Urteil des BSG vom 12.04.2000
BSG: vertrag zu lasten eines dritten, vergütung, grundsatz der gleichbehandlung, verzicht, tarifvertrag, planwidrige unvollständigkeit, arbeitsentgelt, öffentlich, arbeitsrecht, dienstanweisung
Bundessozialgericht
Urteil vom 12.04.2000
Sozialgericht Kiel
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 14 KG 4/99 R
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. Dezember
1998 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens
zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kindergeld (Kg) für den 1979 geborenen Sohn H (H.) des Klägers für
die Zeit vom 1. August bis 31. Dezember 1995.
H. wurde ab 1. August 1995 beim Forstamt N zum Forstwirt ausgebildet. Als Vergütung waren in dem
Berufsausbildungsvertrag formularmäßig die tariflichen Beträge vorgesehen. Anstelle der danach für Auszubildende im
1. Ausbildungsjahr vorgesehenen Vergütung von 790,00 DM/Monat wurden jedoch "laut Absprache" nur 720,00 DM
vereinbart, weil der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung von Kg weiterhin erfüllen wollte. Die vereinbarte
Vergütung für das 2. und 3. Ausbildungsjahr entsprach dem einschlägigen Tarifvertrag für Auszubildende im
Ausbildungsberuf Landwirte.
Mit Bescheid vom 10. Juli 1995 und Widerspruchsbescheid vom 30. August 1996 lehnte die Beklagte die
Weitergewährung von Kg für den streitigen Zeitraum ab, weil nach § 2 Abs 2 Satz 2 des Bundeskindergeldgesetzes
(BKGG) bei der Kg-Zahlung Kinder nicht zu berücksichtigen seien, denen aus dem Ausbildungsverhältnis
Bruttobezüge von wenigstens 750,00 DM monatlich zustünden oder nur deswegen nicht zustünden, weil das Kind auf
einen Teil der vereinbarten Bruttobezüge verzichtet habe. Letzteres sei hier der Fall. Mit Urteil vom 29. Januar 1998
hat das Sozialgericht Kiel der dagegen erhobenen Klage stattgegeben. Die vom Landessozialgericht (LSG)
zugelassene Berufung hatte keinen Erfolg. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die vorliegende Fallkonstellation
könne einem Verzicht nicht gleichgestellt werden. Einen Anspruch auf eine Vergütung von wenigstens 750,00 DM
habe der Sohn des Klägers weder aus Tarifvertrag noch aufgrund betrieblicher Übung noch aufgrund des
Gleichheitssatzes gehabt.
Mit der Revision rügt die Beklagte sinngemäß eine Verletzung des § 2 Abs 2 Satz 2 BKGG. Es habe eine betriebliche
Übung gegeben, mit jedem Auszubildenden eine Vergütung nach dem Tarifvertrag zu vereinbaren, so daß H. einen
rechtlich einklagbaren Anspruch auf Abschluß eines Ausbildungsvertrages mit einer Vergütung von 790,00 DM gehabt
habe. H. habe mithin auf eine Ausbildungsvergütung in dieser Höhe verzichtet, indem er das entsprechende
Vertragsangebot des Ausbildungsbetriebes abgelehnt habe. Im übrigen sei die getroffene Vergütungsvereinbarung
sittenwidrig iS des § 138 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), da so die Ausschlußregelung des § 2 Abs 2 Satz 2
BKGG hinsichtlich der Verzichtsregelung habe umgangen werden sollen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. Dezember 1998 und
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 29. Januar 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für richtig; die getroffene Vergütungsvereinbarung sei auch nicht sittenwidrig.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124
Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist unbegründet.
Zutreffend hat das LSG entschieden, daß der Kläger Anspruch auf Kg für den streitbefangenen Zeitraum hat.
Maßgebend ist § 2 Abs 2 BKGG idF des Art 5 Nr 2 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs-
und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I S 2353). Danach werden Kinder, die das
16. Lebensjahr vollendet haben, nicht berücksichtigt, wenn dem Kind aus dem Ausbildungsverhältnis oder einer
Erwerbstätigkeit Bruttobezüge in Höhe von wenigstens 750,00 DM monatlich zustehen oder nur deswegen nicht
zustehen, weil das Kind auf einen Teil der vereinbarten Bruttobezüge verzichtet hat.
