Urteil des BVerfG vom 18.10.2012

rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, strafbefehl, zustellung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Alexander Eberth, Dr. Kai Wagler,
Sascha Prosotowitz, Jörg Sklebitz,
Florian Wurtinger, Hermann Beer,
Kaiserstraße 14/II, 80801 München -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2776/10 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W.,
gegen a) den Beschluss des Landgerichts München I vom 27. Oktober 2010 - 22
Qs 77/10 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts München vom 30. August 2010 - 933
Cs 498 Js 110165/10 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
am 18. Oktober 2012 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 27. Oktober 2010
- 22 Qs 77/10 - und des Amtsgerichts München vom 30. August 2010
- 933 Cs 498 Js 110165/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten
aus Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden
aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im
Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000,00 € (in Worten: achttausend Euro)
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festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die
Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der
Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl.
1. Mit Strafbefehl vom 6. Juli 2010 setzte das Amtsgericht München gegen den
Beschwerdeführer wegen eines fahrlässig begangenen Delikts nach § 316 StGB eine
Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 40,00 € fest. Dem lag der Vorwurf
zugrunde, der Beschwerdeführer habe am 26. August 2009 gegen 12.45 Uhr mit
sei nem Motorroller am Straßenverkehr teilgenommen, obwohl er infolge des
vorangegangenen Genusses berauschender Mittel fahruntüchtig gewesen sei. Dem
Beschwerdeführer wurde die Fahrerlaubnis entzogen. Die Einziehung seines
Führerscheins wurde angeordnet, eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der
Fahrerlaubnis von acht Monaten festgesetzt sowie ein Fahrverbot von drei Monaten
verhängt.
Der Strafbefehl ist dem Beschwerdeführer am 15. Juli 2010 durch Einwurf in den
Hausbriefkasten seines ständigen Wohnsitzes im Inland zugestellt worden.
2. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 10. August 2010 legte der
Beschwerdeführer Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte wegen der
versäumten Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er habe sich in
der Zeit vom 12. Juli 2010 bis einschließlich 5. August 2010 urlaubsbedingt bei
seinen Verwandten in Kroatien aufgehalten. Zur Glaubhaftmachung legte er eine
eigene eidesstattliche Versicherung vor.
Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 30. August 2010 wurde der Antrag
des Beschwerdeführers als unbegründet verworfen. Die Tatsachen zur Begründung
des Wiedereinsetzungsantrages seien nicht nach § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO glaubhaft
gemacht, da bei längerfristiger Urlaubsabwesenheit besondere Vorkehrungen zu
treffen seien, um rechtzeitig Kenntnis von Zustellungen zu erlangen.
3. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz seines
Verteidigers sofortige Beschwerde ein. Zur Glaubhaftmachung wurde ergänzend eine
weitere eidesstattliche Versicherung einer Verwandten, bei der sich der
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Beschwerdeführer in Kroatien aufgehalten habe, vorgelegt.
Die sofortige Beschwerde wurde mit Beschluss des Landgerichts München I vom
27. Oktober 2010 als unbegründet zurückgewiesen. Aufgrund der nunmehr
vorgelegten eidesstattlichen Versicherung sei zwar glaubhaft gemacht, dass sich der
Beschwerdeführer im Zeitraum der Zustellung des Strafbefehls in Kroatien
aufgehalten habe. Er könne sich aber nicht auf den Grundsatz berufen, dass bei
vorübergehender Abwesenheit keine Pflicht bestehe, Vorkehrungen zu treffen, um
von Zustellungen Kenntnis zu erlangen. Denn er sei durch die Polizeibehörden als
Beschuldigter vernommen worden; dabei seien ihm der Tatvorwurf und die gegen ihn
geführten Ermittlungen bekannt gegeben worden.
II.
1.
Mit
der
fristgerecht
erhobenen Verfassungsbeschwerde macht der
Beschwerdeführer geltend, durch die angegriffenen Gerichtsentscheidungen sei er in
seinen Verfahrensgrundrechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Die Gerichte im Wiedereinsetzungsverfahren hätten - soweit sie von ihm verlangt
hätten, wegen seiner urlaubsbedingten Abwesenheit von drei Wochen besondere
Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen zu treffen - die Anforderungen zur
Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrnehmung des rechtlichen
Gehörs im Strafverfahren überspannt. Trotz Entnahme einer Blutprobe und der
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens habe er nicht damit rechnen müssen, dass
ihm etwa ein Jahr später während einer vorübergehenden Abwesenheit von seinem
ständigen Wohnsitz für die Dauer von drei Wochen während der Hauptferienzeit ein
Strafbefehl zugestellt werde.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte
Gelegenheit
zur Stellungnahme; es hat von einer Stellungnahme im
Verfassungsbeschwerdeverfahren abgesehen.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht
vorgelegen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr
statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung der Verfahrensgrundrechte des
Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung
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durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1.
