Urteil des BVerfG vom 08.03.2012

wohl des kindes, verfassungsbeschwerde, elternrecht, jugendamt

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Angelika Kässens, Patrick Katenhusen,
Kanonierstraße 1, 26135 Oldenburg -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 206/12 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1.
der Frau R...,
2.
des Herrn R...,
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 23. Dezember
2011 - 11 UF 213/11 -,
b) die Beschlüsse des Amtsgerichts Osnabrück vom 24. November 2011
und 25. November 2011 - 45 F 128/11 SO -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Paulus
und die Richterin Britz
am 8. März 2012 einstimmig beschlossen:
1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Osnabrück vom 24. November 2011
und 25. November 2011 - 45 F 128/11 SO - und des Oberlandesgerichts
Oldenburg vom 23. Dezember 2011 - 11 UF 213/11 - verletzen die
Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des
Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg wird aufgehoben und die
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Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Oldenburg
zurückverwiesen.
2. Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung.
3. Das Land Niedersachsen hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen
Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
4. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro)
und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung auf 4.000 € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen den Entzug der elterlichen Sorge für
ihren Sohn im Wege der einstweiligen Anordnung.
1. Aus der Ehe der Beschwerdeführer ist ein inzwischen dreijähriger Sohn
hervorgegangen. Im Februar 2011 meldete sich der Kindesvater beim sozialen Dienst
u n d ersuchte um Hilfe bei der Erziehung. Er berichtete von psychischen
Auffälligkeiten seiner Frau, die seit Geburt des Sohnes bestünden. Nach
Einschaltung des Jugendamts wurde das Kind mit Einverständnis der Kindeseltern
für einige Tage bei den Großeltern väterlicherseits untergebracht. Nachdem bei dem
Kind globale Entwicklungsverzögerungen um circa ein Jahr festgestellt wurden,
erfolgte eine Frühförderung des Kindes, die am 5. Juli 2011 endete. Seit August 2011
besucht das Kind einen heilpädagogischen Kindergarten. Im selben Monat erfolgte
der Abbruch einer in der Familie für rund dreieinhalb Monate durchgeführten
Familienhilfe durch die Kindeseltern. Das Jugendamt ersuchte sodann das
Familiengericht um Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung des Kindes.
a) Durch Beschluss des Amtsgerichts Osnabrück vom 24. November 2011, welcher
mit Beschluss vom 25. November 2011 ergänzt wurde, wurde das Recht der
elterlichen Sorge für das Kind den Beschwerdeführern im Wege der einstweiligen
Anordnung entzogen und auf das Jugendamt als Vormund übertragen. Nach dem
Inhalt der mündlichen Verhandlung bestehe für das Kind eine erhebliche
Kindeswohlgefährdung, die es erforderlich mache, das Kind sofort in Obhut zu
nehmen. Es sei nicht sichergestellt, dass das Kind etwa bei Erkrankungen, die
erhebliche Auswirkungen und Spätfolgen haben könnten, einem behandelnden Arzt
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vorgestellt werde. Das Kind habe im zweiten Lebensjahr eine Schädelfraktur erlitten,
deren Herkunft die Eltern nicht hätten erläutern können. Es habe zwischen den
Untersuchungen U6 und U7 drastische Rückschritte in der motorischen und
sprachlichen Entwicklung gemacht. Bei dem Kind bestehe eine erhebliche
emotionale Vernachlässigung und es werde von seinen Eltern nicht ausreichend
gefördert. Da die Eltern nicht bereit seien, ambulante Hilfestellungen zu akzeptieren,
sei eine sofortige Herausnahme des Kindes gemäß § 1666 BGB erforderlich.
