Urteil des BSG vom 15.11.2012

BSG: Sozialgerichtliches Verfahren, Prozessunfähigkeit, Notwendigkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters, offensichtliche Haltlosigkeit der Klage aus anderen prozessualen Gründen

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 15.11.2012, B 8 SO 23/11 R
Sozialgerichtliches Verfahren - Prozessunfähigkeit - Notwendigkeit der Bestellung eines
besonderen Vertreters - offensichtliche Haltlosigkeit der Klage aus anderen prozessualen
Gründen - Prozessökonomie - effektiver Rechtsschutz
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom
25. März 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Im Streit sind mehrere Anträge des Klägers, im Revisionsverfahren vorrangig seine
wirksame Vertretung im sozialgerichtlichen Verfahren.
2 Der 1955 geborene, nicht unter Betreuung stehende Kläger, der an einer paranoiden
Psychose leidet, ist voll erwerbsgemindert und bezieht Leistungen der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem 4. Kapitel des
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII). Im November 2008 beantragte
er bei der Beklagten ua die Übernahme der Anschaffungskosten für Telefon und
Internetempfangsgeräte, Computer und Multifunktionsdrucker sowie für
Spracherkennungssoftware, die Übernahme laufender Telefonkosten samt Internetflatrate,
die Übernahme der Studiengebühren für ein Studium an 20 Fakultäten diverser
Hochschulen, die Feststellung seines Rechts auf Bildung, Weiterbildung, medizinische
Rehabilitation, Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Forschung und Entwicklung, auf
künstlerische Tätigkeit, freie Meinungsäußerung, auf Ausübung der Religion und politische
Tätigkeit und die Feststellung einer Schwerbehinderung. Die Beklagte lehnte die Anträge
ab (Bescheid vom 19.12.2008, zugestellt am 2.1.2009).
3 Die bereits am 19.12.2008 erhobene Klage blieb erst- und zweitinstanzlich erfolglos
(Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 9.3.2009; Urteil des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25.3.2010). Zur Begründung seiner
Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Berufung sei wegen Prozessunfähigkeit des
Klägers unzulässig. Die Prozessunfähigkeit habe Dr. V in seinem Gutachten vom
21.6.2009, das er in einem weiteren anhängigen Verfahren vor dem SG erstellt habe,
überzeugend bejaht. Dies bestätige sich für den Senat aus den in zahlreichen gerichtlichen
Verfahren eingereichten Schriftsätzen. Es habe davon abgesehen werden können, einen
besonderen Vertreter (§ 72 Sozialgerichtsgesetz ) zu bestellen, weil die Klage
offensichtlich haltlos im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei.
Die Verpflichtungsklage auf Bewilligung eines internetfähigen Computers sei schon
unzulässig, weil zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch kein ablehnender Bescheid
vorgelegen habe und die unzulässige Klage auch nicht durch dessen Bekanntgabe
zulässig werde. Auch die Feststellungsklagen seien offensichtlich unzulässig, weil weder
ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis noch ein berechtigtes Feststellungsinteresse
ersichtlich sei.
4 Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 72 SGG. Das LSG habe zu Unrecht
von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen, weil auch in der Sache keine
offensichtlich haltlose Rechtsverfolgung vorliege.
5 Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
6 Die durch den besonderen Vertreter eingelegte Revision des Klägers ist im Sinne der
Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet
(§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß
gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen
Vertreters für den bereits im Berufungsverfahren prozessunfähigen Kläger abgesehen hat.
Der Kläger war dadurch im Verfahren nicht wirksam vertreten (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4
Zivilprozessordnung ); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt
wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht (zu dieser Voraussetzung siehe § 162 SGG).
Abgesehen davon, dass bei absoluten Revisionsgründen § 170 Abs 1 Satz 2 SGG
regelmäßig keine Anwendung findet (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl 2012, § 170 RdNr 5a mwN zur Rspr), kann vorliegend ohnedies noch nicht
beurteilt werden, ob sich die Entscheidung des LSG aus anderen Gründen in vollem
Umfang als richtig erweist, weil das Klagebegehren des prozessunfähigen Klägers (dazu
später) noch einer genauen Klärung bedarf und damit die Klage zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht als unzulässig angesehen werden kann.
