Urteil des BVerfG vom 13.02.1998

BVerfG: persönliche eignung, ordentliche kündigung, republik, verfassungsbeschwerde, besuch, grundrecht, lehrer, persönlichkeit, berufsfreiheit, unterricht

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 743/96 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...
-
gegen a) das Urteil des Bundesarbeitsgerichts
vom 18. Januar 1996 - 8 AZR 427/93 -,
b)
das Urteil des Landesarbeitsgerichts Chemnitz
vom 28. April 1993 - 6 (4) Sa 172/92 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Steiner
am 13. Februar 1998 einstimmig beschlossen:
Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 18. Januar 1996 - 8 AZR 427/93 - und des Landesarbeitsgerichts Chemnitz
vom 28. April 1993 - 6 (4) Sa 172/92 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1
in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes. Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts und des
Landesarbeitsgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ordentliche Kündigung eines Lehrers, der in der Deutschen Demokratischen
Republik ehrenamtlicher Parteisekretär war.
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1. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die
Herstellung der Einheit Deutschlands (EV), dem Bundestag und Bundesrat durch Gesetz vom 23. September 1990
zugestimmt haben (BGBl II S. 885), regelt unter anderem die Rechtsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen
Dienstes im Beitrittsgebiet. Nach Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr.
1 Abs. 4 Nr. 1 EV (künftig: Abs. 4 Nr. 1 EV) ist die ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in der
öffentlichen Verwaltung auch zulässig, wenn der Arbeitnehmer wegen mangelnder fachlicher oder persönlicher
Eignung den Anforderungen nicht entspricht (zu Sinn und Zweck der Regelung vgl. BVerfGE 92, 140 <142, 151 f.>).
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2. a) Der Beschwerdeführer ist Lehrer und war seit 1967 im Schuldienst der Deutschen Demokratischen Republik
beschäftigt. Er unterrichtete an einer Oberschule Physik und Mathematik. 1972 bis 1975 war er Mitglied der
Parteileitung an seiner Schule, 1975 bis 1989 ehrenamtlicher Parteisekretär. 1975 und 1984 besuchte er die
Kreisparteischule, 1989 die Bezirksparteischule. Mit Schreiben vom 20. März 1992 kündigte der Freistaat Sachsen,
gestützt auf Abs. 4 Nr. 1 EV, das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers zum 30. Juni 1992.
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b) Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage statt. Das Landesarbeitsgericht änderte das Urteil und wies
die Klage ab. Aufgrund der Wahrnehmung des Amtes eines ehrenamtlichen Parteisekretärs über 14 Jahre und des
1989 begonnenen Besuchs der Bezirksparteischule fehle dem Beschwerdeführer für eine Tätigkeit als Lehrer die
persönliche Eignung im Sinne von Abs. 4 Nr. 1 EV. Der Besuch der Bezirksparteischule habe nach ihren
Zielsetzungen der gründlichen marxistisch-leninistischen Bildung des Beschwerdeführers sowie der Festigung seines
Klassenstandpunktes und seiner sozialistischen Denk- und Verhaltensweise gedient. Er habe dadurch in die Lage
versetzt werden sollen, gesellschaftliche Prozesse zu leiten. Von der Möglichkeit, die Schulung abzulehnen, habe der
Beschwerdeführer keinen Gebrauch gemacht. Bis zur Wende habe er Linientreue und Gefolgschaft bewiesen.
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Gründe, die geeignet wären, die sich aus den genannten Tatbeständen ergebende besondere Identifikation mit dem
SED-Staat und die daraus folgende Ungeeignetheit für den Lehrerberuf zu entkräften, habe der Beschwerdeführer
nicht vorgetragen. Daß der Beschwerdeführer nach der Wende bis zur Kündigung politisch und fachlich unbeanstandet
weiter Unterricht erteilt und eine ordentliche Beurteilung erhalten habe, ändere daran nichts. Eine zwischenzeitliche
zweifelsfreie Manifestation seines Bekenntnisses zum Grundgesetz, daß er künftig und gerade auch in Krisenzeiten
für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten werde, sei nicht ersichtlich. Eine Abwägung der
beiderseitigen Interessen des Beschwerdeführers und des beklagten Landes führe zu keinem anderen Ergebnis.