H. hat für den streitbefangenen Zeitraum keinen Anspruch auf Ausbildungsvergütung von wenigstens 750,00 DM
monatlich gehabt. Aus dem einschlägigen Tarifvertrag ergibt sich ein solcher Anspruch nicht, da beide Parteien des
Ausbildungsvertrages nicht tarifgebunden waren und dieser auch nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.
Ein Anspruch auf Zahlung der tariflich maßgeblichen Ausbildungsvergütung von 790,00 DM monatlich ergibt sich auch
nicht aus dem arbeitsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung. Nach der Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts (BAG) kann sich der Arbeitnehmer insbesondere bei der Lohngestaltung mit einer ihn
benachteiligenden ungleichen Behandlung einverstanden erklären (BAGE 13, 103 = NJW 1962, 1459). Insoweit
herrscht Vertragsfreiheit. Dies bestätigt der hier einschlägige Tarifvertrag. Dort ist ausdrücklich geregelt, daß der
Auszubildende auf geldliche Ansprüche aus dem Tarifvertrag widerruflich verzichten kann, wenn sich dieser Verzicht
wirtschaftlich zu seinen Gunsten auswirkt. Eine derartige Tarifvereinbarung entspricht der Vorschrift des § 4 Abs 3
Tarifvertragsgesetz. Danach ist eine vom Tarifvertrag abweichende Abmachung zu Gunsten des Arbeitnehmers
erlaubt, wenn sie durch Tarifvertrag gestattet ist (vgl bereits BSGE 61, 54, 55 ff = SozR 2200 § 583 Nr 5; auch
Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl § 4 RdNr 210 mwN; Kempen/Zachert, TVG, § 4 RdNr 201 ff).
Ein Anspruch aus betrieblicher Übung scheitert bereits daran, daß eine solche betriebliche Übung gegenüber H. - vor
dessen Einstellung - nicht existieren konnte (vgl BAG, DB 1981, 274 = AP Nr 2 zu § 77 BetrVG 1972; BAG, 10.
August 1988, 5 AZR 676/87). Im übrigen ergibt sich aus der bereits erwähnten Klausel des Tarifvertrages, daß
Abweichungen von der sonst üblichen Vergütung im Interesse des Auszubildenden zugelassen sind. Schließlich ist
weder vom LSG festgestellt noch von der Beklagten behauptet worden, daß sich das Forstamt N bei anderen
Auszubildenden einer solchen Reduzierung der Vergütung verweigert hätte.
Ein Rechtsanspruch auf eine höhere Vergütung ergibt sich auch nicht aus § 10 Berufsausbildungsgesetz. Zwar muß
hiernach die Bemessung der Vergütung eines Auszubildenden angemessen sein. Im vorliegenden Fall zeigt sich die
Angemessenheit der Vergütung aber bereits an dem Umstand, daß im Einklang mit der Verzichtsregelung in § 1 Abs
2 Satz 1 dieses Tarifvertrages nur eine insoweit geringere Vergütung vereinbart wurde, als sich dies zu Gunsten des
Auszubildenden auswirkte. Im übrigen hat die Rechtsprechung des BAG lediglich mehr als 20% unter dem Tariflohn
liegende Entgelte als nicht mehr angemessen angesehen (BAGE 68, 10, 14 f; zustimmend Dietrich/Schlachter,
Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 10 BBiG RdNr 3; Leinemann/Taubert, Kasseler Handbuch zum Arbeitsrecht,
5.1, RdNr 160; Natzel, DB 1992, S 1521 ff; eine Grenze bei 10% zieht Herkert, BBiG Kommentar, § 10 RdNr 5). Im
vorliegenden Fall liegt nur eine Abweichung von weniger als 10% vor.
Auch aus § 46 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) ergeben sich keine Bedenken gegen den Ausbildungsvertrag.
