „für Ansprüche von Arbeitnehmern aus
Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des
Artikels 2 Absatz 1 sind“.
4 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig,
a) wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des betreffenden
Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers zur
gemeinschaftlichen Befriedigung seiner Gläubiger beantragt worden ist, das die
Berücksichtigung der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Ansprüche gestattet,
und
b) wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde
– entweder die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat,
– oder festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig
stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des
Verfahrens zu rechtfertigen.“
5 Art. 3 der Richtlinie 80/987 sieht die Pflicht der Mitgliedstaaten vor, die erforderlichen Maßnahmen zu
treffen, damit die Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der
Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen, die das Arbeitsentgelt für den vor einem
bestimmten Zeitpunkt liegenden Zeitraum betreffen, sicherstellen.
6 Art. 5 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten des Aufbaus, der Mittelaufbringung und der Arbeitsweise
der Garantieeinrichtungen fest, wobei sie insbesondere folgende Grundsätze beachten:
a) das Vermögen der Einrichtungen muss vom Betriebsvermögen der Arbeitgeber unabhängig und
so angelegt sein, dass es einem Verfahren bei Zahlungsunfähigkeit nicht zugänglich ist;
b) die Arbeitgeber müssen zur Mittelaufbringung beitragen, es sei denn, dass diese in vollem
Umfang durch die öffentliche Hand gewährleistet ist;
c) die Zahlungspflicht der Einrichtungen besteht unabhängig von der Erfüllung der Verpflichtungen,
zur Mittelaufbringung beizutragen.“
7 Nach Art. 9 der Richtlinie 80/987 schränkt diese nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten ein, für die
Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen.
8 Nach dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/74 ist es zur Gewährleistung der
Rechtssicherheit für die Arbeitnehmer von zahlungsunfähigen Unternehmen, die in mehreren
Mitgliedstaaten tätig sind, und zur Festlegung der Rechte dieser Arbeitnehmer im Sinne der
Rechtsprechung des Gerichtshofs angebracht, Bestimmungen einzuführen, die ausdrücklich festlegen,
welche Einrichtung in solchen Fällen für die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche
zuständig ist, und deren Ziel die Zusammenarbeit der zuständigen Verwaltungen der Mitgliedstaaten
zur schnellstmöglichen Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche ist. Ferner ist es
angebracht, eine ordnungsgemäße Anwendung der einschlägigen Bestimmungen dadurch zu
gewährleisten, dass eine Zusammenarbeit der zuständigen Verwaltungen der Mitgliedstaaten
vorgesehen wird.
9 Durch Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2002/74 wurden Vorschriften für grenzübergreifende Fälle und
insbesondere Art. 8a der Richtlinie 80/987 eingefügt. Nach Art. 8a Abs. 1 ist, wenn ein Unternehmen,
das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, zahlungsunfähig ist, für die
Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche die Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats
zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden Arbeitnehmer ihre Arbeit gewöhnlich verrichten
oder verrichtet haben.
10 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2002/74 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Rechts‑ und
Verwaltungsvorschriften erlassen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 8. Oktober 2005
nachzukommen, und dass sie diese Vorschriften auf jede Zahlungsunfähigkeit eines Arbeitgebers
anwenden, die nach dem Inkrafttreten dieser Vorschriften eintritt.
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage
11 Herr Defossez war in Belgien auf einer Baustelle als Polier und dann als Gruppenleiter beschäftigt,
und zwar ab März 1997 im Dienst des Unternehmens EBM SA, dann, ab September 2000, im Dienst von
Sotimon. Beide Unternehmen haben ihren Gesellschaftssitz in Frankreich.
12 Im Dezember 2003 wurde Herr Defossez entlassen. Am 15. Januar 2004 rief er den Conseil de
prud’hommes de Dunkerque an.
13 Durch Urteil des Tribunal de commerce de Dunkerque vom 1. Juni 2004 wurde gegen Sotimon das
Verfahren der gerichtlichen Liquidation eröffnet. Um die Befriedigung seiner Lohnansprüche zu
erwirken, beantragte Herr Defossez in erster Linie den Eintritt des CGEA Lille, hilfsweise des FFE.
14 Mit Urteil vom 30. Juni 2006 stellte der Conseil de prud’hommes de Dunkerque fest, dass die
Entlassung ohne tatsächlichen und schwerwiegenden Grund erfolgt sei. Er setzte infolgedessen die
Ansprüche von Herrn Defossez fest, indem er das Urteil für gegenüber dem CGEA Lille wirksam erklärte.
