Urteil des BVerwG vom 13.03.2017

BVerwG (rechtliches gehör, ermessen, verletzung, bundesverwaltungsgericht, aufklärungspflicht, auseinandersetzung, sache, verfahrensmangel, bremen, beschwerde)

Rechtsquellen:
VwGO § 86 Abs. 1, § 132 Abs. 2 Nr. 3; § 152a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 6
Stichworte:
Anhörungsrüge; rechtliches Gehör; Verfahrensmangel; Darlegungserfordernis;
Substantiierungspflicht; Aufklärungsrüge; Sachaufklärung; Sachverständigen-
gutachten; eigene Sachkunde des Gerichts; Verkehrsbedeutung einer Straße.
Leitsätze:
1. Eine Anhörungsrüge zeigt keine entscheidungserhebliche Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör auf (§ 152a Abs. 1 Nr. 2 VwGO), wenn sie
eine nähere Auseinandersetzung mit vermeintlich übergangenem Vorbringen
vermisst, das in der angefochtenen Entscheidung als unsubstantiiert bewertet
wurde. Ein Gehörsverstoß liegt nicht schon dann vor, wenn das Gericht das
Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, mithin auch
aus Gründen prozessualer Darlegungspflichten, unberücksichtigt lässt.
2. Das Tatsachengericht hat grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen zu
entscheiden, ob es sich selbst die für die Aufklärung und Würdigung des Sach-
verhalts erforderliche Sachkunde zutraut. Dieses Ermessen überschreitet das
Gericht erst dann, wenn es sich eine ihm nicht zur Verfügung stehende Sach-
kunde zuschreibt und sich nicht mehr in den Lebens- und Erkenntnisbereichen
bewegt, die den ihm angehörenden Richtern allgemein zugänglich sind
(stRspr.).
3. Ein Tatsachengericht kann sich in einfach gelagerten Fällen aufgrund eige-
ner Sachkunde für befugt halten, die Verkehrsbedeutung einer Straße (als dem
örtlichen oder überörtlichen Verkehr dienend) aufgrund ihrer Lage im Straßen-
netz zu beurteilen, es sei denn es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die
funktionalen Zusammenhänge so komplexer Natur sind, dass sie nur mithilfe
verkehrswissenschaftlichen Sachverstands zu beurteilen sind.
Beschluss des 9. Senats vom 13. Januar 2009 - BVerwG 9 B 64.08
I. VG Bremen vom 19.08.2004 - Az.: VG 2 K 606/03 -
II. OVG Bremen vom 13.02.2008 - Az.: OVG 2 A 447/07 –
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BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 64.08
BVerwG 9 B 34.08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. Januar 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:
Die Anhörungsrüge der Kläger gegen den Beschluss des
Senats vom 27. Oktober 2008 - BVerwG 9 B 34.08 - wird
zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Rügeverfahrens je zur
Hälfte.
G r ü n d e :
Die Anhörungsrüge hat keinen Erfolg. Der Senat hat den Anspruch der Kläger
auf rechtliches Gehör nicht verletzt (§ 152a Abs. 1 VwGO).
1. Die Anhörungsrüge knüpft daran an, dass der Senat die im vorangegange-
nen Beschwerdeverfahren erhobene Verfahrensrüge der Verletzung der ge-
richtlichen Aufklärungspflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO) zu-
rückgewiesen hat. Die Beschwerde hatte beanstandet, dass das Oberverwal-
tungsgericht es unterlassen hat, ein Verkehrsgutachten zur Verkehrsfunktion
des Bremer Straßennetzes insgesamt und zur streitgegenständlichen Straße im
Besonderen einzuholen. Diese Sachaufklärung hätte sich dem Berufungsge-
richt von Amts wegen aufdrängen müssen. Entgegen der Ansicht des Senats
im Beschluss vom 27. Oktober 2008 (dort Rn. 2 am Ende) sei dies in der Be-
schwerde auch substantiiert dargelegt worden. Der Senat habe den diesbezüg-
lichen Vortrag der Kläger zu Unrecht als unsubstantiiert angesehen; hierin liege
der Gehörsverstoß.
a) Eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör ist damit nicht aufgezeigt (§ 152a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 6 VwGO).
