Urteil des BVerwG vom 26.10.2004

BVerwG (bindungswirkung, wesentliche veränderung, verhältnis zu, auslegung, beschwerde, bundesverfassungsgericht, bremen, bundesverwaltungsgericht, gesetz, landesrecht)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 5.05
OVG 1 A 282/03
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. März 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H a h n und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien
Hansestadt Bremen vom 26. Oktober 2004 wird zurückgewie-
sen.
Die Kläger tragen je die Hälfte der Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Nach § 132 Abs. 2 VwGO kann die Revision nur zugelassen werden, wenn die
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Berufungsentscheidung von
einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der
obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht
und auf dieser Abweichung beruht oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird
und vorliegt, auf dem die Berufungsentscheidung beruhen kann. Wird wie hier die
Nichtzulassung der Revision mit der Beschwerde angefochten, muss in der Be-
schwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt oder die Entschei-
dung, von der das Berufungsurteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet
werden (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Prüfung des beschließenden Senats ist
demgemäß auf fristgerecht geltend gemachte Beschwerdegründe im Sinne des
§ 132 Abs. 2 VwGO beschränkt.
Die Rechtssache hat nicht die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im
Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer
- 3 -
Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Frage
des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des
Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt die Bezeichnung einer konkreten Rechtsfrage, die für
die Revisionsentscheidung erheblich sein wird, und einen Hinweis auf den Grund,
der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll. Die Beschwer-
de muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung
einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage
des revisiblen Rechts führen kann.
Die Kläger halten vor dem Hintergrund ihrer Pflichtzugehörigkeit zur Arbeitnehmer-
kammer nach dem Gesetz über die Arbeitnehmerkammer im Lande Bremen vom
28. März 2000 (GBl S. 83) die Frage für klärungsbedürftig, ob die (näher dargestell-
te) gesetzliche Regelung über die Arbeitnehmerkammer "mit Bundesverfassungs-
recht, nämlich den Gewährleistungen des Grundgesetzes aus Art. 2 Abs. 1, 5 Abs. 1,
9 Abs. 1 und 3, 12 Abs. 1 GG sowie dem aus diesen Gewährleistungen und Art. 20
Abs. 2 und 28 Abs. 1 GG abzuleitenden Demokratieprinzip zu vereinbaren ist". Diese
Frage führt auf keine Problematik des revisiblen Rechts.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vermag die Rüge
der Nichtbeachtung von Bundesrecht bei der Anwendung und Auslegung von Lan-
desrecht eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nur dann zu be-
gründen, wenn die Auslegung der - gegenüber dem Landesrecht als korrigierender
Maßstab angeführten - bundesrechtlichen Norm ihrerseits ungeklärte Fragen von
grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (Beschlüsse vom 9. März 1984 - BVerwG 7 B
238.81 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 49; vom 9. September 1988
- BVerwG 4 B 37.88 - BVerwGE 80, 201; vom 15. Dezember 1989 - BVerwG 7 B
177.89 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 277; vom 1. September 1992 - BVerwG
11 B 24.92 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 171 und vom 11. Dezember 2003
- BVerwG 6 B 69.03 -). Die angeblichen bundesrechtlichen Maßgaben, deren Trag-
weite und Klärungsbedürftigkeit im Hinblick auf die einschlägigen landesrechtlichen
Regelungen sowie die Entscheidungserheblichkeit ihrer Klärung in dem anhängigen
Verfahren wären in der Beschwerdebegründung darzulegen (BVerwG, Beschluss
vom 19. Juli 1995 - BVerwG 6 NB 1.95 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 104). Dem
- 4 -
Erfordernis einer Darlegung dieser Voraussetzungen wird nicht schon dadurch ge-
nügt, dass die maßgebliche Norm als verfassungsrechtlich bedenklich angesehen
wird. Vielmehr ist im Einzelnen darzulegen, gegen welche verfassungsrechtlichen
Normen verstoßen wird und ob sich bei der Auslegung dieser Normen alsdann Fra-
gen grundsätzlicher Bedeutung stellen, die sich noch nicht auf Grund bisheriger
oberstgerichtlicher Rechtsprechung - insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts -
beantworten lassen. Daran fehlt es.
Auch der Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. De-
zember 1974 - 1 BvR 430/65 und 259/66 - (BVerfGE 38, 281) betrifft keine noch un-
geklärte Frage des revisiblen Rechts. Die Kläger möchten geklärt wissen, "ob eine …
bundesverfassungsrechtliche Prüfung und Entscheidung, wie von den Klägern be-
gehrt, bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil die Bindungswirkung der Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.1974 - BVerfGE 38, 281 - ent-
gegenstehe". Soweit die Frage die Auslegung des § 31 BVerfGG betreffen könnte,
kann sie nicht zur Zulassung der Grundsatzrevision führen, weil Umfang und Gren-
zen der Bindungswirkung nach dieser Vorschrift in der Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts geklärt sind, soweit sie hier
von Bedeutung sein könnten.
Nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
richts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und
Behörden. Die Grundsätze, nach denen sich bestimmt, ob eine Senatsentscheidung
des Bundesverfassungsgerichts trotz einer Änderung der Rechtslage noch Bin-
dungswirkung entfaltet, sind in der Rechtsprechung geklärt. § 31 Abs. 1 BVerfGG
setzt danach unausgesprochen voraus, dass der Fall, welcher der die Bindungswir-
kung auslösenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt, und
der Fall, welcher vom Fachgericht als Adressat der Bindungswirkung zu entscheiden
ist, ein hohes Maß an Deckungsgleichheit aufweisen. Es muss sich um einen in je-
der wesentlichen Beziehung gleichgelagerten Fall bzw. einen echten Parallel- oder
Wiederholungsfall handeln, den die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
präjudiziert. In einer frühen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Auf-
fassung vertreten, durch § 31 Abs. 1 BVerfGG sei ausgeschlossen, dass derselbe
Sachverhalt noch einmal einer Nachprüfung in einem gerichtlichen oder behördli-
- 5 -
chen Verfahren unterworfen werden dürfe (BVerfG, Beschluss vom 29. November
1951 - 1 BvR 257/51 - BVerfGE 1, 89, 90). Auch wenn diese Formulierung an die
Wirkungen der materiellen Rechtskraft, die von der Bindungswirkung nach § 31
Abs. 1 BVerfGG zu unterscheiden ist, angenähert erscheint, so bleibt doch richtig,
dass es nicht allein die abstrakten verfassungsrechtlichen Obersätze als solche sind,
die Bindungswirkung entfalten, sondern diese in Verbindung mit der verfassungs-
rechtlichen Bewertung des konkreten, entschiedenen Sachverhalts. Eine derartige
Konstellation mit der Folge der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG liegt
typischerweise vor, wenn das Bundesverfassungsgericht - auch auf eine Verfas-
sungsbeschwerde hin - eine Rechtsnorm für mit dem Grundgesetz unvereinbar oder
vereinbar erklärt (Urteil vom 21. Juli 1998 - BVerwG 1 C 32.97 - Buchholz 451.09
IHKG Nr. 11 = DVBl 1999, 47; BVerfG, Beschluss vom 17. November 1998 - 1 BvL
10/98 - DStR 1999, 109, 110). Dies gilt auch, wenn das Bundesverfassungsgericht
nur oder auch eine bestimmte Auslegung des einfachen Rechts für verfassungskon-
form erklärt (BVerfG, Beschluss vom 20. Januar 1966 - 1 BvR 140/62 - BVerfGE 19,
377, 392; Beschluss vom 30. Juni 1976 - 2 BvR 284/76 - BVerfGE 42, 258, 260). In
all diesen Fällen kann bei unveränderter Sach- und Rechtslage die auf die jeweilige
Rechtsnorm bezogene verfassungsrechtliche Frage dem Bundesverfassungsgericht
nicht erneut vorgelegt werden, vielmehr ist die bereits erfolgte verfassungsrechtliche
Bewertung bei der anstehenden fachgerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen.
Auf diese Weise dient § 31 Abs. 1 BVerfGG der Entlastung des Bundesverfassungs-
gerichts von der Befassung mit zahllosen Wiederholungsfällen und sichert zugleich
dessen Autorität als des maßgeblichen Interpreten des Grundgesetzes. Zur Bestim-
mung der Reichweite der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG, d.h. hier: zur
Bestimmung dessen, was ein in jeder Beziehung gleichgelagerter Fall ist, ist nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Entscheidungs-
formel und die sie tragenden Gründe zurückzugreifen. Tragend ist dabei derjenige
Teil der Entscheidungsbegründung, der aus der Deduktion des Gerichts nicht mehr
hinwegzudenken ist, ohne dass sich das im Tenor formulierte Ergebnis ändert (zum
Ganzen Urteil vom 24. März 1999 - BVerwG 6 C 9.98 - BVerwGE 108, 355 =
Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 125). Eine Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts zu einer früheren Rechtslage hindert seine erneute Befassung mit
einem dieselbe Sachmaterie regelnden Gesetz nicht, wenn sich "wesentliche Verän-
derungen" ergeben haben (BVerfG, Beschlüsse vom 8. März 1988 - 1 BvL 9/85 und
- 6 -
43/86 - BVerfGE 78, 38, <48> und vom 12. Juni 1990 - 1 BvL 72/86 - BVerfGE 82,
198 <205>).
Unter welchen Umständen in diesem Sinne ein gleichgelagerter Fall oder eine we-
sentliche Veränderung vorliegt, ist eine Frage der Umstände des Einzelfalles. Diese
betreffen hier ausschließlich das Landesrecht, nämlich die Problematik, welche Qua-
lität die Änderungen des Gesetzes über die Arbeitnehmerkammern im Lande
Bremen vom 28. März 2000 im Verhältnis zu dem Gesetz über die Arbeitnehmer-
kammern im Lande Bremen vom 3. Juli 1956 (GBl S. 79 = SaBremR 70-c-1) mit
nachfolgenden Änderungen haben. Das ist keine Frage des revisiblen Rechts.
2. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO,
§ 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf
§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG, § 5 ZPO in entsprechender Anwendung.
Bardenhewer Hahn Graulich