Die
Verfassungsbeschwerde
ist
zulässig. Insbesondere war der
Beschwerdeführer - trotz Rüge der Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf
rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG - nicht gehalten, zur Erschöpfung des
Rechtsweges gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zuvor Anhörungsrüge nach § 33a
StPO zu erheben. Er rügt nicht die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches
Gehör im Wiedereinsetzungsverfahren, sondern die Versagung des rechtlichen
Gehörs durch Verweigerung des Zugangs zum gerichtlichen Einspruchsverfahren als
Ergebnis des Wiedereinsetzungsverfahrens. Er war daher nicht verpflichtet, mit einer
Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO gegen den Beschluss des Landgerichts
vorzugehen, weil dieses der behaupteten Gehörsverletzung durch das Amtsgericht
nicht abgeholfen hat. Ein solches Vorgehen wäre nur dann erforderlich gewesen,
wenn er eine neue und eigenständige Verletzung seines Gehörs durch das
Landgericht hätte rügen wollen (vgl. BVerfGE 107, 395 <411>; BVerfGK 11, 390
<393>; 13, 496 <499 f.>).
2. Das Amtsgericht hat dadurch, dass es die Wiedereinsetzung in die versäumte
Einspruchsfrist verweigert hat, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Art. 19 Abs. 4 GG und seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör
gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts hat
durch die Bestätigung der Entscheidung des Amtsgerichts den Verfassungsverstoß
perpetuiert.
a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen
Akte öffentlicher Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die
Vorschrift garantierten Rechtsweges der jeweiligen Prozessordnung. Bei der
Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den
Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer
Weise erschweren (vgl. BVerfGE 44, 302 <305>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>).
Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben
und vorbringen muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht
überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; 110, 339 <342> ).
Bei Versäumnis einer Frist - wie hier der Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl -
hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Der Anspruch auf rechtliches
Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verlangt daher ebenfalls, bei Anwendung und
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Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur
Erlangung der Wiedereinsetzung nicht zu überspannen (vgl. BVerfGE 25, 158 <166>;
26, 315 <318>; 31, 388 <390>; 40, 46 <49 f.>; 40, 95 <99> ). Dies gilt insbesondere in
d e n Fällen des ersten Zugangs zum Gericht, in denen das Rechtsinstitut der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unmittelbar der Verwirklichung
verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien dient (vgl. BVerfGE 40, 88
<91>; 54, 80 <83 f.>; 67, 208 <212 f.> ).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf es dem Bürger nicht
als ein die Wiedereinsetzung ausschließender Umstand zugerechnet werden, wenn
er wegen einer nur vorübergehenden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung
keine besonderen Vorkehrungen wegen der möglichen Zustellung eines
Bußgeldbescheids oder Strafbefehls getroffen hat (vgl. BVerfGE 37, 100 <102>; 40,
8 8 <91 f.>; 40, 182 <186>; 41, 332 <335>). Es kommt nicht darauf an, ob die
urlaubsbedingte Abwesenheit - wie hier - in die „allgemeine Ferienzeit“ oder eine
sonstige Jahreszeit fällt. Entscheidend ist allein, dass die Abwesenheit eine nur
vorübergehende und relativ kurzfristige - längstens etwa sechs Wochen - von einer
sonst ständig benutzten Wohnung ist (vgl. BVerfGE 40, 182 <186>; 41, 332 <336>).
Das gilt auch dann, wenn er weiß, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren anhängig
ist, oder er als Beschuldigter oder Betroffener vernommen wurde (vgl. BVerfGE 25,
158 <166>; 34, 154 <156 f.> ).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen
Entscheidungen nicht gerecht. Die Gerichte im Wiedereinsetzungsverfahren haben
d i e Anforderungen an die Voraussetzungen für die Gewährung von
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ersichtlich überspannt und dem
Beschwerdeführer dadurch den ersten Zugang zum Gericht verwehrt.
aa) Sie beruhen auf der Annahme einer Obliegenheit, bereits bei einer
vorübergehenden urlaubsbedingten Abwesenheit von nur etwa drei Wochen
besondere Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Dies
widerspricht den dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäben.
bb) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer als Beschuldigter vernommen worden
war und ihm der Tatvorwurf sowie die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekannt
gegeben wurden, führt - entgegen der Auffassung des Landgerichts - zu keiner
anderen Bewertung, zumal seit der Feststellung der Tat und der Anhörung des
Betroffenen am 26. August 2009 bis zur Zustellung des Strafbefehls am 15. Juli 2010
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fast ein Jahr vergangen war und daher für den Beschwerdeführer keine besondere
Veranlassung bestand, die Zustellung eines Strafbefehls während der allgemeinen
Urlaubszeit in Betracht zu ziehen.
3. Die angegriffenen Gerichtsbeschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts
sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c
Abs. 2 i. V. m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
IV.
Die
Entscheidung
über
die
Auslagenerstattung im
Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche
Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 4.000,00 € und,
wenn wie hier der Verfassungsbeschwerde durch die Entscheidung einer Kammer
stattgegeben wird, in der Regel 8.000,00 €. Weder die objektive Bedeutung der
Sache
noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen
Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.
Lübbe-Wolff
Huber
Kessal-Wulf