15 Mit Urteil vom 31. Januar 2008 wies die Cour d’appel de Douai die Forderungen von Herrn Defossez
den Passiva der gerichtlichen Liquidation von Sotimon zu und erklärte das Urteil für gegenüber dem
FFE wirksam und das CGEA Lille für aus dem Verfahren ausgeschieden.
16 Herr Defossez legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde ein. Zur Begründung rügte er, dass
die Cour d’appel de Douai, gestützt auf Art. 8a der Richtlinie 80/987 in der geänderten Fassung, seine
Klage auf Garantie gegen das CGEA Lille abgewiesen und die Garantie des FFE festgestellt habe.
17 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 8a der Richtlinie 80/987 in der durch die Richtlinie 2002/74 geänderten Fassung, der in Abs. 1
vorsieht, dass dann, wenn ein Unternehmen, das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten
tätig ist, zahlungsunfähig ist, für die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche die
Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats zuständig ist, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden
Arbeitnehmer ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben, und in Abs. 2, dass sich der
Umfang der Rechte der Arbeitnehmer nach dem für die zuständige Garantieeinrichtung geltenden
Recht richtet, dahin auszulegen, dass er die zuständige Einrichtung unter Ausschluss aller anderen
bestimmt, oder ist diese Bestimmung unter Berücksichtigung des Ziels der Richtlinie, der Festigung
der Rechte der Arbeitnehmer, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und von Art. 9
Abs. 1 der Richtlinie, wonach diese nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten einschränkt, für die
Arbeitnehmer günstigere Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen, dahin
auszulegen, dass sie dem Beschäftigten nicht das Recht nimmt, sich anstelle der Garantie dieser
Einrichtung auf die günstigere Garantie der Einrichtung zu berufen, bei der sich sein Arbeitgeber nach
nationalem Recht versichert und zu der dieser Beiträge entrichtet?
Zur Vorlagefrage
18 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2002/74 die Mitgliedstaaten die
Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, die erforderlich sind, um der Richtlinie bis zum 8.
Oktober 2005 nachzukommen, und die entsprechenden nationalen Bestimmungen auf jede
Zahlungsunfähigkeit eines Arbeitgebers anwenden, die nach dem Inkrafttreten dieser Vorschriften
eintritt.
19 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2002/74 im Fall ihrer
Nichtumsetzung unmittelbare Wirkung nur im Zusammenhang mit nach dem 8. Oktober 2005
eingetretenen Insolvenzfällen hat (Urteil vom 17. Januar 2008, Velasco Navarro, C‑246/06, Slg. 2008, I-
105, Randnrn. 27 bis 29).
20 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus der Richtlinie 2002/74 verstoßen hat, dass sie bei Ablauf der gesetzten Frist die Rechts- und
Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, nicht erlassen hat
(Urteil vom 27. September 2007, Kommission/Frankreich, C‑9/07, Randnr. 12).
21 Da das Verfahren der gerichtlichen Liquidation von Sotimon durch Urteil des Tribunal de commerce de
Dunkerque am 1. Juni 2004 eröffnet wurde, kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende
Zahlungsunfähigkeit nicht von der Richtlinie 2002/74 erfasst werden.
22 Die genaue Ermittlung, welche Bestimmungen unter Umständen wie denjenigen des
Ausgangsverfahrens Anwendung finden, ist umso wichtiger, als der Gerichtshof in den Randnrn. 20
und 25 bis 28 seines Urteils vom 16. Oktober 2008, Holmqvist (C‑310/07, Slg. 2008, I‑7871),
festgestellt hat, dass Art. 8a, der in die Richtlinie 80/987 durch die Richtlinie 2002/74 eingefügt wurde,
ein neues Kriterium für die Bestimmung der zuständigen Garantieeinrichtung eingeführt hat. Damit
stellt dieser Artikel eine inhaltliche Änderung der Bestimmungen der Richtlinie 80/987 dar. Somit führt
die rechtliche Beurteilung einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht notwendigerweise zum
selben Ergebnis, wenn sie nach den Bestimmungen der Richtlinie 80/987 in ihrer ursprünglichen
Fassung oder wenn sie nach dieser Richtlinie in der durch die Richtlinie 2002/74 geänderten Fassung
durchgeführt wird.
23 Unter diesen Umständen ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, indem für die
Entscheidung des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren die Bestimmungen der Richtlinie 80/987 in ihrer
Fassung vor den durch die Richtlinie 2002/74 vorgenommenen Änderungen ausgelegt werden.