7 Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen
nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines
Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter
bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen.
Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71
Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches
Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur
vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter
Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre
Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.
8 Dies war und ist beim Kläger nach dem überzeugenden Gutachten des Dr. V vom
21.6.2009 der Fall. Der Kläger leidet unter einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit
in Form von nicht nachvollziehbaren Verfolgungsgedanken und sieht sich
Beeinträchtigungen, Bedrohungen und Schädigungen ausgesetzt. Insbesondere ist ihm
eine geistig geordnete Reaktion auf Schreiben von Behörden oder Gerichten nicht
möglich. Sein Verhalten ist dabei ständig von paranoid verfälschter Wahrnehmung und
Ideenbildung bestimmt. Die Beurteilung durch Dr. V wird bestätigt durch das prozessuale
Gesamtverhalten des Klägers, der sich mit in der Regel mehrere hundert Seiten
umfassenden unstrukturierten Schriftstücken an die Beklagte und das Gericht wendet, die
inhaltlich über weite Strecken seine Verfolgungsideen widerspiegeln.
9 Im Berufungsverfahren durfte nicht davon abgesehen werden, einen besonderen Vertreter
für den prozessunfähigen Kläger zu bestellen. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein
besonderer Vertreter in jedem Fall im Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des
Gerichts zu bestellen ist. Jedenfalls ist dies auf dem Gebiet der Sozialhilfe der Fall, wenn -
wie hier - die Hilfebedürftigkeit auf demselben Mangel beruht, der auch zur
Prozessunfähigkeit führt (vgl BVerwG, Beschluss vom 9.12.1986 - 2 B 127/86 - juris). Das
dem Vorsitzenden in § 72 Abs 1 SGG eingeräumte Ermessen ("kann") ist zumindest in
diesen Fällen nicht als Entscheidungsoption hinsichtlich des "Ob" der Bestellung eines
besonderen Vertreters zu verstehen, sondern lediglich als Ausdruck seiner
Wahlmöglichkeit, entweder auf die Vertretung des Prozessunfähigen durch einen
gesetzlichen Vertreter hinzuwirken oder dort, wo dies nicht möglich ist, einen besonderen
Vertreter zu bestellen (so bereits BSGE 5, 176, 178; Ulmer in Hennig, SGG, § 72 RdNr 2,
Stand Februar 2004; Leitherer, aaO, § 72 RdNr 2b). Eine Klageabweisung bzw eine
Verwerfung der Berufung wegen mangelnder Prozessfähigkeit ist daher im
sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich unzulässig (BSGE aaO). Die Bestellung eines
besonderen Vertreters dient dabei zwar der Prozessökonomie (Leitherer, aaO, § 72 RdNr
1a; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 72 RdNr 1; Littmann in Handkommentar-SGG,
4. Aufl 2012, § 72 RdNr 2), weil die Einrichtung einer Betreuung oder die Bestellung eines
Vormunds durch das Vormundschaftsgericht nicht abgewartet werden muss, um den
Prozess fortführen zu können; vorliegend aber sichert die Bestellung eines besonderen
Vertreters die Verwirklichung der prozessualen Rechte eines Prozessunfähigen durch die
Sicherstellung seines Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 Grundgesetz ), in dem der
besondere Vertreter alle Rechte des Prozessunfähigen wahrnehmen kann (§ 72 Abs 1
SGG). Steht - wie vorliegend - die Prozessunfähigkeit fest, kann der Prozess grundsätzlich
nur mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche
Vertretung nicht gewährleistet ist und - wie hier - das Amtsgericht von der Bestellung eines
Betreuers abgesehen hat (BSGE 91, 146 ff RdNr 5 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1).