Denn die Anhörungsrüge gesteht zu, dass der Senat die in der seinerzeitigen
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Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Verfahrensrüge beschieden
hat. Die Anhörungsrüge beanstandet der Sache nach lediglich, dass der Senat
den diesbezüglichen Vortrag als nicht dem Darlegungserfordernis des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO genügend angesehen hat. Damit wendet sie sich in
Wahrheit gegen die prozessuale Rechtsanwendung des Senats. Ein Gehörs-
verstoß liegt aber nicht schon dann vor, wenn das Gericht dem zur Kenntnis
genommenen und in Erwägung gezogenen Vorbringen nicht folgt, sondern das
Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, mithin auch
aus Gründen prozessualer Darlegungspflichten, unberücksichtigt lässt oder zu
einem anderen Ergebnis gelangt, als der Beteiligte es für richtig hält. Nichts
anderes gilt, soweit die Anhörungsrüge Beschwerdevorbringen deshalb als
übergangen vermutet, weil sie eine nähere Auseinandersetzung des Senats mit
den Ausführungen der Beschwerdebegründung (S. 12 bis S. 13 Mitte) zur Ver-
kehrsbedeutung der Straßen B 74, L 149 und L 134 vermisst. Denn der An-
spruch auf rechtliches Gehör begründet - namentlich bei letztinstanzlichen, mit
ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen - keine
Pflicht der Gerichte, jedes Vorbringen der Verfahrensbeteiligten in den Gründen
der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden (stRspr., vgl. etwa die Beschlüs-
se vom 22. Mai 2006 - BVerwG 10 B 9.06 - NJW 2006, 2648 <2650> und vom
23. Juni 2008 - BVerwG 9 VR 13.08 - NVwZ 2008, 1027 <1028> m.w.N.).
b) Unabhängig davon vermag der Senat der Ansicht der Anhörungsrüge, der
behauptete Verfahrensmangel der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungs-
pflicht sei im Beschwerdeverfahren hinreichend substantiiert dargelegt worden,
nach erneuter Prüfung auch in der Sache nicht zu folgen.
Vielmehr verbleibt es dabei, dass die Aufklärungsrüge deshalb ohne Erfolg
bleiben musste und muss, weil - wie die Anhörungsrüge selbst einräumt - von
den anwaltlich vertretenen Klägern in der mündlichen Verhandlung vor dem
Oberverwaltungsgericht nicht durch Stellung eines Beweisantrags auf die von
ihnen nunmehr beanstandete unterbliebene Sachaufklärung hingewirkt worden
ist. In der Beschwerdebegründung vom 26. Mai 2008 ist auch nicht in der ge-
mäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO geforderten Weise dargelegt, dass die von den
Klägern vermisste Sachaufklärung sich dem Berufungsgericht ohne ein solches
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Hinwirken von Amts wegen hätte aufdrängen müssen. Zwar wird in der Be-
schwerdebegründung das Gegenteil behauptet, weil das Berufungsgericht die
Verkehrsbedeutung der streitgegenständlichen Straße „ An der Rekumer Müh-
le“ nicht aus eigener Sachkunde heraus habe beurteilen können (S. 11 unten).
Die anschließenden Ausführungen (S. 12 bis S. 13 Mitte) erschöpfen sich je-
doch darin, der rechtlichen und tatsächlichen Würdigung der Verkehrsfunktion
dieser Straße durch das Berufungsgericht (UA S. 18 unten bis S. 19 Mitte) eine
davon abweichende Bewertung, nämlich die der Kläger, entgegenzusetzen.