24 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Richtlinie 80/987 zwar
keine Bestimmungen enthält, die sich ausdrücklich auf Forderungen von Arbeitnehmern beziehen, die
ihre Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung ihres Arbeitgebers
ausgeübt haben, sie aber dennoch auf solche Ansprüche anwendbar ist, und dass daher die für die
Befriedigung dieser Ansprüche zuständige Garantieeinrichtung nach den Vorschriften dieser Richtlinie
zu bestimmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 1997, Mosbæk, C‑117/96, Slg. 1997,
I‑5017, Randnrn. 16 und 19).
25 In Bezug auf einen solchen Sachverhalt hat der Gerichtshof entschieden, dass die nach Art. 3 der
Richtlinie 80/987 zuständige Garantieeinrichtung die Einrichtung des Mitgliedstaats ist, in dem im
Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie entweder die Eröffnung des Verfahrens zur gemeinschaftlichen
Gläubigerbefriedigung beschlossen oder die Stilllegung des Unternehmens oder des Betriebs des
Arbeitgebers festgestellt worden ist (vgl. Urteil Mosbæk, Randnrn. 20 und 27).
26 Ferner hat der Gerichtshof angenommen, dass es der Systematik der Richtlinie 80/987 entspricht,
dass diese zuständige Garantieeinrichtung, abgesehen vom Fall, dass deren Mittel in vollem Umfang
durch die öffentliche Hand aufgebracht werden, die Einrichtung ist, die die Beiträge vom
zahlungsunfähigen Arbeitgeber erhoben hat oder jedenfalls hätte erheben müssen (vgl. in diesem
Sinne Urteil Mosbæk, Randnrn. 24 und 25).
27 Ferner hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. Dezember 1999, Everson und Barrass (C‑198/98,
Slg. 1999, I-8903), auf das das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen verweist, in
dem entgegen dem Sachverhalt, der dem Urteil Mosbæk zugrunde lag, der zahlungsunfähige
Arbeitgeber über einen Betrieb, nämlich eine Zweigniederlassung in dem Mitgliedstaat verfügte, in
dessen Hoheitsgebiet die Beschäftigten ihrer Tätigkeit nachgingen, entschieden, dass die Einrichtung,
die zur Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche verpflichtet ist, die Einrichtung des Mitgliedstaats
ist, in dem sich die Zweigniederlassung befindet (Urteil Everson und Barrass, Randnr. 23). Außerdem
war die zuständige Garantieeinrichtung die Einrichtung des Mitgliedstaats, in dem die
Sozialversicherungsbeiträge, sowohl die Arbeitgeber‑ als auch die Arbeitnehmerbeträge, gezahlt
wurden.
28 In Bezug auf diese Umstände stellt das vorlegende Gericht zum einen klar, dass das Unternehmen,
das Herrn Defossez beschäftigt hatte, seinen Sitz in Frankreich hatte. Zum anderen geht aus den
Akten hervor, dass die Beiträge, die zur Deckung der möglichen Lohnforderungen bestimmt waren, im
selben Mitgliedstaat entrichtet wurden und der Arbeitgeber keinen Betrieb in Belgien hatte.
29 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die maßgeblichen Umstände des Ausgangsverfahrens
nicht denjenigen der Rechtssache entsprechen, in der das Urteil Everson und Barrass ergangen ist.
Dagegen entsprechen die maßgeblichen Umstände des Ausgangsverfahrens denjenigen der
Rechtssache, die dem Urteil Mosbæk zugrunde liegt.
30 Wenn daher ein Unternehmen, das einen Arbeitnehmer beschäftigt hat, nicht über einen Betrieb in
dem Mitgliedstaat verfügt, in dem dieser Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausübt, und dieses
Unternehmen Sozialbeiträge als Arbeitgeber an den Mitgliedstaat seines Sitzes entrichtet, ist die
gemäß Art. 3 der Richtlinie 80/987 zuständige Garantieeinrichtung für die Befriedigung der Ansprüche
des Arbeitnehmers aufgrund der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers die Einrichtung des
Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die gerichtliche Liquidation des Arbeitgebers angeordnet
worden ist.
