Urteil des BVerfG vom 29.01.2008

BVerfG: einstellung des verfahrens, faires verfahren, verfassungsbeschwerde, strafzumessung, subsidiarität, strafverfahren, festschrift, auflage, bewährung, strafrecht

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2262/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau K .... ,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. Schübel & Kollegen,
Straßberger Straße 83, 08527 Plauen -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. September 2007 - 2 Ss
307/06 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 24. Januar 2006 - 3 Ns 625 Js 32190/98 -,
c)
das Urteil des Amtsgerichts Plauen vom 20. Juni 2005 - 5 Ls 625 Js 32190/98 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Landau
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 29. Januar 2008 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
A.
1
Das Verfahren betrifft die Rügeanforderungen in der Revision unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde.
I.
2
1. Das Amtsgericht hatte die Beschwerdeführerin wegen Meineids zu einer zur Bewährung ausgesetzten
Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt (Urteil des Amtsgerichts Plauen vom 20. Juni 2005). Das
Gericht sah es als erwiesen an, dass die Beschwerdeführerin in einem Strafverfahren gegen ihren Lebensgefährten zu
dessen Gunsten unter Eid falsch ausgesagt hatte. Die Tat war im Jahr 1997.
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2. In der Berufungsinstanz setzte das Landgericht, das im Gegensatz zum Amtsgericht einen minderschweren Fall
annahm, die Freiheitsstrafe auf neun Monate, ausgesetzt zur Bewährung, herab und begründete dies unter anderem
damit, dass die Tat inzwischen fast neun Jahre zurückliege. Die weitergehenden Berufungen von Beschwerdeführerin
und Staatsanwaltschaft wurden verworfen (Urteil des Landgerichts Zwickau vom 24. Januar 2006).
4
3. Auf die Revision der Beschwerdeführerin wurde die Freiheitsstrafe auf das – für Meineid in minderschwerem Fall
vorgesehene – gesetzliche Mindestmaß von sechs Monaten reduziert, die im Bewährungsbeschluss enthaltene
Auflage zu gemeinnütziger Arbeit in Wegfall gebracht und im Übrigen die Revision als unbegründet verworfen
(Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. September 2007). Die Reduzierung der Strafe auf das
gesetzliche Mindestmaß nahm das Revisionsgericht wegen der langen Verfahrensdauer und eines – nicht weiter
begründeten – Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz vor.
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In der Revisionsbegründung hatte die Beschwerdeführerin lediglich die Sachrüge erhoben, die bis auf Angriffe gegen
die Beweiswürdigung des Landgerichts unausgeführt blieb. Die Revisionsbegründung endete mit dem Satz: „Nicht
zuletzt wird angesichts der erheblichen Verfahrensdauer von rund 8 Jahren angeregt, das Verfahren gemäß § 206a
StPO einzustellen“.
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Das Revisionsgericht lehnte die Prüfung eines mit der langen Verfahrensdauer begründeten Verfahrenshindernisses
ab. Ein Revisionsführer, der eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung geltend mache, müsse grundsätzlich
eine den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügende Verfahrensrüge erheben. Dies gelte nicht nur,
soweit aus der überlangen Verfahrensdauer eine Pflicht zur Kompensation im Wege der Strafzumessung geltend
gemacht werde, sondern auch, soweit diese weitergehend ein Verfahrenshindernis begründen soll. Das
Revisionsgericht führte als Beleg hierfür die Kommentierung bei Meyer-Goßner in dessen gängigem
Standardkommentar zur Strafprozessordnung an.
II.
7
Mit der Verfassungsbeschwerde greift die Beschwerdeführerin die Entscheidungen der Fachgerichte an. Diese
hätten die erhebliche, von den Justizbehörden zu verantwortende Verzögerung des Strafverfahrens im Rahmen der
Strafzumessung nicht hinreichend berücksichtigt. Das verletze sie in ihrem Recht auf ein faires Verfahren.
B.
8
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2
BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
I.
9
Der gegen das prozessual überholte Urteil des Amtsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde fehlt das
Rechtsschutzbedürfnis.
II.
10
1. Soweit die Beschwerdeführerin mit der gegen die Entscheidungen von Land- und Oberlandesgericht gerichteten
Verfassungsbeschwerde rügt, die Fachgerichte hätten die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht in der
gebotenen Weise berücksichtigt, ist der Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt.