b) In ihrer hiergegen eingelegten Beschwerde führten die Beschwerdeführer unter
anderem aus, dass die Großmutter väterlicherseits im selben Stadtteil wie die
Kindeseltern lebe und das Kind von Geburt an kenne. Das Kind werde gelegentlich
tagsüber für einige Stunden von der Großmutter betreut und habe eine enge
Beziehung zu ihr. Die Großmutter sei 70 Jahre alt, in guter körperlicher Verfassung
und stehe als Betreuungsperson zur Verfügung. Die Großmutter wurde hierfür als
Zeugin benannt.
c) Die Beschwerde sowie ein Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung
wurden mit Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 23. Dezember 2011
als unbegründet zurückgewiesen. Der Entzug der elterlichen Sorge im Wege der
einstweiligen Anordnung sei unerlässlich gewesen. Bei dem Kind seien gravierende
Entwicklungsdefizite festgestellt worden. Zwar sei nicht hinreichend gesichert, worauf
die festgestellte globale Entwicklungsretardierung beruhe. Es bestünden jedoch
aufgrund der Schilderungen der als Zeugen vernommenen Familienhelfer über ihre
Beobachtungen während der Hausbesuche bei den Kindeseltern hinreichende
Anhaltspunkte dafür, dass Ursache hierfür die mangelnde Erziehungsfähigkeit der
Kindeseltern sei. Hiernach sei auf die körperlichen Bedürfnisse des Kindes oftmals
nicht angemessen reagiert worden, eine altersangemessene Förderung des Kindes
sei unterblieben und die Gesundheitssorge sei nur nachlässig durchgeführt worden.
Der Abbruch der Familienhilfe und die seitherige Verweigerung jeglicher staatlicher
Hilfe führten dazu, dass bei einem weiteren Verbleib des Kindes in der elterlichen
Obhut dessen körperliches Wohl akut gefährdet wäre. Im Hinblick auf die sorglose
Verhaltensweise der Kindeseltern anlässlich einer bei dem Kind eingetretenen
Fiebererkrankung sowie eines Schädelbruchs des Kindes sei nicht hinreichend
sichergestellt, dass die Kindeseltern bei einer Erkrankung von ihrem Kind
angemessen und am Kindeswohl orientiert reagieren würden. Anhand der
Beobachtungen der Bereitschaftspflegemutter im Rahmen der Besuchskontakte habe
sich zudem gezeigt, dass mangels emotionaler Zuwendung auch das seelische Wohl
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des Kindes bei einem weiteren Verbleib in der Obhut der Eltern akut gefährdet wäre.
Mildere Maßnahmen kämen nicht in Betracht. Die Kindeseltern lehnten jegliche
staatliche Hilfemaßnahmen ab. Die von den Kindeseltern benannte Cousine sei ohne
Entschuldigung zum Termin nicht erschienen, so dass sich der Senat kein Bild davon
habe machen können, ob die Cousine als vorläufiger Vormund für das Kind in
Betracht komme. Überdies bestehe nach eigenen Angaben des Kindesvaters kein
besonderes Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Kind. Die Großmutter sei von
den Kindeseltern als Vormund nicht ausdrücklich benannt worden.
2. Mit ihrer am 27. Januar 2012 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügen die
Beschwerdeführer die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Die
Fachgerichte hätten völlig einseitig den Tatsachenvortrag des Jugendamts
übernommen, ohne diese Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Die
a n g e n o m m e n e Erziehungsungeeignetheit
der
Eltern
sei
durch
ein
familienpsychologisches Sachverständigengutachten abzuklären. Die Fachgerichte
hätten nicht geprüft, ob anderweitige mildere Maßnahmen beispielsweise in Form der
regelmäßigen Vorstellung des Kindes beim Arzt oder gegebenenfalls des Entzugs
der Gesundheitsfürsorge in Betracht kämen. Ferner hätten die Gerichte bei der
Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht berücksichtigt, dass nahe
Angehörige oder sonstige Bezugspersonen bei einer Vormundsauswahl
bevorrechtigt berücksichtigt werden müssten. In der Beschwerdebegründung sei
ausdrücklich die Großmutter väterlicherseits als Zeugin benannt worden, die als
Betreuungsperson zur Verfügung stehe und das Kind gut kenne.
3. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.
4.
Die
Verfassungsbeschwerde
wurde
dem Niedersächsischen
Justizministerium, dem Jugendamt der Stadt O. und der Verfahrensbeiständin
zugestellt. Das Niedersächsische Justizministerium hat keine Stellungnahme
abgegeben. Das Jugendamt und die Verfahrensbeiständin haben sich jeweils den
Gründen der angegriffenen Entscheidungen angeschlossen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr
statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Elternrechts
der Beschwerdeführer geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser
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Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die
Verfassungsbeschwerde offensichtlich zulässig und begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz
1 BVerfGG).
a) Die Beschwerdeführer werden durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrem
Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.
aa) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und
Erziehung ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in die
Verantwortung der Eltern gelegt. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen
Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und
Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden
wollen ( BVerfGE 60, 79 <88> ). In der Beziehung zum Kind muss aber das
Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein
(BVerfGE 60, 79 <88> m.w.N.). Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter
gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des
Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173> ).
Soweit es um die Trennung des Kindes von seinen Eltern als dem stärksten Eingriff
in das Elternrecht geht, ist dieser allein unter den engen Voraussetzungen des Art. 6
Abs. 3 GG zulässig. Danach dürfen Kinder gegen den Willen des Sorgeberechtigten
nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die
Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu
verwahrlosen drohen (vgl. BVerfGE 72, 122 <137 f.> ). Das elterliche Fehlverhalten
muss dabei ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in
der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig
gefährdet ist ( BVerfGE 60, 79 <91> ).
Wenn Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen und damit zugleich die
Aufrechterhaltung der Trennung der Kinder von ihnen gesichert werden soll, darf dies
zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen
(vgl. BVerfGE 60, 79 <89> ). Dieser gebietet es, dass Art und Ausmaß des staatlichen
Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen
müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss daher nach
Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder
Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern
gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (vgl. BVerfGE 24, 119 <145>; 60, 79
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<93>).
bb) Danach sind die Fachgerichte in den angegriffenen Entscheidungen den
Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht geworden.
(1) Die Fachgerichte sind zunächst in nachvollziehbarer sowie verfassungsrechtlich
nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass angesichts der
berichteten
allgemeinen Entwicklungsverzögerungen des Kindes sowie der
nachlässigen Gesundheitssorge für das Kind hinreichende Anhaltspunkte für eine
erhebliche Kindeswohlgefährdung gegeben sind, die eine Entziehung des
Sorgerechts für das Kind erfordern. Die Bewertung haben die Gerichte in
verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auf der Grundlage der
Stellungnahmen des Jugendamts, der Familienhelfer und der Verfahrensbeiständin
ohne Überschreitung der Grenzen des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
getroffen.
Das Oberlandesgericht hat nachvollziehbar dargestellt, dass gravierende
Entwicklungsverzögerungen des Kindes bestehen, deren Ursache die mangelnde
Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern ist. Diese Ansicht wird insbesondere durch die
berichteten Beobachtungen der Pflegemutter anlässlich der Besuchskontakte
gestützt. Auch die weiteren Angaben der Familienhelfer und des Jugendamts in der
mündlichen Verhandlung sowie der Verfahrensbeiständin bestätigen die Annahme,
dass das Kind durch seine Eltern nicht ausreichend gefördert wurde, nachdem ein
insgesamt fürsorglicher Umgang mit dem Kind nicht beobachtet werden konnte.
Ferner unterliegt es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die
Fachgerichte im Hinblick auf die nachlässige gesundheitliche Versorgung des Kindes
von einer erheblichen Gefährdung für das körperliche Wohl des Kindes ausgegangen
sind. Dies zeigen nicht nur die in den angegriffenen Entscheidungen geschilderten
Vorgänge hinsichtlich einer Fiebererkrankung und eines Schädelbruchs des Kindes,
sondern auch der Umstand, dass sich der Vater aus nicht nachvollziehbaren Motiven
weigert, die Krankenkassenkarte, deren Besitz unabdingbar für eine ärztliche
Versorgung des Kindes ist, an die Pflegefamilie herauszugeben.