Denn § 46 Abs 2 SGB I ist weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar, da diese Regelung sowohl nach ihrem
Zusammenhang mit § 46 Abs 1 SGB I, der ebenfalls den Verzicht auf Sozialleistungsansprüche behandelt, als auch
nach ihrem Wortlaut nur den Verzicht auf öffentlich-rechtliche Sozialleistungen, nicht aber auf - privatrechtlich
begründete - Ansprüche auf Arbeitsentgelt verbietet. Aus den gleichen Gründen verbietet sich auch eine analoge
Anwendung des § 46 Abs 2 SGB I. Hierfür wäre zumindest eine sozialrechtliche Einordnung des
Ausbildungsverhältnisses Voraussetzung (vgl auch BSGE 66, 238, 239 f = SozR 3-5870 § 2 Nr 4).
Auch ist die Vergütungsvereinbarung nicht nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen unwirksam, die ihren positiv-
rechtlichen Ausdruck im Privatrecht - insbesondere in § 138 BGB - gefunden haben, von ihrem Rechtsgedanken her
jedoch nicht darauf beschränkt, sondern als allgemeine Rechtsgrundsätze auch im Sozialrecht anwendbar sind
(BSGE 66, 238, 243 = SozR 3-5870 § 2 Nr 4). Die Vertragsparteien waren - wie dargelegt - frei, ein untertarifliches
Arbeitsentgelt zu vereinbaren. Bei Sittenwidrigkeit wäre eine solche Vereinbarung nichtig und rechtsunwirksam. Wie
sich aus § 2 Abs 2 Satz 2 2. Alternative BKGG ergibt, ist ein Verzicht auf eine dem Tarifentgelt entsprechende
Vergütung aber wirksam und hat nur den Verlust des Kg-Anspruchs zur Folge. Im übrigen hat auch das
Bundessozialgericht (BSG) bereits ausführlich dargelegt, daß ein Lohnverzicht des Kindes nicht sittenwidrig ist (SozR
3-5870 § 2 Nr 13; BSG, HV-INFO 1994, 2034 ff; vgl auch zu § 583 Abs 3 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung,
BSGE 61, 54 = SozR 2200 § 583 Nr 5; kritisch Wolber, SozVers 1989, S 147 f).
Der Vertrag der hier vorliegenden Art ist auch kein unzulässiger Vertrag zu Lasten eines Dritten (vgl Palandt, BGB,
59. Aufl, Einf vor § 328 RdNr 10 mwN; auch Salje, NZA 1990, 299 ff), hier der Beklagten. Der Kg-Anspruch des
Klägers blieb durch diesen Vertrag ebenso unberührt, wie er es ohne Vertrag und bei weiterem Schulbesuch des H.
gewesen wäre. Der Ausbildungsvertrag begründete keine unmittelbare bürgerlich-rechtliche Verpflichtung zu Lasten
der das Kg zahlenden Stelle. Ihre Verpflichtung ergibt sich allein aus den öffentlich-rechtlichen Vorschriften des
BKGG (vgl BSGE 66, 238, 243 = SozR 3-5870 § 2 Nr 4).
Entgegen der Ansicht der Revision scheitert der Anspruch des Klägers auch nicht an § 2 Abs 2 Satz 2 2. Alternative
BKGG. Diese Bestimmung setzt voraus, daß das Kind auf einen Teil der vereinbarten Bruttobezüge verzichtet hat.
Dies ist nicht der Fall, wenn - wie hier - von Anfang an ein geringerer Betrag rechtswirksam vereinbart wird (so auch
Wickenhagen/Krebs, BKGG-Kommentar, Stand Juli 1994, § 2 RdNr 207; zur vergleichbaren Problematik im
Einkommenssteuerrecht Hambüchen/Pauli, Kommentar zum Kindergeld/Erziehungsgeld, Stand Januar 1999, § 32
EStG RdNr 146; Dankmeyer/Giloy/Ross, Kommentar EStG § 32 RdNr 64 h; Felix, FR 1998, 983, 989; Kanzler in
Hermann/Heuer/ Raupach, Kommentar zum EStG und KStG 1997, § 32 EStG RdNr 145 unter Hinweis auf die
Dienstanweisung zur Durchführung des Familienlastenausgleichs nach dem X. Abschnitt des EStG, Tz 63.4.2.11).