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a) Nach dem Subsidiaritätsgrundsatz soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im
fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden (vgl. BVerfGE 67, 157 <170>). Im Strafverfahren verlangt der Grundsatz
der Subsidiarität von einem Beschwerdeführer, der seine Grundrechte durch Verstöße des Tatgerichts verletzt sieht,
diese im Revisionsverfahren so zu rügen, dass das Revisionsgericht in eine sachliche Prüfung der Rüge eintritt (vgl.
BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2005 - 2 BvR 157/03 -, NStZ-RR 2005, S. 346
<347>). Will ein Beschwerdeführer eine rechtsstaats- oder konventionswidrige Verfahrensverzögerung mit dem Ziel
einer Kompensation im Wege der Strafzumessung geltend machen, muss er grundsätzlich eine den Anforderungen
von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügende Verfahrensrüge erheben. Auf die Sachrüge kann das Revisionsgericht nur
eingreifen, wenn sich Voraussetzungen und Umfang einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung mit hinreichender
Deutlichkeit aus den Urteilsgründen des Tatgerichts ergeben oder dieses sich aufgrund verlässlicher Anhaltspunkte
zur Prüfung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in einem Maße gedrängt sehen musste, dass die
Nichtberücksichtigung der Verzögerung oder ihre Qualifizierung als lediglich allgemeiner Strafmilderungsgrund als
Erörterungsmängel anzusehen sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August
2007 – 2 BvR 1305/07 -, beck-online m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24.
November 2006 – 2 BvR 2338/06 -, juris, Abs.-Nr. 4).
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b) Nach diesen Maßstäben hat die Beschwerdeführerin ihren Rügeobliegenheiten im fachgerichtlichen Verfahren
nicht genügt.
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aa) Die von ihr alleine erhobene Sachrüge war nicht zielführend. Aus den Gründen des landgerichtlichen Urteils
ergaben sich Voraussetzungen und Umfang einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht. Dass sich das
Landgericht
aufgrund
feststehender
Tatsachen
gedrängt
sehen
musste,
eine
rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung anzunehmen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Verstoßes näher zu bestimmen,
ist nicht ersichtlich.
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bb) Mit der Anregung in der Revisionsbegründung, das Verfahren angesichts der langen Dauer gemäß § 206a StPO
einzustellen, hat die Beschwerdeführerin ihren Rügeobliegenheiten im fachgerichtlichen Verfahren ebenfalls nicht
genügt.
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(1) Zwar kommt bei einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in besonderen Ausnahmefällen eine
Einstellung des Strafverfahrens wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses in
Betracht, nämlich dann, wenn dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur noch auf diese Weise angemessen Rechnung
getragen werden kann (vgl. BVerfGK 2, 239 <247 f., 253>). Nicht endgültig geklärt sind allerdings die Anforderungen
im Revisionsverfahren, die an die zulässige Geltendmachung eines Verfahrenshindernisses wegen krass
rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung zu stellen sind, insbesondere, ob ein Beschwerdeführer auch insoweit
Verfahrensrüge erheben muss. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat dies bislang offen gelassen (vgl. BGH,
Beschluss vom 10. September 2003 – 5 StR 330/03 -, beck-online; vgl. zur Rechtsprechung Meyer-Goßner,
Prozesshindernisse und Einstellung des Verfahrens, in: Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Albin Eser
zum 70. Geburtstag, S. 373 <385 f.>). In der Literatur wird die Frage kontrovers beurteilt. Einige Stimmen scheinen
die Prüfung eines solchen Verfahrenshindernisses von Amts wegen zu befürworten (vgl. Pfeiffer, in: Karlsruher
Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, Einleitung Rn. 12; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003,
§ 337 Rn. 25; vgl. auch Wohlers, Rechtsstaatswidrige Verzögerungen des Verfahrens als revisionsrechtliches
Problem, JR 2005, S. 187 <188 f.>). Andere machen die Prüfung eines solchen Verfahrenshindernisses von der
Erhebung einer Verfahrensrüge abhängig, die in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden
Weise eine krass rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung darzulegen habe. Es sei nicht einzusehen, weshalb die
Geltendmachung einer weniger gravierenden Verfahrensverzögerung, bei der grundsätzlich Verfahrensrüge zu erheben
ist, strengeren Anforderungen unterliegen soll als die Behauptung einer krass rechtsstaatswidrigen
Verfahrensverzögerung (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, Einleitung Rn. 143; MRK Art. 6 Rn. 9c; derselbe,
Sind Verfahrenshindernisse von Amts wegen zu beachten?, NStZ 2003, S. 169 <173>; derselbe, Prozesshindernisse
und Einstellung des Verfahrens, in: Menschengerechtes Strafrecht, Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, S.
