Urteil des BVerfG vom 17.06.1999

BVerfG: hauptsache, verfassungsbeschwerde, zugang, rechtsschutz, aussetzung, herausgabe, wiederaufnahme, subsidiarität, anfechtung, gewahrsam

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1454/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn L...
gegen den Beschluß des Landgerichts Regensburg - Strafvollstreckungskammer Straubing -
vom 24. Juli 1998 - 2 StVK 148/95 (4) -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach
und die Richter Jentsch,
Hassemer
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 17. Juni 1999 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluß des Landgerichts Regensburg vom 24. Juli 1998 - 2 StVK 148/95 (4) - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die
Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
1. Der Beschwerdeführer verbüßt in der Justizvollzugsanstalt Straubing eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen
Mordes. Zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags verwahrte er seit drei Jahren diverse Aktenordner mit
Verfahrensunterlagen auf seinem Haftraum, ohne daß dies bei einer der regelmäßig stattfindenden Haftraumkontrollen
beanstandet wurde.
2
Zur Herstellung der Übersichtlichkeit des Haftraums und zur Verringerung der Brandgefahr (vgl. § 19 Abs. 2
StVollzG) wurden dann 26 Aktenordner aus dem Haftraum entfernt und in einen gesicherten Raum verbracht. Zwölf
Aktenordner wurden dem Beschwerdeführer belassen, wobei ihm die Möglichkeit eingeräumt wurde, diese nach
bestimmten Modalitäten auszutauschen.
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2. Hiergegen beantragte der Beschwerdeführer gemäß § 109 StVollzG gerichtliche Entscheidung. Über diesen
Antrag ist noch nicht entschieden.
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Außerdem beantragte der Beschwerdeführer gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG den Erlaß einer einstweiligen
Anordnung mit der Verpflichtung der Justizvollzugsanstalt, ihm jederzeit und auch nach den anstaltsüblichen
Einschlußzeiten den Zugang zu den Akten zu gewähren, sowie hilfsweise die Aussetzung der Vollziehung nach § 114
Abs. 2 Satz 1 StVollzG mit dem Inhalt, die Justizvollzugsanstalt anzuweisen, die Aktenordner unverzüglich auf den
Haftraum zu verbringen.
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Mit dem hier angegriffenen Beschluß vom 24. Juli 1998 verwarf das Landgericht den Antrag auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung als unzulässig, weil die begehrte Entscheidung die Hauptsache vorwegnehmen würde. In der
Hauptsache begehre der Beschwerdeführer die Herausgabe der Aktenordner. Wenn der Beschwerdeführer
jederzeitigen Zugang zu den Akten erlangte, würde die Hauptsacheentscheidung hinfällig werden. Eine solche
Entscheidung wäre nur zulässig, wenn ansonsten schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile
entstünden. Das sei nicht der Fall.
II.
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1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluß des Landgerichts
vom 24. Juli 1998. Er rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3,
Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG.
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Zur Begründung trägt er unter anderem vor, zu einer effektiven Vorbereitung der Wiederaufnahme benötige er
sämtliche Aktenordner. Deren Austausch werde ihm aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten nur in unzureichendem
Umfang ermöglicht, so daß er die Arbeiten an seinem Wiederaufnahmeantrag nicht wirksam weiterführen könne.
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2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.
III.
9
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG zur Durchsetzung der
Grundrechte des Beschwerdeführers zur Entscheidung an und gibt ihr gemäß § 93c Abs. 1 BVerfGG statt. Die
Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen
hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
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1. Die gegen eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der
Grundsatz der materiellen Subsidiarität (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG) gebietet keine Erschöpfung des Rechtswegs in der
Hauptsache, weil der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung geltend macht, die nur für das vorläufige
Verfahren bedeutsam ist und im Hauptsacheverfahren nicht mehr ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfGE 69, 315
<340>; 80, 40 <45>).
11
2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffene
Entscheidung verkennt Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4
GG bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den einstweiligen Rechtsschutz (§ 114 Abs. 2 StVollzG).
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a) Die Strafvollstreckungskammer hat das Begehren des Beschwerdeführers insgesamt mit der Begründung als
unzuläs- sig verworfen, daß die engen Voraussetzungen, unter denen eine die Hauptsache vorwegnehmende
Entscheidung ergehen könne, nicht vorlägen. Dies überspannt die Anforderungen an die Zulässigkeit des Eilantrags in
einer Weise, die den Rechtsbehelf ineffektiv macht und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" läßt (vgl. BVerfGE 96,
27 <39>; Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1993 - 2
BvR 2212/93 -, NJW 1994, S. 717 ff.).
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Zumindest der Hilfsantrag mußte im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG als Antrag nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG
verstanden werden. Der Antrag war als solcher ausdrücklich bezeichnet. In der Hauptsache richtete sich das
Begehren offensichtlich auf die Aufhebung einer belastenden Maßnahme, nämlich des Widerrufs der Erlaubnis, die
Akten auf dem Haftraum in Gewahrsam zu haben. Diese war dem Beschwerdeführer, nachdem er die Akten trotz
zahlreicher Kontrollen drei Jahre unbeanstandet auf dem Haftraum hatte, zumindest konkludent erteilt worden. Der
Antrag hatte damit nicht eine Vorwegnahme der Hauptsache zum Gegenstand. Die nur vorläufige Aussetzung einer
Maßnahme nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache stellt für sich genommen
keine Vorwegnahme der Hauptsache dar. Es handelt sich vielmehr gerade um den vom Gesetz für die Anfechtung
belastender Maßnahmen vorgesehenen Regelungsgehalt einer Eilentscheidung (vgl. Beschluß der 3. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 1989 - 2 BvR 896/89 - Juris; Beschluß der 2. Kammer
des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1993 - 2 BvR 2212/93 -, NJW 1994, S. 717,
719).
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b) Da die Entscheidung schon aus diesen Gründen aufzuheben war, bedurfte es keiner Erörterung mehr, welche
Bedeutung dem Umstand zuzumessen war, daß die Aktenordner zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags
dienten. Auf die weiteren Rügen kam es ebenfalls nicht an.
dienten. Auf die weiteren Rügen kam es ebenfalls nicht an.
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3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Hassemer
Jentsch