(2) Soweit die Beschwerdeführer rügen, dass die Gerichte die einstweilige
Anordnung ohne vorherige Einholung eines Sachverständigengutachtens getroffen
haben, greift ihr Einwand nicht durch. Das Verfahren muss zwar grundsätzlich
geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl
orientierte
Entscheidung
zu erlangen.
Die
Fachgerichte
sind
aber
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verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen
(vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Sie müssen allerdings anderweit über eine
hinreichend zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfGK 9, 274
<279>).
Die Gerichte haben sich vorliegend zur Überzeugungsbildung hinreichender
Beweismittel in Gestalt der persönlichen Anhörung des Kindes, der Kindeseltern, der
Verfahrensbeiständin sowie des Jugendamts und der Familienhelfer bedient.
Tatsachen, die darüber hinaus im Rahmen des Eilverfahrens die Einholung eines
kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens erfordert hätten, ergeben sich
aus dem Vorbringen der Beschwerdeführer nicht.
(3) Die angegriffenen Entscheidungen lassen allerdings hinsichtlich der Auswahl
der angeordneten Maßnahmen eine hinreichende Auseinandersetzung mit den
Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vermissen. Die Fachgerichte
haben von ihrem nach § 1779 Abs. 2 BGB eingeräumten Auswahlermessen nur
unzureichenden Gebrauch gemacht und damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
verletzt.
(a) Es ist nicht hinreichend dargelegt, dass die konkret getroffenen Anordnungen zur
Sicherung des Kindeswohls erforderlich sind. Erforderlich ist eine Maßnahme dann,
wenn von den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das
mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel
gewählt wird ( BVerfGE 100, 313 <375>). Die Gerichte mussten sich insoweit damit
auseinandersetzen, ob mildere Mittel zur Verfügung standen, die ebenso geeignet
gewesen wären, die festgestellte Gefährdung von dem Kind abzuwenden.
Als mildere Maßnahme wäre insbesondere die Anordnung der Vormundschaft der
Großmutter väterlicherseits in Betracht zu ziehen gewesen.
Gemäß § 1773 Abs. 1 in Verbindung mit § 1779 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht
für einen Minderjährigen, der nicht unter elterlicher Sorge steht, einen Vormund
auszuwählen. Dabei hat das Familiengericht bei der Auswahl mehrerer geeigneter
Personen unter anderem den mutmaßlichen Willen der Eltern, die persönlichen
Bindungen des Mündels und die Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit dem
Mündel zu beachten, § 1779 Abs. 2 BGB. Durch § 1779 Abs. 2 BGB hat der
Gesetzgeber die Grundlage für einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den
verfassungsrechtlichen Positionen der Betroffenen, insbesondere mit dem durch
Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Elternrecht, geschaffen. Unter mehreren geeigneten
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Vormündern hat das Familiengericht die Auswahl nach seinem pflichtgemäßen
Ermessen zu treffen. Dieses Ermessen hat der Gesetzgeber aber wiederum in
verfassungsgemäßer Konkretisierung der widerstreitenden grundrechtlichen Belange
rechtlich durch § 1779 Abs. 2 Satz 2 BGB sowie durch § 1775 BGB gebunden (vgl.
Wagenitz, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 1779 Rn. 4).
Soweit Elternwille oder Kindesbindung nicht bereits eindeutig die Auswahl
eines bestimmten Vormunds verlangen, hat das Familiengericht Verwandte und
Verschwägerte des Mündels zu ermitteln. Das Gericht wählt unter den geeigneten
Familienangehörigen nach pflichtgemäßem Ermessen aus (vgl. Wagenitz, a.a.O.,
§
1779
Rn.