373 <386>; für generelle Erforderlichkeit einer Verfahrensrüge wohl auch Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25.
Aufl., Art. 14 IPBPR Rn. 85, 85b).
16
Werden die Anforderungen an die zulässige Geltendmachung eines Verfahrenshindernisses wegen
rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung kontrovers beurteilt, durfte die Beschwerdeführerin nicht darauf vertrauen,
dass das Oberlandesgericht der weniger strengen Ansicht folgen und unter Verzicht auf eine Verfahrensrüge die
Anregung einer Verfahrenseinstellung wegen langer Verfahrensdauer zum Anlass nehmen werde, eine
außergewöhnliche, einen Ausnahmefall begründende Verletzung des Beschleunigungsgebots von Amts wegen zu
prüfen. Angesichts der ungeklärten Rechtsfrage war die Beschwerdeführerin vielmehr gehalten, über eine in zulässiger
Weise erhobene Verfahrensrüge sicherzustellen, dass das Revisionsgericht in die sachliche Prüfung eines
Verfahrenshindernisses eintritt.
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Sind nämlich die Zulässigkeitsanforderungen an einen fachgerichtlichen Rechtsbehelf in Rechtsprechung und
Fachliteratur nicht endgültig geklärt, muss der Beschwerdeführer grundsätzlich damit rechnen, dass sich das
Fachgericht der Ansicht anschließt, die strengere Anforderungen an die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs stellt. Er
muss deshalb seinen Vortrag im fachgerichtlichen Rechtsschutzverfahren an der strengeren Ansicht ausrichten. Nur
so ist gewährleistet, dass das Fachgericht auf jeden Fall in eine sachliche Prüfung des Gesichtspunkts eintritt und die
im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes verlangte Möglichkeit einer Beseitigung der Rechtsverletzung im
fachgerichtlichen Verfahren effektiv wird. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht bereits in der
Vergangenheit einen Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz bejaht, wo ein Beschwerdeführer eine im Rahmen der
Strafzumessung kompensationspflichtige überlange Verfahrensdauer lediglich mit der Sachrüge angegriffen hatte,
obgleich deren Geeignetheit zur Geltendmachung einer kompensationspflichtigen rechtsstaatswidrigen
Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren bei Einlegung des Rechtsmittels ungeklärt war und einige Stimmen
eine Verfahrensrüge für erforderlich hielten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17.
Dezember 1996 – 2 BvR 1533/96 -, juris, Abs.-Nr. 2). Diese Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall übertragbar.
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(2) Im Übrigen hätte die Beschwerdeführerin ihren Rügeobliegenheiten im Revisionsverfahren selbst dann nicht
genügt, wenn man grundsätzlich eine Prüfung von Amts wegen forderte. Einem Beschwerdeführer ist zuzumuten,
wenigstens greifbare Anhaltspunkte vorzutragen, die das Revisionsgericht zur Prüfung einer krass
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung drängen mussten. Der nicht weiter ausgeführte Hinweis auf eine
Verfahrensdauer von acht Jahren wird dem nicht gerecht. Die Dauer des Verfahrens lässt für sich genommen keine
verlässlichen Rückschlüsse auf Existenz und Umfang einer der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung zu (vgl.
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. November 2006 – 2 BvR 2338/06 -, juris, Abs.-Nr. 8
m.w.N.).
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2. Soweit die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die lange Verfahrensdauer die Strafzumessung der Fachgerichte
generell angreift, ist die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht hinreichend dargetan. Dass sich die
Strafzumessung so weit von dem Gedanken eines gerechten Schuldausgleichs entfernte, dass sie sich als objektiv
willkürlich erwiese (vgl. BVerfGE 54, 100 <109, 111 f.>; 74, 102 <127>; stRspr), ist weder dargetan noch sonst
ersichtlich. Das Revisionsgericht hat die Strafe auf das gesetzliche Mindestmaß herabgesetzt und die Belastungen
der Beschwerdeführerin durch das Strafverfahren spürbar reduziert, indem es angesichts der Verfahrensdauer die im
Bewährungsbeschluss festgesetzte Auflage zu gemeinnütziger Arbeit in Wegfall brachte.
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Di Fabio
Landau