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Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision des Beschwerdeführers zurück. Das Landesarbeitsgericht sei zu Recht
davon ausgegangen, daß die langjährige Tätigkeit des Beschwerdeführers als ehrenamtlicher Parteisekretär für seine
Ungeeignetheit spreche, weiter als Lehrer tätig zu sein. Hingegen indiziere der Besuch der Bezirksparteischule keine
mangelnde Eignung. Hierbei habe es sich wie bei Besuchen der Kreisparteischule um aus der SED-Mitgliedschaft
erwachsende, allgemein übliche und zudem kurzfristige Betätigungen für die Partei gehandelt, aus denen ein
besonderes Engagement für den SED-Staat nicht hergeleitet werden könne. Deshalb habe die Ablehnung der
Schulung durch den Beschwerdeführer nicht verlangt werden können. Im Ergebnis zutreffend habe das
Landesarbeitsgericht angenommen, daß der Beschwerdeführer die sich aus der ausgeübten Funktion ergebende
Indizwirkung nicht entkräftet habe.
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c) Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art.
12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG durch die Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts und
Bundesarbeitsgerichts.
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3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Sächsische Staatsministerium der Justiz namens der Sächsischen
Staatsregierung, der Vorsitzende des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts und der Deutsche
Gewerkschaftsbund (DGB) Stellung genommen.
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Nach Ansicht des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz haben sowohl das Landesarbeitsgericht wie auch das
Bundesarbeitsgericht die Persönlichkeit des Beschwerdeführers in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise
gewürdigt. Die Entscheidungen stellten nicht nur auf die frühere Position des Beschwerdeführers als ehrenamtlicher
Parteisekretär ab, sondern mäßen vor allem der langen und ununterbrochenen Dauer dieser Tätigkeit von 14 Jahren
Bedeutung bei. Die Schlußfolgerung, daß sich der Beschwerdeführer durch die wiederholte Wahl und die langjährige
Tätigkeit in diesem Amt besonders mit den Zielen des SED-Staates identifiziert habe und deshalb die Aufgaben eines
Lehrers in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht glaubwürdig wahrnehmen könne, sei nicht zu beanstanden und halte
sich an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
II.
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Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art.
1 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in dem genannten Grundrecht. Die für diese Beurteilung
maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Art. 12 Abs. 1 GG schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese umfaßt neben der
Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch den Willen des Einzelnen, den Arbeitsplatz beizubehalten. Das
Grundrecht entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken (vgl. dazu
im einzelnen 92, 140 <150>). Soweit es um Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes geht, trifft Art. 33 Abs. 2
GG eine ergänzende Regelung. Die angegriffenen Entscheidungen, die die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des
Beschwerdeführers bestätigen, greifen in diese Rechte des Beschwerdeführers ein.
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2. a) Die Arbeitsplatzwahl kann ebenso wie die anderen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 GG durch Gesetz
beschränkt werden. Die Anforderungen hierfür sind höher als bei Regelungen der Berufsausübung. Gerechtfertigt ist
eine Einschränkung jedenfalls dann, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls sie erfordern (vgl. BVerfGE 92, 140
<151 f.>) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet worden ist. Zu den Gemeinwohlgründen gehören
insbesondere die Belange, denen Art. 33 Abs. 2 GG mit den Anforderungen an den Zugang zum öffentlichen Dienst
Rechnung trägt. Diese gelten auch dann, wenn - wie hier - auf der Grundlage des Einigungsvertrages die Prüfung der
Zugangsvoraussetzungen im Rahmen der Entscheidung über die Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses
nachgeholt wird (vgl. ).
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b) Der in Abs. 4 Nr. 1 EV enthaltene Sonderkündigungstatbestand, auf den die angegriffenen Entscheidungen
gestützt sind, genügt diesen Anforderungen (vgl. BVerfGE 92, 140 <150 ff.>).
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3. a) Bei der Auslegung und Anwendung von arbeitsrechtlichen Kündigungsvorschriften im öffentlichen Dienst
müssen die Gerichte allerdings den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die
Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt,
w e n n ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften
grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die
Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den
bestmöglichen Schutz sichert ().