Eine analoge Anwendung des § 2 Abs 2 Satz 2 2. Alternative BKGG auf den Fall, daß - wie hier - von vornherein
weniger als 750,00 DM monatlich als Ausbildungsvergütung vereinbart werden, scheidet aus. Voraussetzung hierfür
wäre eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (vgl BVerfGE 34, 269, 286 f; BSGE 25, 150, 151;
Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl 1995, S 194). Daran fehlt es.
Nach dem bis Ende 1993 geltenden Kg-Recht konnte ein Auszubildender wirksam auf einen Teil seiner
Ausbildungsvergütung verzichten, um so für sich und den Kg-Berechtigten einen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen.
Das hatte die Rechtsprechung unter Anknüpfung an die zu § 583 Reichsversicherungsordnung entwickelten
Grundsätze entschieden (BSGE 66, 238, 240 ff = SozR 3-5870 § 2 Nr 4; SozR 3-5870 § 2 Nr 13). Der Gesetzgeber
hat dann die Frage der Folgen eines Verzichts in dem ab 1. Januar 1994 geltenden Recht in Abkehr von dieser
Rechtsprechung geregelt: Die Einkommensgrenze von 750,00 DM monatlich galt ohne Rücksicht auf ein
darunterliegendes Entgelt als überschritten, wenn die Bruttobezüge tatsächlich nur deshalb geringer waren, "weil das
Kind auf einen Teil der vereinbarten Bruttobezüge verzichtet hat". Für diese Bestimmung war nach der BT-Drucks
12/5502, S 44 folgende Überlegung maßgebend:
Es widerspricht dem in der Einkommensabhängigkeit des Kindergeldes zum Ausdruck kommenden
Subsidiaritätsprinzip, wenn durch den Verzicht auf Teile der nach Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder anderen
Kollektivvereinbarungen zustehenden Vergütung ein Kindergeldanspruch erworben oder bewahrt wird. Maßstab für den
Kindergeldanspruch muß daher in derartigen Fällen der vereinbarte Vergütungsanspruch sein.
Danach sollen nicht sämtliche von Tarifverträgen, Betriebs- oder anderen Kollektivvereinbarungen nach unten
abweichenden Entgeltregelungen kg-rechtlich unbeachtlich sein. Diese Wirkung soll erst eintreten, wenn die durch
eine der genannten Vereinbarungen festgelegte Vergütung Inhalt eines Einzelarbeitsvertrages geworden ist, sei es bei
Tarifgebundenheit beider Vertragspartner, sei es bei Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages. Erst wer sich von
einem auf diese Weise bereits vorvertraglich verbindlich festliegenden oder im Einzelarbeitsvertrag vereinbarten -
dynamischen - Vergütungsgefüge wieder abkoppelt, verzichtet damit auf "einen Teil der vereinbarten Bruttobezüge".
Ein Verzicht liegt dagegen nicht vor, wenn tarifungebundene Vertragsparteien - wie hier - eine angemessene
Ausbildungsvergütung unterhalb des tarifvertraglich erreichten Niveaus vereinbaren.
Das BKGG fordert von dem berücksichtigungsfähigen Kind nicht, alle Einkommenschancen - auch zum eigenen und
des Kg-Berechtigten finanziellem Nachteil - auszuschöpfen. Eine solche Regelung hätte der Gesetzgeber, etwa dem
Vorbild des § 9 Abs 7 Berufsschadensausgleichsverordnung oder des § 1 Abs 2 Satz 3 Ausgleichsrentenverordnung
folgend, ausdrücklich getroffen und - wie dort - durch eine die Motive des Erwerbsverzichts berücksichtigende
Bestimmung abgemildert. § 2 Abs 2 Satz 2 BKGG knüpft demgegenüber nicht schon an den Verzicht auf mögliches,
sondern erst an den Verzicht auf bereits vereinbartes, tatsächlich zustehendes Entgelt an; die Rechtsfolge (Wegfall
der Berücksichtigungsfähigkeit) tritt dann aber ausnahmslos ein, auch wenn ein verständiger Grund vorgelegen und
das Kind nicht die Absicht gehabt hat, durch Teilverzicht auf Arbeitsentgelt den Kg-Anspruch zu erhalten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.