Damit ist aber nicht dargetan, dass und w a r u m , d.h. aufgrund welchen
Vortrags im erst- oder zweitinstanzlichen Verfahren oder sonstigen Aktenin-
halts, das Berufungsgericht auch ohne förmlichen Beweisantrag zu der Er-
kenntnis hätte kommen müssen, dass die Verkehrsfunktion der streitgegen-
ständlichen Straße d e r a r t s c h w i e r i g zu beurteilen war, dass es
hierüber nicht aufgrund eigener Sachkunde entscheiden konnte, z.B. weil die
funktionalen Zusammenhänge so komplexer Natur seien, dass die Einholung
eines Sachverständigengutachtens erforderlich gewesen wäre.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat das
Tatsachengericht grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen zu entschei-
den, ob es sich selbst die für die Aufklärung und Würdigung des Sachverhalts
erforderliche Sachkunde zutraut. Dieses Ermessen überschreitet das Gericht
erst dann, wenn es sich eine ihm nicht zur Verfügung stehende Sachkunde zu-
schreibt und sich nicht mehr in den Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt,
die den ihm angehörenden Richtern allgemein zugänglich sind (vgl. Urteile vom
10. November 1983 - BVerwG 3 C 56.82 - BVerwGE 68, 177 <182 f.> und vom
6. November 1986 - BVerwG 3 C 27.85 - BVerwGE 75, 119 <126 f.>; Be-
schluss vom 5. Januar 2006 - BVerwG 10 B 85.05 - juris Rn. 6). Hiervon aus-
gehend ist es nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht als ein mit
dem Erschließungs- und Ausbaubeitragsrecht befasster Spruchkörper aufgrund
der wiederkehrenden Sachverhalte und der dabei gewonnenen Erkenntnisse
sich in einem einfach gelagerten Fall, wie es dies für den Streitfall annehmen
durfte, eine hinreichende eigene Sachkunde beigemessen hat, die Verkehrs-
bedeutung einer Straße (als dem örtlichen oder überörtlichen Verkehr dienend)
aufgrund ihrer Lage im Straßennetz beurteilen zu können. Anders wäre es,
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wenn Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass wegen der besonderen Kompliziert-
heit des Streitfalls oder wegen der Wissenschaftbezogenheit des Sachgebiets
(vgl. Urteil vom 10. November 1983 a.a.O. S. 183) eine weitergehende Unter-
suchung der Verkehrsfunktion der Straße „ An der Rekumer Mühle“ mithilfe
verkehrswissenschaftlichen Sachverstands erforderlich war. Die Kläger haben
in der Beschwerdebegründung jedoch nicht dargelegt, dass und warum das
Berufungsgericht nach dem ihm vorliegenden Streitstand Letzteres hätte an-
nehmen müssen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Ausführungen in der
Beschwerdebegründung zum Verlauf der B 74, L 149 und L 139 geeignet ge-
wesen wären, dem Berufungsgericht die Notwendigkeit der Einholung eines
Sachverständigengutachtens vor Augen zu führen. Denn diesen Vortrag haben
die Kläger erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, nicht aber
vor den Tatsachengerichten unterbreitet. Dasselbe gilt für ihren weiteren
Schriftsatz vom 21. Oktober 2008, der im Übrigen erst nach Ablauf der Be-
schwerdebegründungsfrist (§ 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO) eingegangen ist.
2. Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass das Berufungsgericht auch nicht
verpflichtet war, die Kläger vorab darauf hinzuweisen, dass es die Verkehrsbe-
deutung der streitgegenständlichen Straße ohne Einholung eines Sachverstän-
digengutachtens bewerten und dies in Form einer „ Jedenfalls“ -Argumentation
zur Grundlage seines Urteils machen würde. Nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts folgt aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör
auch in der Ausprägung, die er in § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO gefun-
den hat, keine Pflicht des Gerichts zur umfassenden Erörterung aller entschei-
dungserheblichen Gesichtspunkte. Insbesondere muss das Gericht die Beteilig-
ten nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung
des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdi-
gung regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Beratung ergibt (vgl. Be-
schluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86
Abs. 3 VwGO Nr. 51 S. 2 m.w.N.). Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn das
Gericht seine Entscheidung auf Anforderungen an den Sachvortrag oder auf
sonstige rechtliche Gesichtspunkte stützen will, mit denen auch ein gewissen-
hafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf
- selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen -
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nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. Mai 1991 - 1 BvR
1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190> und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 -
BVerfGE 86, 133 <144 f.>). Von einer solchen Konstellation kann im Streitfall
keine Rede sein.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 S. 1 VwGO, § 100
Abs. 1 ZPO.
Dr. Storost
Domgörgen
Buchberger
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