10 Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung dann für zulässig erachtet worden,
wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen
"offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 f), was insbesondere bei absurden
Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem
Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der
Kläger nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von
sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher
Entscheidungen war (vgl BSGE 91, 146 ff RdNr 11 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1). Diese
Ausnahmen sind jedoch, wie die aufgeführten Beispiele zeigen, vorrangig auf
materiellrechtliche Erwägungen gestützt worden und insoweit nur in seltenen
Konstellationen zulässig, in denen bereits der Schutzbereich des Art 19 Abs 4 GG nicht
berührt ist und damit keine Nachteile für den Prozessunfähigen verbunden sind. Denn der
nach Art 19 Abs 4 GG garantierte Rechtsschutz dient keinem Selbstzweck, sondern soll
sicherstellen, dass der Betroffene mit gerichtlicher Hilfe die ihm zustehenden materiellen
Ansprüche durchsetzen bzw rechtswidrige Eingriffe abwehren kann (BSG SozR 4-1500 §
90 Nr 1 RdNr 6), wenn auch nicht zwingend in derselben Angelegenheit mehrfach (vgl
auch Bundesverfassungsgericht , Beschluss vom 12.9.2005 - 2 BvR 1435/05 -
juris RdNr 2).
11 Ein derartiges, in der Sache offensichtlich haltloses Begehren, das das Absehen von einer
Vertreterbestellung rechtfertigen könnte, ist vorliegend nicht zu bejahen. Es ist nicht von
vornherein völlig ausgeschlossen, dass zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§
106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur BSGE 74,
77 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 49 ff; Leitherer, aaO, § 92 RdNr 12 mwN) ein
besonderer Vertreter oder ein von diesem bestellter Prozessbevollmächtigter in der Lage
ist, im wohlverstandenen Interesse des Klägers sachdienliche Klageanträge mit
hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren.
12 Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie sie
das LSG mit der Annahme einer aus anderen Gründen als der Prozessunfähigkeit
unzulässigen Klage seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist deshalb besondere
Zurückhaltung geboten. Die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens und damit die
Auslegung von Verfahrensvorschriften hat immer in einem angemessenen Verhältnis zu
dem auf Sachverhaltsaufklärung und Verwirklichung des materiellen Rechts gerichteten
Verfahrensziel zu stehen. Dies gilt nicht nur für den Weg zu den Gerichten, der nicht in
unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden
darf (vgl BVerfGE 35, 263, 274; 40, 272, 274 f; 77, 275, 284), sondern in gleicher Weise
innerhalb des Verfahrens, soweit es darum geht, sich dort effektiv rechtliches Gehör zu
verschaffen (BVerfGE 81, 123, 129). Der Einzelne darf nicht nur Objekt der richterlichen
Entscheidung sein; vielmehr muss er vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu
Wort kommen (stRspr; vgl grundlegend BVerfGE 1, 418, 429; zuletzt BVerfGE 107, 395 ff).
13 Diesen Maßstäben wird das Vorgehen des LSG bei der Anwendung und Auslegung des §
72 Abs 1 SGG nicht gerecht. Es hat von der Bestellung eines besonderen Vertreters
abgesehen, weil es die prozessualen Voraussetzungen für die vom (prozessunfähigen)
Kläger formulierten Verpflichtungs- bzw Feststellungsanträge, die es ausdrücklich nur
"sinngemäß" ausgelegt hat, nicht als erfüllt bewertet. Dies verkürzt zwangsläufig die
Rechte eines Prozessunfähigen. Ob und unter welchen Voraussetzungen allein aus
prozessualen Gesichtspunkten überhaupt Ausnahmen von der Bestellung eines
besonderen Vertreters gemacht werden können, kann daneben offenbleiben. Schon die
Frage, welche Klageart dem Begehren des Klägers hinreichend Rechnung trägt, kann
nämlich nicht ohne Berücksichtigung dessen beantwortet werden, was der Kläger
tatsächlich begehrt; Anspruch und prozessuale Durchsetzung stehen immer in einem
engen Zusammenhang und dürfen nicht isoliert voneinander gesehen werden. Hierauf
beruht auch § 106 SGG. Die Vorschrift statuiert ua eine Pflicht des Vorsitzenden, auf eine
sachgerechte Antragstellung hinzuwirken (vgl § 106 Abs 1 3. Alt SGG). Gerade die beim
Kläger vorliegende Prozessunfähigkeit ist und war der Grund dafür, wie er sein
Klagebegehren formuliert hat, dessen genaues Ziel noch der Klärung bedarf. Deren
Nachholung war im Revisionsverfahren nicht zwingend erforderlich, weil daraus ggf
Amtsermittlungspflichten (§ 103 SGG) resultieren, denen das Revisionsgericht nicht
unterliegt.
14 Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.