10).
Eine
unzureichende
Prüfung,
welche geeigneten
Familienangehörigen vorhanden sind, beeinträchtigt die mit der gesetzlichen
Auswahlvorschrift geschützten Grundrechte der Betroffenen.
Angesichts der von den Beschwerdeführern benannten Verwandten, die als
Betreuungspersonen in Betracht kommen, hätte es hier besonders sorgfältiger
Erwägungen und Ausführungen zur Auswahl des Vormunds bedurft, zumal in der
Beschwerdeschrift an das Oberlandesgericht der Wille der Eltern, im Falle der
Entziehung der elterlichen Sorge einen Verwandten zum Vormund zu bestimmen,
deutlich zum Ausdruck kam. Zwar hat das Oberlandesgericht die Cousine der
Beschwerdeführerin zur mündlichen Verhandlung geladen. Nicht nachvollziehbar ist
jedoch, weshalb das Oberlandesgericht unter Verweis darauf, die Großmutter sei
nicht als Vormund benannt worden, eine nach § 1779 Abs. 3 BGB gebotene
Anhörung der Großmutter sowie eine nähere Prüfung der Betreuungsmöglichkeit
durch die Großmutter unterlassen hat, obwohl diese als Zeugin benannt wurde und
bereits zu einem früheren Zeitpunkt das Kind für einige Tage in Obhut genommen
hatte, ohne dass es dabei erkennbar zu Beanstandungen gekommen ist.
Der ohnehin gravierende Eingriff in das Elternrecht durch die Entziehung des
Sorgerechts und Trennung des Kindes von den Eltern hätte hier möglicherweise
durch eine Unterbringung des Kindes bei Verwandten, zu denen nicht nur das Kind,
sondern auch die Eltern regelmäßig eine engere Bindung als zu fremden Personen
haben, abgemildert werden können. Umgangskontakte der Eltern mit dem Kind, die
vorliegend grundsätzlich nicht als schädlich angesehen wurden, hätten dadurch
möglicherweise erleichtert und gefördert werden können. Dies galt es insbesondere
vor dem Hintergrund zu berücksichtigen, dass es sich lediglich um eine vorläufige
Maßnahme handelte und eine Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt
nicht von vornherein ausgeschlossen werden darf. Aus den angegriffenen
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Entscheidungen ist jedoch nicht erkennbar, dass diesbezügliche Erwägungen
angestellt wurden.
(b) Insoweit setzen sich die Entscheidungen auch nicht hinreichend mit den
Auswirkungen der angeordneten Maßnahmen auf das Kindeswohl auseinander.
Insbesondere hätten vor dem Hintergrund, dass die Regelung nur temporäre Geltung
besitzt, sämtliche Mittel ausgeschöpft werden müssen, um die möglicherweise
traumatischen
Erfahrungen
einer Fremdunterbringung auch für das Kind
abzuschwächen. Die vorläufige Unterbringung bei einer verwandten Person, zu der
das Kind eine vertrauensvolle Beziehung hat, hätte auch aus Kindessicht eine
weniger einschneidende Maßnahme bedeuten können.
b) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den Verstößen gegen das
Elternrecht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Fachgerichte bei
Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von einer Übertragung des Sorgerechts
auf das Jugendamt als Vormund abgesehen hätten.
c) Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ( BVerfGE 102, 197 <198, 224>; 105, 197
<202, 235>).
d) Es erscheint angezeigt, nur den Beschluss des Oberlandesgerichts aufzuheben
und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG), weil den Beschwerdeführern damit besser
gedient ist. Denn es liegt in ihrem Interesse, möglichst rasch eine das Verfahren
abschließende Entscheidung zu erhalten (vgl. BVerfGE 84, 1 <5>; 94, 372 <400> ).
2. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
3. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Gaier
Paulus
Britz