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b) Im Lichte der genannten Verfassungsnormen darf bei der Auslegung von Abs. 4 Nr. 1 EV die erkennbare Absicht
des Einigungsvertrages nicht außer acht gelassen werden, die Mitarbeiter nicht abgewickelter Einrichtungen des
öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik weitgehend in den öffentlichen Dienst der
Bundesrepublik Deutschland einzugliedern und ihre Arbeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, soweit nicht im Einzelfall
Eignungsmängel im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG festgestellt werden. Da Beschäftigung und Fortkommen im
öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik regelmäßig von einer gesteigerten Loyalität gegenüber
Staat und Partei sowie der Bereitschaft zum Engagement in parteilichen und gesellschaftlichen Organisationen
abhingen, können die damit verbundenen Positionen oder Funktionen für sich allein in der Regel eine Kündigung nicht
rechtfertigen. Die persönliche Eignung des Mitarbeiters für eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst der
Bundesrepublik ist vielmehr im Zeitpunkt der Kündigung aufgrund einer Prognose festzustellen, die eine konkrete und
einzelfallbezogene Würdigung seiner gesamten Persönlichkeit voraussetzt.
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Sein Verhalten und seine Einstellung in der Vergangenheit sind dafür zwar eine wesentliche Erkenntnisquelle. Die
danach verfassungsrechtlich gebotene Gesamtwürdigung darf aber nicht dadurch verkürzt werden, daß einer vom
Mitarbeiter früher innegehabten Funktion eines Schulparteisekretärs das Gewicht einer gesetzlichen Vermutung
beigemessen wird, die einen Eignungsmangel begründet, wenn sie nicht widerlegt wird. Diese Funktion war weder so
herausgehoben noch so einflußreich, daß allein aus ihrer Wahrnehmung der Schluß auf eine fortbestehende
Verbundenheit mit dem Herrschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik gezogen und nur durch
besondere Umstände, die das Gegenteil belegen, entkräftet werden kann (vgl. BVerfG, NZA 1997, S. 932 <933 f.>).
Ohne Hinzutreten weiterer belastender Umstände läßt sich daher allein aus der früheren Wahrnehmung dieses Amtes
der Schluß auf eine mangelnde Eignung nicht ziehen ().
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4. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Urteile nicht gerecht. Sie verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG.
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a) Das Bundesarbeitsgericht läßt allein die durch die Wahrnehmung der Funktion eines ehrenamtlichen
Parteisekretärs begründeten Zweifel an der persönlichen Eignung des Beschwerdeführers für die Kündigung des
Arbeitsverhältnisses nach Abs. 4 Nr. 1 EV ausreichen. Es verkennt damit den Einfluß und die Herausgehobenheit des
Amtes eines Schulparteisekretärs und mißt seiner Wahrnehmung der Sache nach die Bedeutung einer widerlegbaren
Vermutung bei. Allein der Umstand, daß der Beschwerdeführer die Tätigkeit als ehrenamtlicher Parteisekretär 14
Jahre lang ausgeübt hat, ist für sich genommen nicht geeignet, ihn über die Wahrnehmung der Funktion hinaus zu
belasten.
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b) Das Urteil des Landesarbeitsgerichts verletzt ebenfalls die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers. Zwar leitet das
Landesarbeitsgericht die Indizwirkung für die Nichteignung zudem aus dem Besuch der Bezirksparteischule ab.
Nachvollziehbare Gründe, warum der Besuch der Bezirksparteischule geeignet sein soll, die Eignung des
Beschwerdeführers in Zweifel zu ziehen, lassen sich der Entscheidung jedoch nicht entnehmen. Das
Bundesarbeitsgericht hält den Besuch der Bezirksparteischule für unerheblich. Das Landesarbeitsgericht stellt
lediglich die allgemeinen Zielstellungen dieser Parteiinstitution dar. Auch das Landesarbeitsgericht verkennt damit den
Einfluß und die Herausgehobenheit des von dem Beschwerdeführer wahrgenommenen Amtes und mißt seiner
Wahrnehmung der Sache nach die Bedeutung einer widerlegbaren Vermutung bei.
Steiner
Jaeger
Kühling