31 Selbst wenn die Richtlinie 80/987 dem Arbeitnehmer nicht die Möglichkeit verleiht, zwischen
verschiedenen Einrichtungen zu wählen, schließt sie außerdem nicht die Möglichkeit für den
Arbeitnehmer aus, sich auf die Garantie einer anderen Einrichtung als der in Anwendung dieser
Richtlinie ermittelten zu berufen, wenn dies für ihn günstiger ist und das nationale Recht es vorsieht.
32 Die Richtlinie 80/987 soll nämlich den Arbeitnehmern auf der Ebene der Europäischen Union einen
Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gewährleisten (vgl. insbesondere Urteile vom
19. November 1991, Francovich u. a., C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I‑5357, Randnr. 3, und vom 16. Juli
2009, Visciano, C‑69/08, Slg. 2009, I‑6741, Randnr. 27), wobei die Mitgliedstaaten gemäß Art. 9 der
Richtlinie günstigere Bestimmungen anwenden oder erlassen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom
15. Mai 2003, Mau, C‑160/01, Slg. 2003, I‑4791, Randnr. 32, sowie vom 25. Januar 2007, Robins u. a.,
C‑278/05, Slg. 2007, I‑1053, Randnr. 40).
33 Damit untersagt es die Richtlinie 80/987 nicht, dass das Recht eines Mitgliedstaats vorsieht, dass
sich ein Arbeitnehmer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats ergänzend oder anstelle der
Lohngarantie, die von der in Anwendung dieser Richtlinie als zuständig bestimmten Einrichtung
geboten wird, auf die Lohngarantie der nationalen Einrichtung berufen kann, allerdings nur, soweit
diese Garantie ein höheres Schutzniveau für den Arbeitnehmer bietet.
34 Nach allem ist auf die Vorlagefrage zu antworten:
– Art. 3 der Richtlinie 80/987 in ihrer Fassung vor derjenigen, die sich aus ihrer Änderung durch
die Richtlinie 2002/74 ergibt, ist dahin auszulegen, dass für die Befriedigung der nicht erfüllten
Ansprüche eines Arbeitnehmers, der seine Beschäftigung gewöhnlich in einem anderen
Mitgliedstaat als dem ausgeübt hat, in dem sich der Sitz seines vor dem 8. Oktober 2005 für
zahlungsunfähig erklärten Arbeitgebers befindet, die Garantieeinrichtung des Mitgliedstaats des
Sitzes des Arbeitgebers für die in diesem Artikel festgelegten Verpflichtungen verantwortlich ist,
wenn dieser Arbeitgeber keinen Betrieb in diesem anderen Mitgliedstaat hat und seine
Beitragspflicht für die Finanzierung dieser Einrichtung im Mitgliedstaat seines Sitzes erfüllt.
– Die Richtlinie 80/987 untersagt es nicht, dass eine nationale Regelung vorsieht, dass sich ein
Arbeitnehmer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats ergänzend oder anstelle der Lohngarantie,
die von der in Anwendung dieser Richtlinie als zuständig bestimmten Einrichtung geboten wird,
auf die Lohngarantie der nationalen Regelung berufen kann, allerdings nur, soweit diese
Garantie ein höheres Schutzniveau für den Arbeitnehmer gewährt.
Kosten
35 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind
nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers in ihrer Fassung vor derjenigen, die sich aus ihrer
Änderung durch die Richtlinie 2002/74/EG ergibt, ist dahin auszulegen, dass für die
Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche eines Arbeitnehmers, der seine Beschäftigung
gewöhnlich in einem anderen Mitgliedstaat als dem ausgeübt hat, in dem sich der Sitz
seines vor dem 8. Oktober 2005 für zahlungsunfähig erklärten Arbeitgebers befindet, die
Garantieeinrichtung des Mitgliedstaats des Sitzes des Arbeitgebers für die in diesem
Artikel festgelegten Verpflichtungen verantwortlich ist, wenn dieser Arbeitgeber keinen
Betrieb in diesem anderen Mitgliedstaat hat und seine Beitragspflicht für die Finanzierung
dieser Einrichtung im Mitgliedstaat seines Sitzes erfüllt.
Die Richtlinie 80/987 untersagt es nicht, dass eine nationale Regelung vorsieht, dass sich
ein Arbeitnehmer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats ergänzend oder anstelle der
Lohngarantie, die von der in Anwendung dieser Richtlinie als zuständig bestimmten
Einrichtung geboten wird, auf die Lohngarantie der nationalen Regelung berufen kann,
allerdings nur, soweit diese Garantie ein höheres Schutzniveau für den Arbeitnehmer
gewährt.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Französisch.